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UNIVERSITY OF TORONTO
LIBRARY
WILLIAM H. DONNER
COLLECTION
purchased from
a gift hij
THE DONNER CANADIAN
FOUNDATION
Das Liebesleben im Orient
Das
Liebesleben aller Zeiten
und Völker
Band IV.
Das Liebesleben im Orient
von
Rudolf Quanter
Leipzig
Georg H. Wigand's Verlag
Das
Liebesleben im Orient
von
Rudolf Quanter
Leipzig
Georg H. Wigand's Verlag
Alle Rechte vom Verleger vorbehalten!
m
12.
Motto.
Kein Gott, als Gott! Der Dichter sein Prophet.
Mein Koran ist das Buch der Weltgeschichte.
Ich wende nur in gläubigem Gebet
Gen Sonnenaufgang hin mein Angesichte.
Karl Beck.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Das Wunderland im Osten. Einleitung. . . 1
Abend und Morgen 13
Das Liebesleben im orientalischen Altertum . 52
Die Vorliebe für Nuditäten 103
Furor sexualis im Kriegsleben 181
Der Bilderzauber 209
Die Prostitution 279
Der Ehebruch 330
Der Schleier 348
Die Jungfräulichkeit 355
Freie Liebe und eheloser Sexualverkehr . . 372
Eheformen 387
Der Ehestörer 416
Schlussbetrachtung 427
Das Wunderland im Osten.
Einleitung.
Das Morgenland ist uns erst durch die Kreuz-
züge erschlossen worden. Das Volk der Deutschen,
poesiebegabt wie kein zweites in der Welt, hatte in
seiner sagenumwobenen Heimat auch durch die Ein-
führung des Christentums nicht das Verlangen nach
dem Zauberlande, auf dessen Boden der Fuß des
menschgeborenen Gottes gewandelt, empfunden, und
als wie ein wilder Rausch der Gedanke des heiligen
Krieges die Völker Europas mit sich fortriß, da waren
unsre Vorfahren durchaus nicht die ersten, die von der
Sehnsucht nach dem Morgenlande ergriffen wurden,
obwohl doch der Hang zum Wandern und zu Aben-
teuern im Herzen des Deutschen von jeher gelebt
hat. Als aber den erstaunten Blicken der Deutschen
sich das farbenprächtige, wunderbare, märchenhafte
Morgenland mit seinen reichen Schätzen an Gold und
Heiligtümern erschlossen hatte, da beherrschte Jahr-
hunderte lang das Fieber des Orients unser Volk.
Es darf nicht verschwiegen werden, daß aus dem
Morgenlande eine neue Weltanschauung, eine neue
Kultur nach Deutschland gebracht wurde, und daß
l
die zauberhafte Anziehungskraft, die das Morgenland
ausübte, eigentlich niemals erloschen ist, daß sie auch
wohl stets ihre Macht behalten wird. Ich meine da-
mit nicht etwa die Pilgerzüge, die ins heilige Land
unternommen wurden und noch jetzt unternommen
werden, denn die religiösen Motive sind ja halb oder
ganz bewußt für viele Orientreisende nur ein schein-
barer Grund, der Sonne entgegenzureisen. Nein, der
Orient an sich ist ein Zauberland, der Orient, von
dem ich singen und sagen will, ohne jede religiöse
Beziehung. Schließlich ist es ja auch ein seelisches
Heimweh, unsere Sehnsucht nach dem Zauberland.
Im Orient soll die Wiege der Menschheit ge-
standen haben; unser Stammland ist wenigstens der
Orient auf alle Fälle. In der Gegend des Kaukasus,
an den Gestaden des Kaspischen Meeres hat die kau-
kasische Rasse ihre Kindheit erlebt und sich von dort
in alle die Gebiete ausgebreitet, in denen der indo-
germanische Sprachstamm herrscht. Alte Sagen be-
richten, daß der Gott Odhin (Wuotan) mit einem ge-
waltigen Heere vom Gebirge abwärts in unser Vater-
land gezogen sei, zunächst nach Skandinavien, und
von dort aus ist die Wanderung weiter gegangen.
Also auch der Gott Wuotan stammte demnach aus
dem Orient, und es ist beachtenswert, daß alle Reli-
gionen, die den Siegeszug durch die Welt angetreten
und sich Jahrtausende lang mit ungeschwächter Kraft
erhalten haben, ohne jede Ausnahme aus dem Morgen-
lande stammen.
Das Morgenland hat aber auch die älteste und
am meisten entwickelte Kultur aufzuweisen gehabt.
Man denke an die alten Phönizier, das alte Babylon,
— 3 —
das persische Weltreich, die uralte hochentwickelte
Kultur Chinas. Das Morgenland war zum großen
Teile bereits eine untergegangene Welt, als das Abend-
land erst anfing, eine auflebende Welt zu werden.
Höchstens Ägypten kann noch in jene Altertumsperiode
eingerechnet werden. Und heute ist der Orient zu
einem großen Teile noch immer das zauberhafte
Märchenland in seiner Farbenpracht, mit seinen Wun-
dern, die den Europäer ebenso in Erstaunen versetzen,
wie sie ihn blenden. Wir haben noch große Ge-
biete, die uns wenig bekannt, desto mehr aber ein
Rätsel sind durch die wunderbaren Gerüchte, die auch
aus solchen Gegenden zu uns dringen. Das Wunder-
land Tibet ist ja jetzt erschlossen, und doch gibt es
uns noch manches Wunder zu raten. Auch das kleine
Japan, das eine so hohe Kultur aufzuweisen hat, und
das doch dabei durch die wilde, blutdürstige und
raubtierartige Charaktereigenschaft seiner Einwohner
an die Hunnen erinnert, gehört zu den Völkern, die
stets für den Abendländer, wenn er ganz objektiv ur-
teilt, ebenso abstoßend wie andererseits anziehend
erscheinen. Objektiv wird aber sehr selten geurteilt,
sonst wäre die übertriebene Schwärmerei für Japan,
die bei uns nach dem russischen Kriege geradezu
als Sport kultiviert wurde, absolut unmöglich ge-
wesen. Keine Spur einer Charakterverwandtschaft
kann uns an das japanische Volk ketten, und schon
die einfachste politische Klugheit müßte es uns ge-
bieten, die gelbe Gefahr nicht großzuhätscheln, wie
man ja auch Kindern mit vollstem Rechte verbietet,
mit dem zwar glänzenden und leuchtenden, aber doch
sehr gefährlichen Feuer zu spielen.
,Wir werden noch vielfach erkennen, daß der
Orientale, besonders der der mongolischen Rasse,,
niemals mit uns gleich fühlen, gleich empfinden und
gleiche Interessen haben kann. Wie der Morgen vom
Abend sich unterscheidet, so wird der Morgenländer
sich stets vom Abendländer unterscheiden. Nicht die
Fortschritte oder Rückschritte in der Kultur verbrüdern
die Völker, sondern nur die gleichen Welt- und Lebens-
anschauungen, die gleichen Lebensinteressen. Mit
keinem Worte wird jetzt mehr Unfug getrieben als
mit dem Worte Kultur. Würde man dieses Wort
richtig anwenden und richtig verstehen, so würde man
sofort erkennen, daß die Kultur des Morgenlandes,
besonders die der mongolischen Rassen, eine völlig
andere ist, als die des Abendlandes.
Zum Teile ist der Orient auf derselben Kultur-
stufe stehen geblieben, auf der er bereits im Alter-
tum stand, zu einem andern Teile ist der Orient auch
weit herabgestiegen. Das merkwürdigste Beispiel
bildet Palästina, einst das gelobte Land, in dem Milch
und Honig floß. Ein Land, das zu den fruchtbarsten
und gesegnetsten Ländern der Erde gehörte, das schon
vor Christus von einem Volke bewohnt wurde, das
sich selbst das auserwählte nannte und auch nennen
durfte, weil es die Nachbarvölker weit überragte und
eine Bildungsstufe und Macht besaß, die es zum herr-
schenden und gebietenden Volke stempelte. Und
heute? Zerstreut dieses mächtige und auserwählte
Volk in alle Winde, und wo einst üppige Felder,
blühende Gärten sich ausdehnten, da ist heutigen
Tages eine steinige, armselige Gegend. Meist ist es
ein jammervolles, verkommenes und armseliges Volk,
das den Boden bewohnt, der einst gepriesen war. Auf
weite Strecken bietet sich das Bild entsetzlichsten Ver-
falls und völliger Verwüstung. Und es ist doch für
den Abendländer ein Magnet dieses Land, freilich in
der Hauptsache, weil jeder Fuß breit Landes, auf dem
sich die biblische Geschichte des Neuen und des Alten
Testaments — letzteres wenigstens zum überwiegenden
Teile — abgespielt hat, schon soviel religiös-histori-
sches Interesse in Anspruch nimmt, daß es auf den
Reiz der Gegend an sich selbst gar nicht mehr an-
kommen würde. Noch viel weniger, als es bei einer
Reliquie darauf ankommt, ob sie als bloße Materie
.Wert hat oder schön aussieht. Im Morgenlande ist
das aber noch anders. Schon das Fremdartige, das
man auf Schritt und Tritt beobachtet, übt einen ge-
waltigen Zauber, besonders wenn man nach etwas
bewegter Fahrt auf dem Mittelmeer die dann sehr
schwierige Landung glücklich überstanden hat. Stellen-
weise bietet auch das Land wahrhaft herrliche Reize,
pittoreske Partien und imposante Wasserlandschaften,
selbst der Jordan sieht ganz anders aus, als wenn
er irgend einen unbekannten Namen trüge. Land
und Leute fesseln gerade durch ihren Kontrast von
dem im Abendlande Gewohnten. Und stellenweise liegt
auf der Gegend eine so tiefe zum Himmel klagende
Melancholie, daß sie poetisch auf das Gemüt wirkt
wie eine Totenklage. Schon unsere Ostsee hat Par-
tien, die mit einem so schwermütigen, poetischen
Hauch Übergossen erscheinen, daß ein Gemüt, das
nicht völlig unempfindlich gegen diesen Zauber ist,
sich nur schwer von dem stimmungsvollen Bild loszu-
reißen vermag. Wer am Gestade des Toten Meeres
— 6 —
eine Gegend voll landschaftlichen Reizes sucht, der
wird sich freilich mit Entsetzen abwenden. Wer aber
das Tote Meer sehen will, diese wirkliche Negation
allen Lebens, wer seine Seele auf diesen Ton zu
stimmen vermag, der wird auch dort einen Zauber
finden, der von der gewaltigsten Wirkung ist. Wir
Menschen haben ja nun einmal den Fehler, daß wir
unser kleines Ich in den Mittelpunkt der unendlichen
Welt stellen und alles nur als einen Rahmen um
unser eigenes Bild betrachten. Dabei ist dann frei-
lich das Tote Meer kein Milieu. Wer es genießen,
im wahrsten Sinne des Wortes, genießen will, der muß
aus seinem Alltagsleben, wenn ich im Bilde bleiben
will, aus sich selbst heraustreten und sich gewisser-
maßen selbst an der Stätte des Todes sitzen sehen.
Wir finden die lachenden, sonnigen, blumenprächtigen
Landschaftsbilder des Orients anziehend, und doch
verlieren sie schnell, wenn sich das Auge erst an das
Ungewohnte gewöhnt hat. Der Majestät des Todes
aber kann sich kein Sterblicher entziehen. Es ist auch
hier wieder das Symbol der biblischen Überlieferung
gewahrt, die uns das Heil aus dem Morgenlande kom-
men ließ. Die sonnigen Landschaften stellen die
Gnadensonne des Heils dar; aber das Milieu des Toten
Meeres, das ist Golgatha, der düstere Tod, das ewige
Schweigen. Ein Ort, dem sich kaum etwas Gleiches
an die Seite stellen läßt, und der gerade dort so außer-
ordentlich wirkt, weil gewissermaßen der Tod mitten
in das Leben gestellt ist.
Ich habe mich bei dieser Schilderung gerade des-
halb etwas länger aufgehalten, weil sie geradezu ein
Leitmotiv für das morgenländische Leben ist, das uns
durch seine scharfen Kontraste oft unverständlich und
unfaßbar wird. Neben ausschweifender Sinnlichkeit und
Verweichlichung finden wir den Fatalismus, der gerade-
zu zum Heroismus gesteigert wird. Wir finden im
Orientalen so viele Charaktergegensätze, daß man oft
glauben sollte, der einzelne Mann verkörpere zwei
oder noch mehr Personen. Das ist das Land, in dem
die Märchen erzählt werden konnten, die wir — pars
pro toto — einfach „1001 Nacht" nennen. Blumen-
reich wie diese Märchen ist auch die Sprache des
Orientalen. Ich habe oben gesagt, das deutsche Volk
sei poesiebegabt wie kein zweites auf Erden; ist das
nicht falsch, wenn man bedenkt, daß im Morgenland
schon die alltägliche Sprache Poesie ist? Wenn man
bedenkt, daß einer unserer Größesten gesagt hat, wer
die Dichtkunst recht verstehen wolle, der müsse ins
Morgenland gehen? Dennoch ist es richtig: kein Volk
der Welt hat etwas Größeres aufzuweisen als unser
Niebelungenlied, als unser Gudrunlied, und alle die
Heldengesänge, die Volkspoesie waren und als Ge-
meingut aller sich von Mund zu Mund forterbten.
Kein Volk der Welt hat zwei klassische Perioden auf-
zuweisen, wie nur allein das deutsche Volk. Dem
Nibelungenlied kann höchstens die Homersche Ilias
der Griechen als gleichwertig an die Seite gestellt
werden; aber die griechische Dichtkunst hat sich nicht
zu einer neuen klassischen Periode aufgeschwungen,
sie ist nach ihrer Glanzzeit des Altertums dahin-
gestorben und hat keine Auferstehung erlebt. Die
altpersische Poesie hat das Schahname geschaffen,
dessen Held Rüstern wohl stark an unsern Siegfried
erinnert; aber man vergesse doch nicht, daß der indo-
germanische Volksstamm eine gemeinsame Herkunft
hat, daß gerade diese Anklänge dem Sprachforscher zu
denken geben; und doch ein poetisches Schaffen wie
das des deutschen Volkes hat auch Persien nicht aufzu-
weisen. Wohl ist die Sprache des Morgenländers bilder-
reich und voll poetischen Zaubers; sie hat sich aber nicht
zu dem gewaltigen, erhabenen poetischen Schaffen auf-
zuraffen vermocht wie die deutsche, die ja in ihren
alten Formen nicht minder bilderreich und wohllautend
war als die des Orients, und die heute durch ihre
Verfeinerung und, ich möchte sagen, durch die Auf-
nahme fremden Geistes, poetisch viel eingebüßt hat.
Der heutige Orientale hat ebenfalls stark verloren. Da,
wo er den Einflüssen fremder Kultur oder gar Über-
kultur sich fernzuhalten vermocht hat, ist natürlich
auch seine Redeweise freier und bilderreicher ge-
blieben; sonst aber hat er sich doch viel mehr der
blumenreichen Phrase als der bilderreichen Poesie zu-
gewendet. So ist die morgenländische Poesie mehr
Lyrik, mehr phantastisches Zaubermärchen und doch
auch wieder tiefsinnige Lebensweisheit. Ich werde die
Charakterverschiedenheit zwischen uns und den Orient-
talen noch oft zu betonen haben und kann mich hier
auf diese kurze Andeutung beschränken.
Wenn ich das Morgenland ein Wunderland nenne,
so tue ich dies nicht etwa deshalb, weil es so viel
des Fremden und uns Wunderbaren enthält, denn
dann würde ja bis zu einenr gewissen Grade jedes
fremde Land ein Wunderland sein. Nein, der Orient
ist Wunderland, weil er für uns eine ganz andere
Welt ist, die wir auch dann nicht voll verstehen,
wenn wir sie so weit kennen gelernt haben, daß sie
uns eigentlich vertraut sein müßte. Wer hätte noch
nicht über die Fakire mit ihren eigenartigen Künsten,
die uns wirkliche Zauberei dünken, gestaunt? Wer
hätte noch nicht die wilde, fanatische Ekstase der
Derwische bewundert? Und das sind doch nur erst
zwei Erscheinungen aus einer großen Anzahl ganz
ähnlicher.
Man darf den wirklichen Fakir nur nicht mit
den Gauklern, die hin und wieder bis zu uns vor-
dringen und sich bei uns produzieren, verwechseln.
Das, was diese Fakire in ihrer Heimat verrichten, das
ist zum großen Teil so unfaßbar, so überwältigend,
daß man faktisch vor einem Wunder steht, für das
der Verstand des Verständigen keine Erklärung mehr
zu finden vermag. Fast scheint es, als könnten diese
Wundermänner über Tod und Leben gebieten,
denn alles, was nach menschlicher Berechnung den
sichern Tod nach sich ziehen würde, das tun sie sich
selbst an, ohne daß auch nur ein Schmerzempfinden
ausgelöst würde. Sie durchbohren ihre Körper, ohne
daß auch nur ein Tropfen Blutes verloren würde,
ohne daß eine Wunde, oder auch nur die geringste
Spur zurückbliebe. Man muß schon einen hohen Grad
von Gefühllosigkeit erreicht haben, um diese „Spiele"
überhaupt mit ansehen zu können. Haben sich doch
Fakire schon auf längere Zeit wirklich begraben lassen,
und als man das Grab öffnete, da lebte der Mann,
als habe er nur ein gemütliches Schläfchen in seinem
Bette gehalten. Fakire sind Asketen. Auch die Der-
wische sind nach unseren Begriffen sonderbare Leute,
die in ihrem religiösen Fanatismus Tänze aufführen,
die für andere Leute Selbstmord sein würden, den
— 10 —
Derwischen aber recht gut bekommen und ihnen den
Ruf besonderer Heiligkeit einbringen.
Die Wunder und die Pracht Indiens, besonders
indischer Fürsten, sind zur Wirklichkeit gewordenes
Märchen.
Es ist wirklich nicht so seltsam, wenn in
früheren Jahrhunderten, in denen große Reisen noch
zu den Seltenheiten gehörten, in denen deshalb die
Völker noch so ähnlich lebten, als seien sie mit der
berühmten „Chinesischen Mauer'* umgeben, die Rei-
senden Berichte über das Wunderland im Osten
schrieben, die an „1001 Nacht" erinnern. Damals
glaubte man ja auch noch alles, was gedruckt wurde,
man war unwissender und infolgedessen bodenlos
naiv. Glückliches Zeitalter für die Schriftsteller! Ich
werde im Verlaufe dieses Buches noch manchen der
alten Schriftsteller und Reiseberichte zitieren, wenig-
stens soweit sie uns von Sitten und Liebesbräuchen
des östlichen Zauberlandes Mitteilungen machen ; ich
kann mich freilich nicht so sicher darauf verlassen,
daß meine geehrten Leserinnen und Leser diese Be-
richte aus längst entschwundenen Zeiten noch mit
derselben naiven Leichtgläubigkeit aufnehmen werden,
wie zu jenen Zeiten, in denen derartige Reiseberichte
von den Leuten, die des Lesens kundig waren, ver-
schlungen wurden. Wenn seitdem Reise-Erzählungen
stark in Mißkredit geraten sind, so liegt dies daran,
daß in der Tat die Leichtgläubigkeit in geradezu un-
verschämter Weise mißbraucht wurde, oder, was mir
auch nicht ganz unwahrscheinlich ist, daß den Reisen-
den zuweilen selbst gar zu viel Hokuspokus vorge-
macht wurde.
— 11 —
Man darf sich nun freilich die Völker des Morgen-
landes nicht als eine homogene Masse vorstellen, und
darf weiter nicht übersehen, daß der Orient seine
Geschichte hat, die bewegter als die des Abendlandes
ist, und die Jahrtausende weiter zurückreicht. Der
Orient hat Weltreiche erstehen und vergehen sehen,
hat die furchtbarsten Kriege den Boden mit Blut trän-
ken lassen, hat seine Völkerwanderungen durchgemacht
wie das Abendland und hat unter der „gelben Gefahr"
mehr als einmal geseufzt und geschmachtet. Mit
Staunen haben wir die Entdeckung gemacht, daß das
alte Babylon schon in grauester Vorzeit, bis in die die
Geschichte des Abendlandes überhaupt nicht zurück-
reicht, eine Kultur besessen hat, die vielfach an unsere
heutige erinnert. Ich meine damit allerdings nicht die
Professor Delitzschen Entdeckungen, sondern die ein-
wandfreien Forschungen. Und das Babylonische Reich
ist versunken, wie die Asyrische, Phönizische und Per-
sische Macht. Welche gewaltige Stadt war das alte
Samarkant, ebenso das alte Ninive. Und was ist ge-
blieben?
Die Völker des Morgenlandes sind so gewaltig
von einander verschieden, daß Wasser und Feuer sich
nicht weniger gleichen. Ich werde dies noch bei den
einzelnen Kapiteln, so weit es notwendig ist, zu be-
rücksichtigen haben. Ebenso werde ich die Geschichte
der einzelnen Völker, soweit mein Thema dies er-
forderlich macht, zu skizzieren haben. Die europäische
Türkei wird, da sie uns unverfälschtes orientalisches
Liebesleben zeigt, für mich zum Morgenland gehören
müssen, während einzelne Völker und Stämme, die im
Morgenlande wohnen, für unsere Betrachtungen völlig
— 12 -
ausscheiden können, weil sie für das, was wir ver-
nunftgemäß das Liebesleben des Orients nennen dürfen,
ohne jede Bedeutung sind. Ich werde nun zum besseren
Verständnis des Ganzen, zunächst auf die Verschie-
denheit des Denkens, Anschauens und Empfindens der
Deutschen und der Orientalen hinweisen. Was ich
dabei unter Orientalen verstehe, wird sich aus den
weiteren Kapiteln klar ergeben.
Abend und Morgen.
So grundverschieden die einzelnen Völker des
Orients in ihrem Charakter sind, so verschieden das
deutsche Volk von seinen Nachbarvölkern ist, so un-
berechtigt würde es sein, scharfe Gegensätze zwischen
Abendländern und Morgenländern in der großen All-
gemeinheit dieser Begriffe aufzustellen. Ich will also
zunächst den Unterschied zwischen uns Deutschen
und dem orientalischen Muselmann im engeren Sinne
beleuchten.
Es mag hier nochmals betont werden, daß so-
wohl unsere Vorfahren wie auch die Ureinwohner des
Orients vom Kaukasus ausgewandert sind. Man dürfte
hiernach annehmen, daß eine erkennbare Stammes-
verwandtschaft vorhanden sein müsse. Demgegen-
über ist aber zu berücksichtigen, daß der orientalische
Muselmann der Hauptzahl nach semitischer Rasse ist,
während wir Deutsche arischen Stammes sind, daß
wir also mit den Persern und Indern viel eher gleiches
Blut haben könnten, als mit den semitischen Stämmen,
die durch die Bewegung der Bevölkerung sich mehr
und mehr ausgebreitet haben. Selbst die gemeinsame
Herkunft würde aber auch völlig außer Acht bleiben
— 14 —
dürfen, weil unter ganz verschiedenen Lebensbedin-
gungen, unter großen klimatischen Unterschieden sich
auch grundverschiedene Charaktere und Lebensauf-
fassungen herausbilden. Ganz besonders gilt dies auch
in bezug auf das Liebesleben.
Es zeigt sich dieser Unterschied schon in der
alten deutschen Literatur. In unseren alten Helden-
liedern, so im „König Rother", besonders im „Ortnit"
erkämpfen deutsche resp. lombardische Helden sich
morgenländische Frauen. Im Ortnit läßt sich die Jung-
frau als Christin taufen und erhält den Namen Sidral.
Es wird aber gerade dabei die orientalische Charakter-
art der Braut besonders herausgehoben und gesagt,
daß sie erst einen regelrechten Unterricht in deutscher
Tugend, besonders in der Freigiebigkeit, habe erhalten
müssen.
Ich habe schon im vorigen Kapitel kurz darauf
hingewiesen, daß die Poesie unseres Volkes und der
Orientalen der Art nach verschieden war und noch
ist. Vilmar sagt über die alte deutsche Dichtung u. a. :
„Und dieser Grundton, zu singen Leid aus Freude,
ist der Grundton des germanischen Lebens, ist die
reine Stimmung des deutschen Herzens, durch wel-
ches, wie kaum durch das Herz irgend eines anderen
Volkes, das Bewußtsein der Vergänglichkeit, das leise
Beben der Todesahnung hindurchzittert. Und wie
könnte dies anders sein bei einem Volke, welches mit
der Natur und ihrem Leben auf das innigste und ge-
heimste verwachsen ist? Die Stimme der Natur aber,
die aus den sprossenden Keimen und heiteren Blumen
des Frühlings, wie aus den welkenden Halmen und
— 15 —
fallenden Blättern des Herbstes, die aus dem kom-
menden Tage wie aus dem scheidenden zu uns redet,
ist die Stimme der Vergänglichkeit und des Todes
für den, die den innersten Sinn der Natur begriffen
hat, wie diesem Bewußtsein der größte der neueren
Dichter, Rückert, in seinem Gedichte von der sterben-
den Blume Worte ergreifender Wahrheit geliehen hat.
Ja in den ältesten Zeiten war das Naturgefühl des
deutschen Volkes ein Gefühl des Grauens vor der
Natur und deren erbarmungsloser Zerstörung, seine
Naturpoesie eine Poesie des glühenden Naturge-
nusses auf der einen, der tiefsten Naturschrecken auf
der andern Seite, in starrer, furchtbarer Erhaben-
heit .... Unsere Naturpoesie ist eine Poesie des
Todes. "
Wie anders die orientalische Poesie, die eine Poesie
des leichten, sorglosen Lebensgenusses, der girrenden
Liebeslust oder — der blutigen Grausamkeit ist. Das
Leben in der Natur ist den Orientalen nicht in dem
Maße eigen wie den deutschen Stämmen, und die
orientalischen Stämme, die mit der Natur eng ver-
traut sind, denen erzählt die Natur andere Weisen als
in unserem strengeren Klima, das allerdings viel eher
das Werden und Vergehen aneinanderkettet. Auf den
Zug blutiger Grausamkeit, der auf das Liebesleben
nicht ohne erheblichen Einfluß bleiben konnte, gehe
ich sofort noch ausführlich ein. Ich will zunächst nur
noch auf das, was im poetischen Empfinden die so ver-
schiedenen Volkscharaktere eint, hinweisen. Ich meine
jenen phantastischen Zug, der es in älteren Dichtungen
liebte, die Welt mit furchtbaren Ungetümen und Un-
geheuern, flammenspeienden Drachen usw. sich be-
— 16 —
völkert zu denken, gegen die kühne Helden in Not
und Drang kämpften.
Dinge, die in allen alten Sagen fast aller Völker
so regelmäßig wiederkehren wie gerade diese Drachen
und sonstigen Ungeheuer, sind niemals frei erfundene
Vorstellungen, sondern gründen sich auf altüberlieferte
Erinnerungen. Wir haben ja jetzt festgestellt, daß
das „vorweltliche" Mammut durchaus nicht vorwelt-
lich ist, daß es vielmehr noch in einer Periode vor-
gekommen sein muß, in der bereits Menschen lebten,
die doch immerhin eine so hohe Entwicklungsstufe
bereits erreicht hatten, daß sie bildliche Darstellungen
dieses Riesentieres geben konnten, die jedenfalls auch
den Kampf gegen diese Ungeheuer aufgenommen
haben. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß auch
andere „Vorwelttiere" noch menschliche Pfade ge-
kreuzt haben können? Gerade der Drache läßt auf
irgend eine Saurierart schließen, ebenso der Lindwurm,
gegen den die Recken der Heldensage angekämpft,
den sie im heißen Kampfe bezwungen haben. Es
scheint doch mindestens wahrscheinlich, daß in der
Urheimat am Kaukasus am Gestade des Kaspischen
Meeres, eine Gegend, die ja solchen Ungeheuern alle
Lebensbedingungen erfüllt haben würde, die Menschen
noch auf diese alten Zeugen einer früheren Welt ge-
stoßen sein mögen, und daß die Überlieferung die Er-
innerung an solche Zusammenstöße wach gehalten hat.
Daß diese fürchterlichen Geschöpfe in der lebendigen
Phantasie noch mit weiteren Schrecken ausgestattet
wurden, ist dabei selbstverständlich. So das Feuer-
speien. Gerade mit dem Feueratem hat doch die
Poesie auch die durchaus historische Person des deut-
— 17 —
sehen Helden Dietrich von Bern ausgestattet. Daß
die Sage dann jene Ungeheuer in die neue Heimat
versetzte, ist auch nicht auffallend.
So finden wir die Drachensage im Orient so gut
wie in Deutschland, und die Vorstellung dieser Un-
getüme weicht bei den sonst so verschieden em-
pfindenden Völkern so wenig von einander ab, daß
man nur annehmen kann, bei den Sagen müsse das-
selbe Modell zu Grunde liegen. Wir finden gerade
im Orient noch jetzt zahlreiche bildliche Darstellungen,
in denen die Drachenfigur verherrlicht wird. Schon
die chinesischen Banner, die den fliegenden Drachen
enthalten, gehören hierher. Daß bei diesem heral-
dischen Bilde die ursprüngliche Form der Darstellung
nicht strenge innegehalten worden ist, tut nichts zur
Sache; wir finden ja auch bei uns heraldische Löwen
usw., die den Zoologen gewiß weniger befriedigen
als den Heraldiker. Wir finden andrerseits auch
Götzenbilder, die alles andere eher sind als Schön-
heitsideale menschlicher Körper, die aber doch zweifel-
los nach dem menschlichen Bilde modelliert sind. Ich
möchte daran erinnern, daß auch die Bibel den Drachen
genau so erwähnt wie dies die altbabylonische Mythe
in .Wort und Bild tut.
Bei uns im Abendland hat natürlich die Einführung
des Christentums dem Kult — wenn man so sagen
darf — der Drachen ein energisches Veto entgegen-
geschleudert, nicht aber die Drachensage beseitigt,
im Gegenteil, sie ist sogar in den Heiligenkult mit
hinübergenommen worden. Der heilige Georg als
Drachentöter wird auch heute noch verehrt, und wir
finden ihn nicht bloß in Bildern dargestellt, sondern
2
— 18 —
können auch seine plastische Figur, die ihn im Kampfe
mit dem Drachen zeigt, an verschiedenen Orten be-
wundern. Wieviel von der Drachensage auf den
Teufelglauben übergegangen ist, das würde interessant
sein, nachzuprüfen, wenn es nicht meinem Thema zu
fern läge. Hier genügt es, die Übereinstimmung in
der Drachensage dargetan zu haben.
Der Orientale, soweit er nicht ein Nomadenleben
führt, sondern ansässig ist, gilt für uns als ein wol-
lüstiger, verweichlichter Mensch, der nur im Sinnen-
genuß schwelgt, der sich sogar die himmlische Selig-
keit als die höchste Potenz des ewigen Liebes-
genusses vorstellt, für den das Weib nichts ist und
sein kann als das Spielzeug seiner Lüste. Der Orien-
tale, der einen wohlbesetzten Harem hält, ist schon
dadurch allerdings zu einem intensiveren Liebesleben
berechtigt und veranlaßt als der Abendländer, für den
es nur die. Einzelehe gibt. Es ist dabei aber doch
verschiedenes sehr stark zu berücksichtigen. Vor
allen Dingen kommt es immer darauf an, was man
unter einem Liebesleben verstehen soll. Es ist nie-
mals gesagt, daß die Liebe das Denken und Fühlen
eines Mannes, der einen Harem hält, mehr ausfüllen
müsse als das des in Einzelehe lebenden Abendländers.
Das Liebesleben ist an sich nicht an die Ehe gebunden;
es kann sehr wohl ein Mensch, der überhaupt nicht
verheiratet ist, ein außerordentlich bewegtes Liebes-
leben führen, und es kann ein Mann, der den glän-
zendsten Harem besitzt, doch liebearm durch die Welt
gehen. Das Liebesleben eines Menschen, der all
sein Fühlen und Denken, sein ganzes Herz nur
auf eine Person richtet, wird stets das intensivste
— 19 —
sein; ein Haremsbesitzer, der wie der Schmetterling
von Blume zu Blume nascht, wird schon deshalb sehr
oft von einem Liebesleben kaum noch reden können,
weil er sehr bald der Übersättigung verfällt, und
es im Liebesleben ebenso geht wie bei anderen Ge-
nüssen: das, was im Übermaß gekostet ist und stets
zur Verfügung steht, verliert gar bald seinen Reiz.
Ich habe hier nur ganz allgemein von Möglichkeiten
gesprochen, die ich keineswegs als feststehende Tat-
sachen betrachten will, und die auch, wie wir weiter
sehen werden, auf die Veranlagung sehr vieler Orien-
talen nicht zutreffen. Vor allen Dingen sind nicht
alle Orientalen Harembesitzer, sondern nur einige,
dann darf man aber den Orientalen nicht mit einem
philiströsen Moralfex des Abendlandes vergleichen
wollen. Wir werden weiter sehen, daß der Harem
in Wirklichkeit auch durchaus etwas anderes ist, als
der Nichteingeweihte zu glauben geneigt ist. Und
schließlich wollen wir nicht übersehen, daß auch der
in Einzelehe lebende Abendländer in der Regel stark
zu Extravaganzen neigt, die er mit seinen polygamen
Trieben zu entschuldigen sucht, ohne daß die Befriedi-
gung dieser polygamen Triebe ihn übersättigt und
für weitere Abenteuer untauglich macht. Daß er da-
bei etwa deshalb nicht so leicht übersättigt würde,
weil er sich die Gelegenheit stets erst suchen muß
und sie nicht zu jeder beliebigen Minute zu 'Gebote
hat, das ist ein Grund, der nur scheinbar seine Be-
rechtigung hat.
Auch hierüber gibt die Literatur, soweit sie noch
Volksempfinden war, also aus dem Volke selbst her-
vorging oder beim Volke solchen Anklang fand, daß
Z.\>
sie sich, ungeschrieben zwar, aber durch Übertragung
von Mund zu Mund als unantastbares Eigentum fort-
erhielt, beredten Ausdruck. Nicht wie die spätere
Kunstdichtung, die fremde Stoffe in fremder Form be-
handelte und vom 16. Jahrhundert ab bis ins 18. Jahr-
hundert bei uns nur in der Form ohne Inhalt das
Heil suchte, im Morgenlande aber bis auf einige Ge-
biete völlig versagte. Erec, der vielberühmte Ritter
von der Tafelrunde, heiratet die schöne Enite, und
die Liebe füllt das Leben des sonst so kühnen Ritters
derartig aus, daß er über die Minne Pflicht und Ehre
vergißt, er „verliegt" sich. Dagegen die altorien-
talische Geschichte der schönen Stratonike, die eine so
süß duftende Poesie reiner, keuscher und treuer Liebe
zeigt, daß sie an das Heinesche Lied vom Asra er-
innert. Und doch, welch enormer Unterschied zwi-
schen dieser orientalischen Geschichte, in der der
Sohn die junge Gattin seines Vaters liebt, gegen die
deutsche Dichtung, ich meine hier eben die deutsche
Bearbeitung deutscher Stoffe, denn Schiller hat uns
ja im Don Carlos ein ähnliches Thema deutsch be-
arbeitet, wie die orientalische Geschichte der Stratonike
es ist, freilich mit einem völlig anderen Schluß. Ich
komme auf die Stratonike noch ausführlich zurück,
weil sie mir einen außerordentlich wichtigen Beitrag
zum alten orientalischen Liebesleben darstellt. Sie
enthält nichts Heldenhaftes, nichts von dem Herois-
mus, mit denen Liebende einer Welt Trotz bieten,
um den Gegenstand der Liebe zu erringen, sondern
eine weichliche Sentimentalität, ein tatenloses Hin-
siechen, das allerdings wohl dadurch entschuldigt
werden kann, daß hier der Liebende für die Gattin
— 21 —
seines Vaters entbrannt ist. Es kommt darauf aber
nicht an; wichtig ist diese uralte Geschichte des-
halb, weil sie in träumerischer Zartheit eine Liebe
schildert, die an sich für deutsches Gemüt als ein
schöner Beweis innigen Empfindens gerühmt werden
würde, wenn es eben nicht — eine orientalische Ge-
schichte wäre.
Nun darf man diese allerdings nicht zur Norm
des orientalischen Liebeslebens stempeln wollen. Auch
die orientalische Geschichte und Literatur hat genug
Beispiele dafür, daß in kühnem Heldenmute die Ge-
liebte erobert wurde. Schon die Erzählungen des
Seefahrers Sindbad können als Beweis dafür ange-
zogen werden. Ja, ich halte sogar den trojanischen
Krieg für ein Beispiel altorientalischen Liebeslebens,
so absurd dies auf den ersten Blick auch erscheinen
mag.
Der Orientale ist im allgemeinen in seinem Liebes-
leben leidenschaftlich bis zur Raserei, und mit den
furchtbarsten Strafen und Martern hat er schon im
Altertum Eingriffe in seine Liebesrechte zu verhüten
und, falls sie vorgekommen waren, zu ahnden gewußt.
Die wollüstige Grausamkeit, durch die von jeher das
orientalische Strafrecht sich sehr wenig vorteilhaft von
dem anderer Völker unterschieden hat, bildet einen
Grundcharakterzug des Orientalen. Man hat ja stets
auf eine Wechselwirkung zwischen wollüstiger Ver-
weichlichung und unmenschlicher Grausamkeit hinge-
wiesen. Der Orientale kann hierfür direkt als Stu-
dientype gelten. Diese Wechselwirkung ist es, die
u. a. auch im Sadismus in die Erscheinung tritt, nur
daß sie hier gegen das Objekt, das der perversen
— 22 —
Sinnlichkeit Befriedigung geben soll, gerichtet ist,
während sie sonst, wie im Orient, sich gegen dritte
Personen richtet, die mit dem Liebesleben selbst in
keinen Zusammenhang gebracht werden können.
Die furchtbarste Grausamkeit zeigt sich aber
keineswegs etwa nur da, wo das Liebesleben in Be-
tracht kommt, also etwa bei der Vernichtung und
Bekämpfung von Nebenbuhlern, sondern ganz im all-
gemeinen . Wir haben im deutschen Altertum Strafen
gar nicht oder fast gar nicht gekannt, mindestens
nicht gegen Freie, sofern diese nicht als Verräter oder
als sonst allgemein gefährliche Personen vernichtet
werden mußten. Im alten Deutschland hat sich das
Strafrecht erst später ausgebildet, und je mehr römi-
scher Einfluß wirkte, desto schärfer wurden die Strafen,
die dann allerdings später auch aus eigenem „Bedürf-
nis" immer schärfer und grausamer wurden. Nicht
so im Orient. Dort hat man schon im hohen Alter-
tum viel, unmenschlich und meist mit entsetzlicher
.Willkür gestraft. Gerade das letztere Moment ist dabei
das beachtenswerteste. Es kam gar nicht so darauf an,
für eine bestimmte Tat eine bestimmte Strafe zu er-
kennen, sondern die Laune eines Despoien genügte,
auch über Personen, die nichts verbrochen, sondern
vielleicht nur durch eine wirkliche oder vermeintliche
Ungeschicklichkeit den Zorn des Vielgestrengen er-
regt hatten, furchtbare Todesmartern zu verhängen, in
deren Erfindung mehr als genial zu Werke gegangen
wurde. Willkür herrschte aber auch in der Anwen-
dung der Todesmartern. So kam es vor, daß Herr-
scher große eiserne Öfen errichten ließen, an die die
Opfer angeschlossen wurden. War dies geschehen,
— 23 —
dann wurden die Öfen geheizt, und die Verur-
teilten mußten langsam zu Tode gebraten werden, ein
Akt, dem der Herrscher, wohl auch seine Weiber,
mit großem Behagen zusah. Es gab gar kein größeres
Vergnügen, als die Qualen der Unglücklichen zu be-
obachten. Es wurde auch der Körper des Verurteilten
mit Brennstoffen förmlich gespickt, die dann ange-
zündet wurden und den qualvollsten Tod verursachten.
Schon die Bibel berichtet im Alten Testament von
grausamen Strafen, die im Morgenlande etwas ganz
Alltägliches waren, und die Geschichte erzählt von
Herrschern, die zur Übung im Bogenschießen die töd-
lichen Pfeile auf ihre Untertanen abschössen, nicht
etwa, weil diese etwas verbrochen gehabt hätten,
sondern einfach weil es ihnen gerade gefiel, auf lebende
Ziele zu schießen. Es ist doch heute noch so, daß
im Orient die furchtbarsten und grausamsten Strafen
bestehen, an denen beharrlich festgehalten wird, wäh-
rend unsere Strafmittel immer milder ausgedacht
werden, ja, es ist bei uns die Humanitätsduselei so
weit vorgeschritten, daß es Menschen gibt, die es sich
geradezu zur Lebensaufgabe machen, dahin zu wirken,
daß nur um jeden Preis die Herren Verbrecher mit
Glacehandschuhen angefaßt werden sollen, ein Prinzip,
das ganz gewiß nicht zu billigen ist, weil es über
die Grenzen des Vernünftigen hinaus geht. Möchte
man doch lieber dafür sorgen, Strafmittel zu schaffen,
durch die die unschuldigen Angehörigen eines ver-
kommenen Subjekts nicht viel schwerer getroffen
werden als der Übeltäter, Strafmittel zu schaffen, durch
die Rückfallshandlungen nicht künstlich gezüchtet
würden.
— 24 —
Jene Grausamkeit hat aber einen engen Zu-
sammenhang mit dem Liebesleben des Orients. Es
ist eine bekannte Tatsache, die psychologisch ja auch
gar nicht so schwer zu erklären ist, daß gesteigerte
Wollust einen Hang zu raffinierter Grausamkeit er-
zeugt. Wir können das schon bei den alten Griechen
nachweisen, die desto grausamer wurden, je mehr sie
sittlich sanken. Es war bei den Griechen gestattet,
die Sklaven furchtbaren Foltern zu unterwerfen. Zu
solchen Gelegenheiten ließ man Einladungen an gute
Freunde und Gönner ergehen, denen man durch die
Vorführung derartiger Martern ein großes Vergnügen
bereitete. Beim Anblick des blutenden und zuckenden
Körpers geriet man in wollüstige Raserei. Diesen
Brauch importierte man auch in dem an sittlicher Ver-
worfenheit und Ausschweifungen verfaulten römischen
Reiche. Die grausamsten Christenverfolgungen wurden
ebenfalls nur von römischen Kaisern begangen, die durch
Unzucht, natürliche und widernatürliche, zerrüttet
waren. Nero z. B. ist durch seine ausschweifende
Unzucht ebenso berüchtigt, wie durch seine Grausam-
keit. Übrigens fallen auch in Deutschland die blutig-
sten Strafen in die Zeiten der größten sittlichen Ver-
worfenheit. Ja, als noch in unseren Zuchthäusern
.Willkommen und Abschied von Rechtswegen bestan-
den, da wurde diese viehische Ausprügelung nicht
selten vor geladenem Publikum vorgenommen, und es
ist bekannt, daß der Anblick der zuckenden und im
Blute schwimmenden Hinterteile bei den Zuschauern
eine rasende Wollust verursachte; die teilweise so-
gar recht anschaulich beschrieben worden ist.
Ich möchte das alles als raffinierte Grausamkeit
— 25 —
bezeichnen, eine Grausamkeit, die mit Raffinement im
Anblick fremder Qualen eine sexuelle Wollust sucht
und findet, gewiß ein geheimnisvoller Zug der Men-
schenseele, in der Haß und Liebe in so naher Nach-
barschaft wohnen, daß sich diese Gegensätze berühren,
ja unmittelbar ineinander übergehen, die aber auch
untrennbar voneinander sind, denn diese Art Grau-
samkeit kommt nur bei sexuell überreizten Leuten
vor. Volle sexuelle Enthaltsamkeit, d. h. wenn sie
durch die Verhältnisse erzwungen ist, nicht die, die
das Resultat des eigenen Willens ist, beeinflußt das
Gemütsleben ebenfalls; sie macht roh und brutal. Man
findet so etwas bei Expeditionen in unbewohnten
Gegenden, bei denen Männer nur auf die eigene Ge-
sellschaft angewiesen sind und absolut nicht die er-
wünschte Gelegenheit zu sexuellem Verkehr finden
können. Seefahrer, die bei ihren weiten Reisen in
derselben Lage sind, arten leicht zu rohen und bru-
talen Menschen aus, besonders da sie schon durch die
harte Arbeit ihres Berufs und das ständige Leben in
reinster, kräftigster Luft kerngesunde Leute mit einem
starken Überschuß an Kraft sind. Solche Leute pflegen
nicht selten fast ihre gesamte Löhnung, die sie von
der mühevollen Fahrt heimbringen, in der ersten
Hafenstadt mit Frauenzimmern klar zu machen. Des-
halb ist auch das Dirnenwesen in allen größeren
Häfen außerordentlich entwickelt, denn lohnend ist
das Geschäft mit Jan Matt, wenn es auch nicht frei
von Gefahren und rohen Auftritten ist. Man billigt
im allgemeinen den starken Einflüssen des sexuellen
Lebens auf die männliche Psyche bei weitem nicht
den Einfluß zu, den sie beanspruchen dürfen, sondern
— 26 —
sucht viel zu viel hinter dem Alkoholismus, wenn
man das Motiv zu einer rohen Tat nicht sofort mit
Händen greifen kann. Gewiß soll nicht bestritten
werden, daß auch der Alkoholismus viele Excesse auf
dem Konto hat; aber man soll auch dabei nicht über-
sehen, daß der Alkoholismus ebenfalls sehr oft nichts
ist als eine Folge unbefriedigten Liebeslebens. Daß
er für dieses eine Heilquelle werden könnte, das stelle
ich allerdings energisch in Abrede; er kann nur ein
augenblickliches Betäubungsmittel sein, das aber in der
Regel das Übel größer macht, als es vorher war. Ent-
weder wird der Alkohol noch mehr zu rohen Ex-
cessen anregen, oder er führt zum ewigen Dämmer-
zustande des Vergessens, d. h. aus dem Betäubungs-
versuch entsteht die chronische Trunksucht, die den
Menschen noch tief unter das Vieh herabwürdigt. Es
lohnte, stets festzustellen, was den Säufer zu seinem
Laster geführt hat; in der Regel wird man die Quelle
im Sexualleben nachweisen können.
Der Orientale, wenigstens der Muselmann, ist der
Gefahr, ein Säufer zu werden, weit weniger ausgesetzt,
als der Abendländer, weil ihm der Genuß berauschender
Getränke verboten ist. Dafür entnervt er sich fast
mehr als durch ein excessives Liebesleben durch den
Haschisch- und Opium-Rausch, der ihn doch auch wieder
in die lieblichen Gefilde des wollüstigen Sinnengenusses
hinüberzaubert, und jedenfalls ganz erheblich gefähr-
licher und zerrüttender ist als der Alkoholrausch, so-
weit eben nicht chronische Trunksucht entsteht, die
aber viel eher noch vermieden wird als der chronische
Opiumismus, der etwa dasselbe ist wie der Morphinis-
mus, der bei uns viel weniger selten ist, als man
-~ 27 —
gewöhnlich glaubt. Es ist fast unmöglich, sich von
einem derartigen Narkotikum loszureißen, wenn man
ihm erst einmal verfallen ist. Auf den sexuell aus-
gemergelten Orientalen wirkt aber Opium schon des-
halb viel nachhaltiger und zerrüttender als auf uns
der Alkohol, weil schon die Ernährung berücksichtigt
werden muß. Leute, die Sauerkraut und Erbsen ge-
nießen, können viel eher ein Quantum Alkohol ver-
tragen als der Orientale bei seiner Ernährung und
seinem Klima das Opium. Der Alkohol wirkt vorüber-
gehend auf das Sensorium, schwächt den Willens-
widerstand und setzt das Bewußtsein herab, das
Opium zerrüttet das Nervensystem, läßt die Phantasie
ausschweifen und schwächt das Sexualsystem. Es ist
aber gerade wegen der wunderbaren sexuellen Ver-
zückungen, in die der Opiumrausch versetzt, dessen
nahe Beziehung zum Liebesleben viel leichter erkenn-
bar als beim Alkoholrausch, der wohl in seinem An-
fangsstadien die Phantasie zu beleben vermag, dann
aber abstumpft, der deshalb meist ein Lethetrank gegen
die Enttäuschungen des Liebeslebens sein soll, und
nur in den seltensten Fällen dazu bestimmt ist, Mut
zu gewinnen, denn dazu ist in Liebesangelegenheiten
der Alkohol wohl das untauglichste Mittel, sobald er
so reichlich genossen wird, daß er überhaupt be-
rauschend wirkt. Er ist schon deshalb nicht geeignet,
weil er impotent macht, d. h. entweder eine völlige
impotentia virilis, oder die sogenannten e j a -
culatio praecox zur Folge hat. Man nahm
deshalb im älteren Rechte an, daß ein Betrun-
kener überhaupt kein Sittlichkeitsverbrechen bis
zur Vollendung begehen, sondern nicht über das
28
Attentat zu einem solchen hinauskommen könne.
Auch Opiumrausch und Alkoholrausch kennzeichnet,
wie man sieht, eine starke Charakterverschieden-
heit im Liebesleben der Morgen- und Abend-
länder. Jetzt hat sich hierin allerdings auch schon
vieles geändert; der Alkohol ist auch bei den Musel-
männern durchaus nicht mehr so allgemein verpönt.
Weit erheblichere Unterschiede als im Liebes-
leben der Männer findet man aber im Liebesleben der
Frauen, denn diese spielen im Orient eine ganz wesent-
lich andere Rolle als im Occident. Allerdings wird
nach dieser Richtung hin unglaublich viel gefabelt und
gefaselt. Ich habe schon in meinem Buche über das
Liebesleben im alten Deutschland nachgewiesen, daß bei
unseren braven Vorfahren die Frau nicht die Rolle ge-
spielt hat, die ihr heutigen Tages angedichtet wird.
Es ist deshalb ganz falsch, zu behaupten, daß wäh-
rend die deutsche Frau schon im Altertum eine Art
Heilige mit fast abgöttischer Verehrung gewesen sei,
die Frauen im Orient heute noch im Harem in einem
Sklavenleben dahin schmachten müßten. Nicht ein-
mal ihres Lebens seien sie sicher, denn wenn der
gestrenge Herr Tyrann ihrer überdrüssig sei, dann
lasse er sie einfach in einen Sack nähen und ins Meer
stürzen, wo es am tiefsten sei.
In Wirklichkeit sieht die Sache völlig anders aus.
Ich will zunächst gar nicht darauf Wert legen, daß
es keineswegs überall im Orient Harems gibt, und
daß auch da, wo es diese Zivilversorgung für hei-
ratsfähige Mädchen gibt, doch nur verhältnismäßig
wenige Männer in der Lage sind, sich einen Harem.
— 29 —
zu halten. Bleiben wir vielmehr zunächst bei den
Harems, so ist es doch ein recht sonderbares Sklaven-
leben, das die Damen, soweit sie überhaupt Frauen
des Besitzers und nicht bloß Dienerinnen sind, dort
führen.
Für die extremste Richtung unserer modernen
Frauenbewegung ist freilich auch unsere deutsche Ehe
ein entwürdigendes Sklavenleben der Frau. Gleichviel
ob diese bedauernswerte Frau den ganzen Tag in ihrem
luxuriös eingerichteten Heim sitzen kann, Bälle, Ge-
sellschaften, Theater, Konzerte besuchen, sich überall
den Hof machen lassen darf usw., während der Mann
in seinem Berufe sich abmühen und nicht selten
schwere Sorgen auf sich laden muß, um die Launen
der „gnädigen Frau" — pardon — der Sklavin zu
befriedigen. Alles gleich, die Frau ist zu der ent-
würdigenden Pflicht, Mutter zu werden, verurteilt,
das allein ist schon eine widernatürliche Sklaverei.
Im Sinne der extremsten Frauenrechtlerinnen. Im
ganz allgemeinen Sinne allerdings darf zugegeben
werden, daß das Los vieler Frauen der armen Be-
völkerung nicht beneidenswert ist. Arme Leute haben
in der Regel die meisten Kinder. Da hat nun so
eine Frau die Kinder zu versorgen, die Wirtschaft in
Stand zu halten, pünktlich für die Mahlzeiten zu
sorgen, und bei alledem muß sie auch noch mit er-
werben, und wenn der Mann keine Arbeit hat oder
ein Lump ist, auch wohl allein für den Unterhalt der
Familie sorgen. Wo die bittere Not ihren Eingang
hält, da hält leider die Liebe sehr oft ihren Ausgang,
die Frau muß sich dann meist auch noch schlecht
behandeln, oft sogar roh mißhandeln lassen, neben-
— 30 —
bei aber den Lüsten des Mannes dienen, so daß die
Familie immer größer wird, damit auch das Elend.
Das ist ein betrübendes, aber leider nur zu wahres
Bild des gesegneten abendländischen Kulturfortschritts.
Und nun das Sklavenleben im Harem des Orients!
In verschwenderischer Pracht und Üppigkeit, umgeben
von dem raffiniertesten Luxus, den verschwenderischer
Reichtum zu schaffen vermag, verbringen diese „Skla-
vinnen" ihre Tage in süßestem Nichtstun. Mehr ein
prunkvolles Zaubermärchen als ein Menschenleben.
Keinen Finger brauchen diese Weiber zu krümmen,
es sei denn, daß sie ihn krümmten, um den Diener-
innen, die zu ihren Befehlen stehen und stets des
Winkes gewärtig sind, einen Befehl zuzuwinken. Und
der gestrenge Gebieter ist in der Regel der er-
gebene Diener dieser Sklavinnen und beeilt sich, jeden
ihrer Wünsche zu erfüllen, und es sind meist die
absurdesten Launen, die so eine Orientalin hegt. Der
gute Papa Gatte besitzt aber eine unglaubliche Ge-
duld und beneidet vielleicht manchmal den Abend-
länder, der doch wenigstens nur unter einem Paar
Pantoffeln zu seufzen braucht. Die Königin des Harems
ist die Faroritin. Sie ist, wie sich dies schon aus der
Bezeichnung ergibt, die Bevorzugte, die vertrauteste
Vertraute des hohen Herrn. Aber deshalb sind die
anderen Frauen auch seine Frauen, und sie wissen
das. Ich glaube auch nicht, daß der Bedarf an Säcken
besonders groß ist, denn es dürfte doch wohl außer-
ordentlich selten vorkommen, daß jetzt noch durch
diese grausame Befugnis ein unbarmherziger Strich
durch das Dasein einer Haremsdame gezogen wird.
Ich habe ja schon die orientalische Grausamkeit mit
— 31 —
dem Sadismus verglichen und gesagt, sie unterscheide
sich dadurch, daß sie sich gegen Dritte richte und
nicht gegen das Objekt des Liebeshandels selbst. Daß
früher leichter solche Hinrichtungen stattgefunden
haben, wenn irgend ein ernsterer Grund vorlag, also
vielleicht ein starker Eifersuchtskampf zwischen den
Damen oder sonst ein Ereignis, das geeignet war,
den Frieden des Weiberhauses zu gefährden, das ist
wohl nicht zu bestreiten; aber man vergesse doch
ja nicht, daß auch im deutschen Altertum der Mann
seine Gattin töten durfte, daß auch bei den Deutschen
die Frau am Gelage der Männer nicht teilzunehmen
hatte, daß die Frauen erhielten, was die Männer übrig
ließen, und daß die deutsche Frau viel eher Dienerin
des Mannes war als die Haremsfrau im Orient, die
doch faktisch niemals eine Dienstleistung für den
Mann zu erfüllen brauchte und ihm höchstens Liebes-
dienste zu leisten hatte, wie dies doch übrigens auch
Pflicht der deutschen Frau war.
Ich bin weit davon entfernt, etwa behaupten zu
wollen, daß trotz aller Pracht und Üppigkeit, trotz
Luxus und Reichtum für unsere Begriffe das Harems-
leben ein erstrebenswertes Dasein für das schöne Ge-
schlecht sei.
Es gibt aber doch nichts Unsinnigeres als des-
halb von einem Sklavenleben im Harem sprechen zu
wollen. Wenn man die Herrlichkeit einen vergoldeten
Käfig nennen wollte, so hätte das eher eine „Berech-
tigung", denn eingeschlossen und von dem Verkehr
mit der Außenwelt abgeschnitten sind diese Harems-
damen. Das ist richtig, aber eines dabei ist doch
nicht zu übersehen, daß eben die Landessitte diese
— 32 —
Klausur vorschreibt, daß die Frauen infolgedessen ein
anderes Leben überhaupt nicht kennen, und daß sie,
mindestens der Hauptzahl nach, viel zu indolent,
apathisch und unwissend sind, um über ihre Lage
ernstlich nachzudenken oder gar ein anderes Leben
zu wünschen .
In neuerer Zeit ist es ab und zu europäischen
Damen gestattet worden, die Harems zu besuchen und
mit den Haremsdamen in direkten Verkehr zu treten.
Dadurch haben wir zwar einige genauere Mitteilungen
über das Haremsleben erhalten, ob sie aber ganz zuver-
lässig sind, läßt sich schwer beurteilen, denn an und
für sich ist es für uns sehr schwer, sich in das Seelen-
leben anderer hineinzudenken, ganz besonders schwer,
wenn der Blick Verhältnisse trifft, die so unendlich ver-
schieden von den bei uns gewohnten sind, und ferner
traue ich, ohne etwa gegen das weibliche Geschlecht
im mindesten voreingenommen zu sein, gerade in
Haremsfragen einer abendländischen Dame überhaupt
kein objektives Urteil zu, noch viel weniger als ich
es ihnen in der Prostitutionsfrage zutraue. Ich würde
übrigens auch den Haremsbesitzern den Rat geben,
eher einem Dutzend Gardeleutnants den Zutritt in den
Harem zu gestatten, als einer emanzipierten europäi-
schen Dame — die nicht emanzipierten, werden sich
ja ohnehin eine solche Erlaubnis schwerlich auswirken.
Die zwölf Gardeleutnants würden in das etwas ein-
tönige Leben der Haremsdamen eine interessante Ab-
wechselung bringen, die letzteren vielleicht ganz er-
wünscht wäre. Ich gebe zu, daß dem polygamen
Gatten an einer derartigen persönlichen Entlastung
jedenfalls nichts gelegen, d .h. daß sie ihm sehr un-
— 33 —
erwünscht sein würde. Der Besuch der europäischen
Damen müßte dies aber in noch viel höherem Grade
sein, denn er trägt in den Harem den Geist der Re-
bellion, weil den Damen, die sonst zufrieden und
gleichgültig ihr Los tragen, europäische Frauenrechts-
ideen eingeimpft, weil ihnen Reden über das Un-
würdige ihres Daseins gehalten werden, die sie mit
Unzufriedenheit und mit Sehnsucht nach Freiheit er-
füllen. Unzufriedenheit zu stiften, ohne die Lage
bessern zu können, das halte ich in jedem Einzelfalle
für verwerflich. Ich will gern zugeben, daß hier die
sogenannte Aufklärung in guter Absicht erfolgt ist.
Ich kann mich aber nicht zu der Höhe des kos-
mopolitischen Gedankens aufschwingen, die nun ein-
mal erforderlich ist, um diese gute Absicht zu ver-
stehen. Es kann uns im Grunde verdammt gleich-
giltig sein, ob die Haremsdamen eine höhere Geistes-
ausbildung und mehr Freiheit genießen sollen oder
nicht, denn zunächst ist doch die Haremsordnung ge-
setzlich bestimmt und zugelassen. Wir haben wahr-
lich eher den Beruf, unsere eigenen Gesetze zu ver-
bessern, die das außerordentlich notwendig haben,
und unsere eigenen Mißstände zu beseitigen, die wahr-
haftig darnach verlangen, ehe wir orientalische Ge-
setze und Mißstände bekämpfen, die uns nicht das
Mindeste angehen. Mich erinnern solche Versuche
gar zu lebhaft an das Gleichnis vom Splitter und
Balken. Es ist doch gerade in einigen Mitteilungen
aus dem Haremsleben besonders freudig betont
worden, daß die Haremsdamen den Unterschied zwi-
schen dem eigenen Leben und dem der abendländi-
schen Frauen begriffen hätten und entschlossen seien,
3
— 34 —
für eine Änderung ihrer Lage zu kämpfen. Ist das
etwa ein Triumph für uns? Ich wüßte es nicht. Und
der praktische Wert dieser Aufklärung wird nur der
sein, daß die Haremsdamen, die bisher ihr Leben ganz
erträglich gefunden haben, schon deshalb weil sie
eben ein anderes Leben gar nicht kannten, verbittert,
unzufrieden und aufsässig werden, ohne daß sie da-
durch in absehbarer Zeit etwas erreichen können.
Welchen Wert hat es nun, die Harems zu re-
formieren oder gar abzuschaffen? Welchen Wert
würde dies, wenn es gelänge, für uns haben? Vom
Standpunkte der Moral geht uns das orientalische
Haremswesen nicht das Mindeste an. Es wäre sogar
eine starke Heuchelei, wenn wir uns für berechtigt
halten wollen, aus Gründen der Sittlichkeit gegen eine
Institution einzuschreiten, die weder nach orientali-
schen Anschauungen, noch auch nur nach alttestament-
licher Lehre unsittlich ist. Man vergleiche nur die
Weiberwirtschaft der jüdischen Könige David und Sa-
lomo, die doch beide als ganz besonders Gott wohl-
gefällig bezeichnet wurden, mit dem Orientharem. Man
sehe aber auch — und das ist das Gleichnis vom
Splitter und Balken — unser wohl entwickeltes Pro-
stitutionswesen, unsere Bordelle und unsere Sittlich-
keitsgesetze zunächst einmal genauer an, wer dann
noch den Mut hat, zu behaupten, daß wir berufen oder
berechtigt seien, gegen die Unmoral des Harems zu
eifern, der verdiente ob dieses Mutes ein Denkmal,
falls sich für ein solches noch der erforderliche Platz
finden sollte. Vor allen Dingen — das muß immer
wieder gesagt werden — ist es ein Unsinn, die Moral
orientalischer Zustände nach unseren Moralanschau-
— 35 —
ungen bewerten zu wollen. Unsere christliche Ehe
geht den Orientalen gar nichts an, soweit er nicht
Christ ist, und das ist der Haremsbesitzer ja nie-
mals. Im übrigen ist unsere theoretisch ganz nette
Moral ziemlich fadenscheinig, und das ist viel schlim-
mer als das Haremswesen, das ja gesetzlich Moral
ist, die Moral also nicht ungesetzlich und wider
besseres Wissen verletzen kann.
Vom Standpunkte der persönlichen Freiheit ließe
sich nun wohl einiges über das Leben einer Harems-
dame sagen. Ob es ausreicht, um uns das Recht zu
geben, im Harem das Evangelium der Freiheit zu
predigen, das ist eine andere Frage. Mich erinnert
das an unsere deutsche Literaturperiode um 1848
herum, die alles andere eher war als ein Glanzabschnitt
und von der Ad. Stern in seiner Ergänzung der Vilmar-
schen Geschichte der deutschen National-Literatur
sehr richtig sagt: „Ein Blick auf die Gesamtmasse
der politischen Gedichte jener Jahre gewährt den
Eindruck einer Maskerade. Da gab es ungezählte
Polen-, Magyaren- und Tscherkessenlieder, die Zu-
stände Spaniens und Irlands wurden poetisch geschil-
dert, den Ansprüchen der Czechen auf die Wieder-
herstellung der Wenzelskrone liehen deutsch-böhmische
Poeten wie Alfred Meißner im „Ziska" und Moritz
Hartmann in den „Böhmischen Elegien" ihre erste
frische Empfindung und jugendliche Begeisterung.
Der kosmopolische Taumel dieser Lyrik hatte nach-
her eine zum Teil sehr häßliche Ernüchterung zur
Folge." Noch viel gleichgiltiger als ob die Czechen
ihren Wenzelsthron wieder aufrichten, kann es uns
sein, ob einige orientalische Machthaber eine oder
— 36 —
mehrere Frauen haben, und ob sie diesen das ab-
geschlossene Leben im Harem vorschreiben oder ihnen
gestatten, nach Herzenslust außer dem Hause zu
flirten. Man soll sich ja auch bei uns nicht um fremde
Familienangelegenheiten kümmern und tut dies we-
nigstens da, wo es recht gut angebracht wäre, auch
absolut nicht. Wir können wohl die Fragen des
Haremslebens erörtern, aber eine tätige Einmischung
und Aufstachelung der orientalischen Frauen steht uns
nicht zu. Prüfen wir also ganz objektiv die Frage,
ob in der Klausur des Haremslebens eine ganz em-
pörende Beschränkung der persönlichen Freiheit liege,
so wird man dies nur dann bejahen dürfen, wenn
wir den Orient nicht mit den Massen des Orients,
sondern mit unserem Maße messen wollen. Es ver-
steht sich aber von selbst, daß wir dabei ein schiefes
Bild erhalten müssen.
Nach unserem Maße ist es schon- nicht „korrekt",
daß ein weibliches Wesen Gattin oder richtiger gesagt,
Haremsgenossin eines Mannes wird, ohne selbst erst
um die Einwilligung hierzu befragt zu werden. Ich
glaube gern, daß diese Einwilligung ziemlich oft nicht
erteilt werden würde, da ja auch das orientalische
Weib ein Liebesleben haben kann, d. h. es kann
sein Herz an eine andere Person gehängt haben als
die des Haremsinhabers. Bei der Abgeschlossenheit
der orientalischen Weiber kann dies allerdings nur
eine Liebesaffäre sein, die ganz einseitig aus der Ferne
angebahnt worden ist. Das wird aber den abend-
ländischen Damen trotz ihrer weitgehenden Freiheit
wohl auch nicht selten passieren, daß sie den Mann,
der das „Ideal ihrer Jugendträume" ist, nicht zum
— 37 —
Manne bekommen, sondern daß sie, falls sich eine
Gelegenheit bietet, einen anderen nehmen, der
vielleicht ganz bedeutend weniger ideal erscheint, da-
für aber „reelle Absichten" verwirklicht. Insofern ist
die Orientalin also nicht schlechter gestellt. Schlechter
gestellt ist sie nur dadurch, daß sie auch den unge-
liebten Mann noch mit vielen Genossinnen teilen muß
— was ja vielleicht in solchem Falle ganz erträglich
ist — , und daß sie eben abgeschlossen von dem
freien öffentlichen Verkehr ist, nicht vom Verkehr im
Harem, der doch ganz sicher die Klage über drückende
Einsamkeit nicht berechtigt erscheinen läßt. Nun liegt
aber gerade in dieser Gemeinsamkeit des Frauenlebens
ein Moment, das den Gedanken der Freiheitsentziehung
bei der Orientalin wenig oder gar nicht aufkommen
läßt, sofern sie nicht von fremder Seite darauf hin-
gewiesen wird, daß die Frau gleichberechtigt sei, also
dieselben Freiheiten beanspruchen dürfe, die dem
Manne zugebilligt werden, eine Theorie, die aller-
dings nicht einmal für abendländische Verhältnisse un-
bedingt richtig sein kann.
Eins der interessantesten Probleme tritt uns in
der Frage entgegen, ob der Orientale, der eine seiner
Frauen leidenschaftlich liebt, trotzdem in der Lage sein
könne, auch mit den anderen Frauen des Harems in
ehelichen Verkehr zu treten. Mich wundert es, daß
dieser Stoff von den Romanschriftstellern nicht aus-
genutzt wird, oder vielmehr, es wundert mich auch
wiederum nicht, weil eben diese Frage viel zu schwer
zu beantworten ist und sich der poetischen Beant-
wortung fast entzieht. Es kann vor allen Dingen
nicht bestritten werden, daß der Orientale heiß und
— 38 —
leidenschaftlich zu lieben vermag, er ist in der Glut
seiner Liebe dem Abendländer im Durchschnitt sogar
erheblich überlegen. Die Liebe aber fragt nichts nach
Gesetzen, Institutionen und Traditionen; sie fragt nicht
danach, ob Menschenwitz die Einzelne oder die Viel-
weiberei für die alleinseligmachende und allein sitt-
liche Form der Ehe erklärt hat, sondern ist in jedem
Falle darauf abzielend, die geliebte Person ganz zu
eigen zu erhalten, und soll dann blind für andere
Personen sein, denn nur in diesem Sinne kann man
davon sprechen, daß Liebe blind mache; sie ist sonst
außerordentlich hellsehend.
Man muß auch hier dem Charakter des Orientalen
voll Rechnung tragen und wird dann finden, daß die
leidenschaftlichste Liebe zu einer Frau noch keines-
wegs zärtlichere Gefühle gegen andere ausschließt. Es
ist vor allen Dingen die Liebe zum Weibe, die das
Herz des Muselmanns beherrscht; diese Liebe kann
zwar auf eine Person mit ungeheurer Gewalt aus-
gegossen werden; deshalb ist aber noch lange nicht
Blindheit für die Reize anderer Frauen die notwendige
Folge. Wenn der Blumenfreund eine herrliche Rose,
deren Besitz er mit Leidenschaft sich gewünscht hatte,
endlich erhielt, so wird ihm diese Rose für alle Zeiten
kostbar bleiben, sie erfreut ihn immer wieder, und der
Besitz dieses Wertstücks ist sein Stolz. Aber wird
er deshalb nicht auch gern noch andere schöne und
wertvolle Blumen zu erlangen suchen? Werden ihn
diese nicht ebenfalls erfreuen, wenn er sie erworben
hat? Frauen und Blumen, das ist ja sogar ein be-
liebter Vergleich, sie erfreuen das Herz und erfüllen
das Gemüt mit ihrem köstlichen Duft. Der Orientale
— 39 —
würde es nicht verstehen, wenn man durchaus bloß
an einer Blume Gefallen finden sollte, und dies würde
ja auch der Abendländer durchaus verstehen; wenn
aber Frauen Blumen sind, und man an mehr als einer
Blume Gefallen finden kann, so würde es der Orientale
nicht einsehen, warum man gerade nur eine Frau lieben
dürfe. Er denkt sich ja die höchste Seligkeit des
jenseitigen Lebens auch durch die schönsten Weiber
vergoldet, nicht durch eine einzige bloß. Wenn unsere
Dichter so oft behauptet haben, daß der Mensch über-
haupt nur einmal in seinem Leben lieben könne, so ist
der Harems-Orientale felsenfest davon überzeugt, daß
man nicht allein sehr oft lieben kann, sondern zu
gleicher Zeit mehrere, von denen höchstens eine die
Allerliebste ist. Man darf orientalisches Empfinden
nicht nach Bodenstedts „Liedern des Mirza Schaffy"
analysieren wollen, denn diese Analyse würde einen
stark deutschen Komponenten ohne weiteres ergeben.
Übrigens ist es ja auch in Deutschland wohl nicht
so ganz undenkbar und unvorstellbar, daß jemand zu
gleicher Zeit mehr als eine Person liebt. Kommt es
nicht vor, daß ein Mann eine sehr begehrenswerte
Frau hat, der er auch wirklich zugetan ist, und daß
er gleichwohl noch außer dem Hause auf Liebes-
abenteuer ausgeht? Kommt es nicht vor, daß ein
Mann außer seiner verlobten Braut, der er wirklich
von Herzen zugetan ist, noch ein anderes „Verhältnis"
unterhält, das zuweilen mit dem ganzen poetischen
Zauber wirklicher Liebe umstrahlt ist? Man denke
doch auch an die entsetzliche Ehe des Dichters Bürger
mit den beiden Schwestern Dorethea und Molly. Ich
weiß, daß gerade diese Dichterehe erfreulicherweise
— 40 —
nur eine sehr vereinzelte Ausnahme bildet; ich weiß
aber, daß sehr starke „intime" Liebschaften zwischen
dem Manne und einer Schwester von dessen Frau
durchaus nicht so sehr zu den Seltenheiten gehören,
wie man glaubt, und doch wahrhaftig auch zu glauben
berechtigt ist. Hier kommt es aber auch gar nicht
darauf an, ob solche — im wahrsten Sinne des Wortes
— Mißverhältnisse häufig sind, sondern lediglich darauf,
ob sie überhaupt vorkommen. Dies ist aber schon
durch einzelne Beispiele hinreichend bewiesen, und
ich meine: kommen sie in Deutschland überhaupt
vor, obwohl doch bei uns die Einzelehe gesetzlich
ist, obwohl auf die reine, keusche, deutsche Liebe
Ozeane von Tinte „verdichtet" werden, obwohl bei
uns der Ehebruch von jeher als etwas Sträfliches
galt, so wird man sich doch wahrlich nicht so baß
zu verwundern brauchen, wenn auch der Orientale
trotz glühendster Leidenschaft für ein Weib zu der-
selben Zeit seine Neigung auch anderen Weibern
schenkt, die ohnehin auf diese Neigung einen gesetz-
lichen Anspruch haben.
Es ist allerdings ganz unmöglich, andern Leuten
ins Herz zu sehen, und selbst die wunderbaren Röntgen-
strahlen können, wenn sie auch das Herz durch-
leuchten, doch nicht die geheimsten Regungen und
Motive offenbaren, die im Liebesleben eine so große
Rolle spielen. Es wäre deshalb mehr als vermessen,
möchte man in jedem Einzelfalle feststellen wollen,
wie weit wirkliche Liebe, wie weit bloße sexuelle
Erregung den Orientalen antreiben, den Verkehr mit
einer Mehrzahl von Frauen zu unterhalten. Ich habe
mich deshalb nur darauf beschränken können, den
— 41 —
Beweis dafür zu führen, daß auch die Liebe zu ver-
schiedenen Personen zu gleicher Zeit sicherlich nicht
ausgeschlossen ist.
Den Frauen im Harem muß diese leidenschaftliche
und mehrfache Liebe zu gleicher Zeit, sehr oft sogar
auch jede Liebe, versagt bleiben. Es ist wohl ziem-
lich ausgeschlossen, daß alle den einen Mann, zu
dessen Frauen sie das Schicksal gemacht hat, wirklich
lieben können. Ist dies nicht der Fall, dann müssen
sie sich, so oft er es wünscht, ihm ohne Liebe hin-
geben. So etwas kommt ja allerdings auch bei der
Einzelehe vor, die trotz allem Idealisieren doch sehr
oft zu reiner Geschäftsangelegenheit herabgewürdigt
wird. Ich möchte behaupten, daß die Haremsfrauen,
die ihren Gebieter wirklich lieben, eigentlich noch
übler daran sind. Mögen Sitte und Gewohnheit auch
noch so stark das Denken und Handeln der Menschen
beeinflussen, das Ewigmenschliche werden sie nie-
mals beseitigen können, und das Ewigmenschliche im
Liebesleben ist das sehnende Verlangen und die eifer-
süchtige Sorge um den Besitz des Geliebten. Es ist
richtig, daß das Haremsleben danach angetan ist, die
Frauen träge und bequem zu machen; aber man soll
doch nicht übersehen, daß das Weib im Orient ebenso
leidenschaftlich von Natur veranlagt ist wie der Mann,
und daß die äußerliche Trägheit auf das Liebesleben
nicht so leicht übergreift. Die Liebe einer Harems-
dame wird deshalb niemals wirkliche Befriedigung
bringen, und selbst die rein sexuelle Begierde wird
niemals wirklich befriedigt werden können, da schon
eine einzige Frau voll die Leistungsfähigkeit des Mannes
in Anspruch nehmen kann, sehr oft, ohne selbst dabei
— 42 —
volle Befriedigung zu erlangen. Ich meine, daß ge-
rade diese Seite des Haremslebens für die Frauen
diejenige ist, die ihnen den größten Zwang auferlegt.
Das mag auch wohl das Hauptmoment sein, aus
dem einmal die wesentlichste Unzufriedenheit ihre
Nahrung schöpft, und aus dem aber auch andererseits
die unberufene Aufklärungsarbeit unternommen wird.
Man darf diese Seite nur nicht frivol vom Stand-
punkte pikanter Lüsternheit auffassen wollen, sondern
muß sich objektiv in die Psyche des Weibes hinein-
versetzen. Es läßt sich nicht verkennen, daß einmal
die unbefriedigte oder doch wenigstens nur sehr man-
gelhaft befriedigte Libido und auf der andern Seite
die ganz natürliche Eifersucht auch in der Psyche
eines durch Lebensstellung, Trägheit und gewohntes
Phlegma indolent gewordenen Weibes arge Ver-
heerungen anrichten müssen. Das kann man aus all-
gemeiner Humanität bedauern; aber es darf uns keine
Veranlassung geben, auf die orientalischen Harems
Sturm laufen zu wollen. Wir müssen da vielmehr
an die durch Bismarck berühmt gewordenen Knochen
des pommerschen Grenadiers denken, die wir für die
paar Haremsdamen jedenfalls noch viel weniger ris-
kieren dürfen als für die für uns nicht so unwesent-
lichen politischen Wirren außerhalb unserer direkten
Interessensphäre.
Nun ist aber das Haremsleben keineswegs die
typische Form des Liebes- und Ehelebens im ganzen
Orient; man kann vielmehr sagen, daß die Harems
immer mehr vereinzelt in die Erscheinung treten, und
daß sie bei einem großen Teile der orientalischen
Völker überhaupt nicht vorkommen, wie ja bekannt-
— 43 —
lieh im Orient die schärfsten Rassenunterschiede be-
stehen. Wir haben dort immer noch Völker, die wir
als Halbwilde bezeichnen dürfen, neben Völkern, die
eine hohe Kultur besitzen und kräftig aufwärts streben.
Die bestialische Grausamkeit mancher Orientalen hat
sich im letzten Kriege Deutschlands bei den Hilfs-
truppen der angeblich an der Spitze der Zivilisation
marschierenden Franzosen im klarsten Lichte gezeigt.
Ich meine die Turcos und ähnliches Gelichter. Diese
Zierde der französischen Armee repräsentierte das, was
wir im Orient heute noch gar nicht so selten finden,
Halbtiere, die sich nicht darauf beschränken, den
Feind im ehrlichen Kampfe zu töten, sondern auch
den Gefallenen noch die Hände, Zunge und Nasen
abschneiden, die Augen ausstechen und sie sonst in
der barbarischsten Weise verstümmeln. Damit aber
noch nicht genug, diese Bestien haben auch noch gegen
Sanitätspersonal, das ihnen helfen wollte, geschossen,
den Ärzten ins Gesicht oder in die Hände gebissen,
und alle nur undenklichen Greueltaten verübt. Furcht-
bar war ihre Bestialität gegen Weiber; und wo diese
nicht zu haben waren, da begingen sie untereinander
widernatürliche Unzucht. Als nach dem Sturz von
Sedan zahlreiche entwaffnete Turcos über die bel-
gische Grenze geflohen waren, stellten sie dort den
belgischen Landmädchen in so schamloser und gewalt-
tätiger Weise nach, daß schließlich nichts übrig blieb,
als diese wilden Horden in die Citadelle von Antwerpen
zu sperren. Frankreich hat sich wirklich unvergäng-
liche Kulturverdienste erworben, daß es diese Halb-
tiere nach Europa brachte, um sie ein Kulturvolk
schänden zu lassen; denn die Absicht war doch die,
— 44 —
daß dieses Gesindel sich über Deutschland herstürzen
und vernichten sollte, was ihm erreichbar war.
Es ist, wie gesagt, ein jammervolles Bild, das
uns in diesen wilden Scharen entgegentritt und doch
so viel Lehrreiches enthält, daß es ein volles Kapitel
orientalischen Lebens ausfüllen kann. Gerade diese
tierische Leidenschaft zeigt uns echt orientalisches
Liebesleben, wenigstens doch ein vollwertiges Stück
davon, und liefert zugleich den strikten und unanfecht-
baren Beweis dafür, daß es übel angebracht wäre,
wollten wir solche Naturen in unsere Sittlichkeits-
und Moralanschauungen fesseln. Geht dies aber beim
besten Willen nicht, so sollen wir uns auch hüten,
das orientalische Haremsleben lediglich vom Stand-
punkte unserer Bierphilistermoral betrachten zu wollen.
Wer seine Augen nicht gewaltsam verschließen will,
der kann den Unterschied zwischen Morgen und Abend
unmöglich übersehen.
In den letzten Marokkowirren hat sich auch für
das Liebesleben ein eigenartiges Bild entrollt. Der
siegende Beherrscher der marokkanischen Gläubigen
nahm dem Besiegten nicht allein Macht und Land,
sondern kaufte ihm auch seinen Harem ab; er wurde
dadurch der rechtmäßige Gatte aller der Frauen, die
bisher Gattinnen seines weniger glücklichen Rivalen
gewesen waren. Die Frauen wurden nicht gefragt,
ob das Band der Liebe, das sie an ihren bisherigen
Gebieter gefesselt hatte, jäh zerrissen werden dürfe;
es wurde einfach an den neuen Besitzer geknüpft und
wird nun vielleicht noch besser halten. Es soll ein
besonders schöner und reichhaltiger Harem sein, und
ich bin nicht darüber unterrichtet, ob die Damen sich
— 45 —
nicht etwa unter dem jetzigen Herrn noch wohler
fühlen als unter dem früheren.
In der Türkei, wo so viele Reformbestrebungen
sich geltend machen resp. von auswärts geltend ge-
macht werden, ist auch eine Reform des Harems-
wesens angebahnt worden. Es wird den Haremsdamen
deshalb aus dem Abendlande viel Sympathie entgegen-
gebracht, und man feiert sie gern als Heldinnen. Kenner
der Verhältnisse allerdings sind der Ansicht, daß den
Haremsgattinnen dadurch ein Loblied gesungen werde,
auf das sie nur im allerbescheidensten Maße An-
spruch erheben dürften, denn die welterschütternde
Haremsbewegung gehe in Wirklichkeit von den Ge-
feierten überhaupt nicht aus; sie sei nicht aus den
Harems hervorgegangen, sondern komme von außen,
und es stehe nicht einmal fest, ob den trägen Harems-
frauen mit der Bewegung ein großer Gefallen getan
werde. Für die türkischen Verhältnisse selbst lasse
sich noch keineswegs sagen, daß eine wesentliche
Besserung erzielt werden müsse, wenn der Sturm auf
die durch lange Gewohnheit geheiligten Harems-Ein-
richtungen einen praktischen Erfolg aufzuweisen haben
würde. Was übrigens in Konstantinopel geschieht, das
ist doch keineswegs für den Orient als solchen ent-
scheidend. In anderen Ländern besteht schon längst
eine ziemliche Freiheit der Frau, neben dem Harems-
wesen, die fast europäisch gestaltete Einzelehe neben
der Vielweiberei.
Persien ist in dieser Richtung typisch. Der vor-
nehme Mann unterhält dort sein Zanana oder Enderen,
ein Frauenhaus, das fast dem Harem gleicht, den
Frauen aber doch eine größere Freiheit gestattet und
— 46 —
dem Manne viel mehr Schranken auferlegt, so daß
letzterer fast mehr der Beherrschte ist, als die Frauen
es sind. Besuche im Zanana sind gestattet, und wäh-
rend in der Türkei die Frau gefangen ist, macht sie
in Persien Besuche. Dem Manne ist es nicht einmal
gestattet, unangemeldet das Frauenhaus zu betreten.
Dagegen steht es den Frauen frei, ihre Eltern und
die weiblichen Verwandten zu besuchen, ja selbst
mehrere Tage dort zu verweilen, ohne daß sie es
nötig hätten, den Mann erst deswegen zu befragen
oder ihm überhaupt einen solchen Besuch mitzuteilen.
Männlicher Verkehr ist den Frauen allerdings unter-
sagt, und sie haben nicht das Recht, sich unverschleiert
vor Fremden sehen zu lassen. Das Leben im Zanana
gleicht auch sonst dem Haremsleben sehr wenig, die
Frauen sind keineswegs zu einem Leben untätiger
Trägheit verurteilt, sondern sie übernehmen den Haus-
halt und greifen auch tätig mit ein, sind auch meist
vorzügliche Köchinnen, die sogar das Konditorhand-
werk ganz trefflich verstehen. Ebenso ist ihnen die
Erziehung der Kinder überlassen, für deren Wohl sie
auch nach der eigentlichen Erziehung insofern tätig
sind, als sie in der Regel deren Heiraten arrangieren
und die zukünftigen Lebensgefährten bestimmen.
Bei den niederen Ständen gilt fast ausschließlich
die Einzelehe, und die Frau wird dann durch ihre
Heirat faktisch Genossin des Mannes, erfreut sich auch
einer fast unbegrenzten Freiheit. Sie bleibt auch in
der Öffentlichkeit unverschleiert und darf ohne Scheu
mit fremden Männern sprechen. Es ist nicht be-
kannt, daß die Frauen diese Freiheiten besonders miß-
brauchen.
— 47 —
Eine Sekte, die den Frauen absolute Freiheit ver-
schaffen wollte, die sogenannten Babi, ist den furcht-
barsten Verfolgungen ausgesetzt gewesen und nahezu
ausgerottet worden. Diese Sekte wurde von Ali Mo-
hammed, einem Kaufmann, gegründet. Dieser sonder-
bare Heilige bezeichnete sich selbst als Bab, d. h.
die Pforte, er meinte, daß er die Pforte der Erkennt-
nis sei, und es dauerte gar nicht lange, bis er seinen
Anhängern, die ihn als die Inkarnation Gottes feierten,
erklärte, daß er sogar der Mittelpunkt der Welt sei.
Die vollste Gleichberechtigung der Frauen war bei
den Babis Prinzip und trat auch dadurch in die Er-
scheinung, daß eine Frau der Hauptapostel dieses
Gottmenschen war. Nicht aber wegen der Stellung,
die den Frauen bei der Sekte gegeben wurde, verfolgte
man die Gläubigen, sondern deshalb, weil sie auch
politisch eine Rolle spielen wollten, die dem Staate
schwere Gefahren brachte. Mit echt persischer Grau-
samkeit fiel man über die Sektierer her, die sich
aber durch die Ermordung des Schahs rächten und
damit bewiesen, daß sie mindestens nicht die Religion
der Duldung und Demut lehrten.
Fast bei allen orientalischen Völkern finden wir
die Polygamie; aber niemals ist sie allgemein, d. h.
von allen Mitgliedern eines Volksstammes geübt. Das
würde auch aus sehr zwingenden Gründen nicht durch-
führbar sein. Der Koran gestattet jedem Gläubigen
vier legitime Gattinnen und erlaubt ihm Beischläfer-
innen ohne Beschränkung. Wollte von dieser reli-
giösen Erlaubnis jeder den vollen Gebrauch machen,
so müßte vor allen Dingen schon ein ungeheurer
Überschuß von Weibern vorhanden sein, d. h. es müßte,
— 48 —
selbst wenn sich jeder nur auf die erlaubte Anzahl
legitimer Gattinnen beschränken wollte, mindestens
viermal soviel Weiber als Männer geben. Das ist aber
keineswegs der Fall, also ist schon rein rechnerisch
der Beweis zu führen, daß es eine allgemeine Viel-
weiberei nicht geben kann. Nun ist aber auch der
Kostenpunkt nicht zu übersehen. Weiber kosten viel
Geld, nicht bloß den, der die Liebe mit Geld erkaufen
will, sondern erst recht den, der viele Gattinnen hat,
noch dazu, wenn er sie als Haremsdamen erhalten
will, denn diese machen besonders hohe Ansprüche
an die Kasse, vermehren aber in keiner Weise die
Einkünfte, wie dies im Abendlande die Frauen oft tun
müssen. Fast überall im Orient findet sich große Ar-
mut, die aus den abscheulich verlotterten sozialen
Verhältnissen resultiert. In China sind ca. 9/10 der Ein-
wohner nicht imstande, die Kinder auch nur einer
Frau zu ernähren, wieviel weniger können sie daran
denken, die zwar gesetzlich gestattete, aber materiell
unmögliche Polygamie zu treiben. Ähnlich liegen die
Verhältnisse bei den Indern.
Noch eine andere absonderliche Art der Gruppen-
ehe findet sich im Orient; es ist die sogenannte
Polyandrie, d. h. die Ehe einer Frau mit mehreren
Männern. Diese Eheform besteht noch vielfach auf
Ceylon; sie kommt aber auch im Nelgirigebirge in
Vorderindien vor bei dem dort hausenden Stamme des
Tudas und im Himalaya bei den Sikhs. In der Regel
sind die Männer Brüder, und das macht nach unseren
Begriffen diese Eheart sicherlich noch weniger sym-
pathisch. Die Kinder, die solchen Ehen entstammen,
wissen niemals, welcher von den Gatten ihrer Mutter
— 49 —
ihr Vater ist; sie nennen deshalb alle Väter und
sprechen von dem älteren oder jüngeren Vater. Man
kann für diese Art der Ehe schwerlich ein Moment
geltend machen, das geeignet wäre, sie annehmbar
oder auch nur erklärlich zu finden, jedenfalls ist sie
ganz abscheulich und widersinnig. Wenn man bei
der Vielweiberei doch immer noch Gründe, die für ihre
Anwendung sprechen, finden kann, so sind diese
Gründe zugleich Momente gegen die Polyandrie. Hat
ein Mann mehrere Frauen, so ist es durchaus mög-
lich, daß die Bevölkerung aus diesem Verhältnis eine
stärkere Vermehrung erfährt als aus den Einzelehen,
denn jede Frau kann dem einen Gatten Nachkommen
bescheeren. Ebenso ist die Möglichkeit, daß alle Frauen
den natürlichen Zweck der Mutterschaft erfüllen, bei
der Vielweiberei gegeben. Wir haben ja schon ge-
sehen, daß der faktische Überschuß an Frauen, den
man fast überall findet, noch bei weitem nicht ausreicht,
um jedem Manne die Vielweiberei zu gestatten; es
ist aber eine „Versorgung" aller vorhandenen Frauen
schon möglich, wenn nur ein Teil der Männer in
Polygamie lebt. Das alles sind Gründe, die sehr wohl
und gewiß nicht ohne Berechtigung für die Viel-
weiberei geltend gemacht werden können. Sie alle
sprechen aber direkt gegen die Polyandrie, für die
nur der eine Umstand geltend gemacht werden könnte,
daß bei großer Armut der Bevölkerung der Einzelne
nicht in der Lage sei, eine Frau zu erhalten, daß des-
halb mehrere Männer die Kosten eines Hausstandes
tragen müßten, daß auch der Einzelne nicht auf die
Freuden und Wohltaten des Familienlebens verzichten
wolle. Allein, das ist, bei Lichte besehen, auch noch
4
— 50 —
kein stichhaltiger Grund. Die Häuslichkeit zwischen
mehreren Männern und einer Frau läßt sich schwer-
lich als den Gipfelpunkt gemütlicher Behaglichkeit
denken. Entweder wurde die Frau lediglich als I n -
strumentum pollutionis betrachtet, wobei ihre
Rolle erheblich niedriger war als selbst bei der Viel-
weiberei, oder aber es hätte eine Neigung zu der
Frau auf Seiten aller ihrer Männer bestehen müssen.
Im letzteren Falle wäre das Verhältnis kaum idealer
gewesen und hätte doch mindestens gegen die Natur
verstoßen, denn in eines jeden Menschen Brust schlum-
mert neben der Neigung doch auch der Wunsch, die
geliebte Person für sich allein zu besitzen. Daß in
der Liebe geteilte Freude doppelte sei, wird man
schwerlich behaupten dürfen, mindestens nicht in dem
Sinne, daß verschiedene Männer sich in dieselbe Frau
teilen sollen. Es kann deshalb auch in solchen Gruppen-
ehen nicht allzu friedlich zugegangen sein. Wer eben
nicht die Mittel hat, eine Frau zu ernähren, der wird
besser tun, auf die Ehe zu verzichten, als daß er etwa
gar mit anderen sich in die Kosten des Verfahrens
teilt, damit zugleich aber auch in die Frau. Eine Liebe
ohne Ehe wird jedenfalls den Durchschnittsmenschen
viel eher zusagen. Freilich kennt der Orient nicht
überall unsere Bedenken.
Wenn man nun erwägt, daß selbst die Ehe im
Orient so außerordentlich vielgestaltig auftritt — daß
ein Teil der Buddhisten auch noch für Cölibat sich
begeistert, sei nebenbei bemerkt, — so wird man schon
daraus entnehmen müssen, daß das Liebesleben im
Orient auf keinen Fall so einfach zu schildern ist wie
das des Abendlandes, das ja auch schon kaleidoskopisch
— 51 —
genug aussieht, aber doch immerhin offiziell nur die
Form der Liebe kennt, die in der Ehe gipfelt, und
zwar nur in einer einzigen Form der Ehe, der Mono-
gamie. Wenn sich nun auch das Liebesleben an sich
nicht nach den Sittenanschauungen einzelner Völker
richtet, sondern überall dem gleichen Naturtrieb ent-
springt, der unabhängig von Menschendogmen in der
ganzen Welt als Instinkt zu finden ist, so läßt sich
doch nicht bestreiten, daß dieser Trieb sich doch mehr
oder weniger in bestimmte Bahnen lenken läßt, und
daß seine Erscheinungsformen stark durch die Sitten-
anschauungen beeinflußt werden.
Das Liebesleben im orientalischen
Altertum.
Bei allen orientalischen Völkern des Altertums
finden wir eine größere Leidenschaftlichkeit und Wild-
heit, als wir sie im Abendland gewohnt sind. Die
Lüsternheit, die ja in der Regel mit Grausamkeit und
Blutdurst gepaart ist, nimmt in der alten Geschichte
einen breiten Rahmen ein, und das, was wir heutigen
Tages als Strafrechtspflege bezeichnen, wurde überall
durch eine maßlose Willkür ersetzt, vor der das Leben
des Einzelnen nicht mehr Wert hatte als ein Lufthauch.
Geschichtliche Beispiele, durch die diese Tatsache be-
stätigt wird, sind in großer Menge bekannt. Wenn
ein Despot seine Schießwaffen einfach dadurch er-
probte, daß er auf den ersten, besten seiner Unter-
tanen anlegte und ihn ohne Besinnen über den Haufen
schoß, so läßt diese „harmlose" Zerstreuung wohl
darauf schließen, was die zu erwarten hatten, die durch
irgend eine Tat, mag sie auch nur dadurch zu einer
Missetat geworden sein, daß sie die augenblickliche
Mißstimmung eines Gewaltigen erregte, zu „Schand-
tätern" geworden waren.
— 53 —
Der Hang zu unmenschlicher Grausamkeit zeigte
sich auch in der Auswahl der Hinrichtungsmethoden,
die auf eine ebenso reiche Erfindungsgabe wie Grau-
samkeit schließen lassen. So hatte der Tyrann Phalaris
zu Agrigent den Ruf besonderer Bosheit, und ein er-
finderischer Kopf, Perillus, glaubte, sich der besonderen
Gunst dieser menschlichen Bestie leicht dadurch ver-
sichern zu können, daß er ein sehr sinnreich kon-
struiertes Werkzeug schuf, durch welches den Ver-
urteilten die schwerste Marter zugefügt, dem Ty-
rannen aber zugleich ein eigenartiger Spaß bereitet
werden konnte. Er baute aus Erz einen Ochsen, der
hohl war, und in den Menschen eingeschlossen werden
konnten. Es war aber eine so seltsame Akkustik an-
gewendet worden, daß ein Ton, der im Innern dieses
Apparates entstand, ungeheuer verstärkt außen gehört
wurde. Brüllte im Innern des Ochsen ein Mensch,
so hörte man draußen das laute Gebrüll eines Ochsen
so täuschend, daß es ein „wahres Vergnügen" war,
diese akkustische Täuschung zu genießen. Der Ap-
parat brachte es nun aber ganz von selbst mit sich,
daß bei seiner Anwendung im Innern gebrüllt werden
mußte, denn er hatte den Zweck, die in ihm Ein-
geschlossenen langsam zu braten, da durch eine Heiz-
einrichtung das Erz erhitzt und allmählich zum Glühen
gebracht wurde.
Als Herr Perillus seinem gnädigen Herrn und Ge-
bieter diese Erfindung als Geschenk anbot, war
Phalaris in der Tat hocherfreut und so gnädig ge-
stimmt, daß er dem Erfinder „erlaubte", selbst zu
zeigen, ob das Werk alles das wirklich erfüllte, was
von ihm versprochen wurde, d. h. Perillus mußte sich
— 54 —
als Erster in seiner Maschine braten lassen und merkte
zu spät, daß mit großen Herren nicht gut Kirschen
essen sei. Jedenfalls hatte er seine Sache vorzüglich
gemacht, denn der Ochse brüllte wirklich ganz aus-
gezeichnet, so daß Phalaris sich oft das kleine Ver-
gnügen gönnte, den trefflichen Effekt zu genießen. So
oft ihm dazu die Lust ankam, ließ er irgend einen
seiner treuen Untertanen am Kragen nehmen und
schmoren; wozu waren denn die Leute da, wenn sie
sich nicht eine ganz besondere Ehre daraus machen
wollten, ihren Gebieter zu belustigen? Für den braven
Perillus war das Schicksal, geschmort zu werden,
sicherlich wohl verdienter als für die meisten anderen
Opfer, denn die gemeine Gesinnung, die er bewiesen,
indem er eine so abscheuliche Maschine zur Qual
seiner Mitmenschen schuf, lediglich um dadurch die
Gunst eines Scheusals für sich selbst zu gewinnen,
hatte eigentlich einen solchen Lohn noch am ehesten
verdient. Übrigens soll auch dem grausamen Phalaris
die Geschichte übel eingetränkt worden sein, denn die
Überlieferung erzählt, daß er schließlich selbst durch
die Heftigkeit seines Schmerzgebrülls andere be-
lustigt habe; er soll ebenfalls in der berüchtigten Ma-
schine ein Ende mit Schrecken genommen haben.
Daß sich an den ehernen Ochsen der Aberglaube
liebevoll rankte, ist nur ein Beweis dafür, daß die
Erfindung überall Beachtung fand. So wurde erzählt,
daß verschiedenen Personen, die dem furchtbaren
Tode geweiht worden waren, die sonst so verderb-
liche Prozedur auch nicht das Mindeste geschadet
habe. Gallonius berichtet allen Ernstes, daß wieder-
holt Personen in dem Ochsen geschmachtet hätten, die,
— 55 —
nachdem das Feuer gelöscht worden, ohne den gering-
sten Schaden aus diesem Schmorofen herausgezogen
worden seien. Man habe also dasselbe erlebt wie bei
den drei Männern im feurigen Ofen, von denen die
Bibel berichtet. Gerade dieser Hinweis auf die Bibel
macht freilich diese Erzählung nicht wahrscheinlicher,
denn offenbar hat Herr Gallonius seine Wundermähr
aus der Bibel geschöpft und die biblische Erzählung
einfach auf den Ochsen des unglücklichen Erfinders
Perillus übertragen.
Dem mag nun aber sein, wie ihm wolle, — die
grausame Erfindung ist jedenfalls historisch, und wenn
sie wirklich einmal versagt haben sollte, so ist dieser
Umstand auch noch nicht geeignet, die unerhörte
Grausamkeit in einem milderen Lichte erscheinen zu
lassen. Nun ist das alte Agrigent zwar das heutige
Girgenti an der Südküste Siziliens, und man könnte
ja vielleicht den Einwurf machen, daß Agrigent doch
eigentlich nicht die Sitten und Bräuche des Orients
beweise. Aber es darf nicht übersehen werden, daß
es eine dorische Kolonie war, die etwa 580 v. Chr.
gegründet und etwa 5 Lustren nach der Gründung
von Phalaris beherrscht wurde, der 16 Jahre lang
dort in seiner sichern Burg mit furchtbarer Grausam-
keit die Stadt beherrscht, sie allerdings auch zu einem
der mächtigsten Plätze gemacht haben soll. Es ist
eben echt orientalischer Geist, der in Phalaris lebte und
wirkte. Agrigent hatte zur Zeit der Carthagerkriege
2—300 000 Einwohner, und der Stier soll von den
Carthagern geraubt und in die ferne Heimat gebracht
worden sein, von wo er 146 von Scipio nach der
Zerstörung Carthagos den Agrigentinern zurückge-
— 56 —
bracht wurde; jedenfalls hat er auch die Carthager
ergötzt gehabt, d. h. nur die, die nicht selbst in ihm
ein Ende fanden.
Wenn man sich weiter nach Osten wendet und
prüft, ob dort ebenfalls eine ganz ungewöhnliche Grau-
samkeit herrschte, so wird man dies ohne weiteres
bestätigt finden, ja bis auf den heutigen Tag ist dieser
schlimme Charakterzug der Orientalen noch unver-
wischt, wenn es auch nicht mehr so entsetzliche Marter-
Instrumente gibt, wie sie das Altertum kannte und mit
besonderer Vorliebe anwendete. Geradezu verrufen
waren die Tötungsarten der Perser. Wir finden dort
eine Todesmarter, die stark an den ehernen Ochsen
erinnert, in ihrer Wirkung fast gleichartig ist, wenn
sie auch keine so raffinierte Erfindung darstellt. Es
war diese ein hoher eiserner Ofen, an dem eiserne
Ringe angeschmiedet waren, in die man Hände und
Füße der Opfer schloß, so daß diese mit der ganzen
Vorderseite ihres Körpers an den Ofen gefesselt waren.
Dann heizte man den Ofen bis zur Glühhitze und
erreichte damit, daß die Unglücklichen, die völlig ent-
kleidet waren, allmählich erwärmt und nach und nach
völlig verbrannt wurden. Der Effekt, daß das Geschrei
der Unglücklichen wie das Brüllen eines wütenden
Stieres klang, war dabei allerdings nicht zu erzielen,
aber dafür hatten die Herrscher, die der Hinrichtung
auf ihrem Thronsessel in aller Gemütsruhe zusahen,
das besondere Vergnügen, sich an den Qualen ihrer
Opfer weiden zu können.
Ich will mich hier nicht darauf einlassen, die
furchtbaren Todesstrafen, die im Orient schon ver-
hängt wurden, wenn ein Mensch das Unglück hatte,
— 57 —
dem einmal übelgelaunten Herrscher in den Weg zu
laufen, eingehender zu besprechen; ich möchte aber
daran erinnern, daß auch die entsetzliche Marter der
Kreuzigung echt orientalischen Ursprungs ist. Meder,
Perser und Babylonier hielten diese Todesmarter für
die beliebteste Hinrichtungsmethode und wendeten sie
nicht selten in einem Umfange an, den man einfach
nicht für möglich halten könnte, wenn er nicht historisch
erwiesen wäre. Darius ließ, als das alte Babylon sich
gegen ihn längere Zeit energisch verteidigt und seinem
Heere arge Verluste bereitet hatte, nach der Er-
oberung der Stadt etwa 3000 der vornehmsten Feinde
kreuzigen, und Alexander der Große eiferte ihm hierin
nach. Er liebte es nicht, daß sich seinen Eroberungs-
zügen jemand widersetzte, und hielt deshalb die
energische Verteidigung der von ihm Angegriffenen für
ein besonders todeswürdiges Verbrechen. Die Höhe
der Gesinnung, die sich darin zeigt, daß ein Feld-
herr den Heldenmut auch beim überwundenen Feinde
achtet, war den grausamen Völkern des Orients über-
haupt fremd. Als Alexander bei der Belagerung von
Tyros durch die heldenhafte Verteidigung der Ein-
wohner 6 Monate lang aufgehalten war, steigerte er
die Wut des Angriffs bis zur Raserei. Immer neue
Scharen seines gewaltigen Heeres trieb er gegen die
Stadt, die schließlich einer Insel in einem ungeheuren
Blutmeere glich. Erst als über 6000 der Belagerten
gefallen waren, konnte Alexander die Stadt erobern.
Er ließ dann, da er ein besonderes Exempel statuieren
und seine Feinde vor ähnlichem „Übermut" warnen
wollte, 2000 der Besiegten kreuzigen, und um diese
Greuel noch furchtbarer erscheinen zu lassen, befahl
— 58 —
er, daß die Kreuze auf weite Gebiete verteilt werden
sollten, so daß überall die grausam Hingerichteten
gesehen werden mußten.
Es ist nun ein oft und mit vollstem Rechte be-
tontes Faktum, daß gerade die sexuelle Wollust den
Hang zur Grausamkeit am meisten steigert. Bei
Alexander dem Großen ist die Wechselwirkung schon
deshalb nicht widerlegt, weil von ihm genügend
bekannt ist, daß er bei den Weibern ebenso große
Siege erfochten hat wie gegen seine Feinde. Vor
allen Dingen ist aber die Tatsache, daß die verweich-
lichtesten Wüstlinge stets zugleich die grausamsten
Tyrannen waren, nicht zu übersehen; sie kann kaum
dem Uneingeweihten entgehen, und für die Psycho-
logen ist sie weder neu noch unerklärlich, sie be-
stätigt ihm nur durch eine Reihe praktischer Beispiele
den Schluß, zu dem er auch auf rein theoretischem
Wege gelangen kann. Die Cäsaren von Nero, Helio-
gabalus usw. an, sind ebenso als Wüstlinge wie als
grausame Bestien bekannt. Die meisten von ihnen
waren Wüstlinge, die sexuell so übersättigt waren,
daß sie nicht bloß mit Weibern ein Schandleben
führten, sondern sich auch, wie man heutigen Tages
sagt, homosexuell betätigten. Sie sind als Knaben-
schänder bekannt, und so wie es in ihrem Liebes-
leben keine Abscheulichkeit gab, der sie sich nicht mit
Leidenschaft zugeneigt hätten, so war auch keine
Grausamkeit abscheulich genug, um sie voll zu be-
friedigen. Gerade die Leidenschaft und Unersättlich-
keit, das unstillbare Verlangen nach immer stärkeren
und immer neuen Nervenkitzeln, das ist es ja, was
dem Psychologen den Zusammenhang zwischen
— 59 —
sexuellen und bestialischen Exzessen zeigt und ihn
beide Abscheulichkeiten geradezu als aus einer Quelle
fließend erkennen läßt.
Noch klarer ist der Zusammenhang zwischen
Wollust und Grausamkeit im Liebesleben der alten
Griechen zu erkennen. Eine gesunde Erotik, wie sie
das griechische Altertum kannte, und wie sie ja natur-
gemäß auch aus der griechischen Mythologie zu uns
spricht, kennt den Grad der Perversität, bei dem
die unnatürliche Grausamkeit ausgelöst wird, noch
nicht. Eine robuste Erotik, selbst wenn sie dem
sexuellen Moment einen breiten Rahmen und einen
größeren Einfluß gewährt, als dies nach unseren Moral-
anschauungen zulässig erscheint, ist noch durchaus
nicht krankhaft, sondern im Gegenteil in der Regel ein
Zeichen überschäumender Kraft und Gesundheit, ein
Ausfluß heiterer, sorgloser Lebensauffassung. Selbst-
verständlich kann man aber von einer gesunden Erotik
nur solange reden, wie noch keine Übersättigung ein-
getreten ist, durch die der Liebesdrang in Bahnen
gelenkt wird, die nicht mehr normal und natürlich
sind, sondern gerade durch ihre Unnatur neue Reize
schaffen sollen. Dieser Zustand war eingetreten, als
Sodomie und Päderastie bei den Griechen ihren Sieges-
zug hielten. Sofort finden wir aber auch eine Nei-
gung zu Grausamkeiten, die dem heitern Volke der
Griechen ursprünglich völlig fremd gewesen war. Es
wurde ein beliebter Sport, die Sklaven wegen ge-
ringer Vergehen, oft auch nur wegen angeblicher
Verfehlungen, die nur behauptet wurden, um einen
Vorwand zur Folter zu liefern, zu torquieren. Man
führte die sogenannte Privatfolter ein, d. h. es wurde
— 60 —
dem Herrn gestattet, ganz nach Belieben die Folter
an seinen Sklaven vorzunehmen. Ich habe das einen
Sport genannt, und es verdient diesen Namen auch
vollkommen, denn die Folter diente nicht etwa der
Gerechtigkeit, deren Namen höchstens dadurch schwer
mißbraucht werden konnte, daß man sich auf sie be-
rief; — nein, man schuf sich ein Vergnügen, das einen
ganz besonderen Sinnenkitzel gewährte. Man lud zu
solchen Foltern Freunde und Bekannte ein, und die
ganze Gesellschaft geriet beim Anblick des vor Schmer-
zen zuckenden Körpers, beim Niederrieseln des frischen,
warmen Blutes in wollüstige Ekstase. Ja, es darf
wohl gesagt werden, daß ein solcher Anblick die se-
xuelle entnervte Gesellschaft viel mehr erregte und
bei ihnen eine viel intensivere Wollust auslöste als
jede direkte sexuelle Betätigung. Es ist dies dieselbe
Erscheinung, die uns beim Sadismus entgegentritt,
und die schließlich auch, wenigstens in der Negation,
der Masochismus trägt. Man darf doch aber bei
Leibe nicht etwa behaupten wollen, daß diese beiden
Modezustände, wenn man so sagen darf, Beweise für
besondere Gesundheit wären ; sie können vielmehr
nur gedeihen auf einem durch ständige Überreizung
erkrankten Nervenszstem. Man soll doch gesunde
Erotik nie mit sexueller Übersättigung verwechseln.
Es ist aber die Sodomie keineswegs etwa ein
Charakteristikum der Griechen gewesen, sondern sie
war im Orient erst recht verbreitet und wird doch
selbst in der Bibel recht getreu und ausführlich ge-
schildert, nicht etwa bloß soweit, wie sie im mosai-
schen Rechte verboten ist, sondern noch viel präziser
in der Geschichte von Sodom im 1. Mose 19, 5 ff.
— 61 —
und schlimmer noch in der Geschichte der Benja-
miniter, Richter IQ, 22 ff., wo die Männer des Stammes
Benjamin zunächst den Mann zur Befriedigung ihrer
bösen Lüste verlangen, dann dessen Kebsweib, das
ihnen als Ersatz gegeben wurde, zu Tode brachten.
„Die erkannten sie und trieben ihren Mutwillen an
ihr die ganze Nacht bis an den Morgen; und da die
Morgenröte anbrach, ließen sie sie gehen." Es liegt
gerade in dieser Geschichte eine ganze Kulturlehre
des orientalischen Altertums. Zunächst ist es auf-
fallend, daß die Bewohner einer ganzen Stadt den
fremden Gast für ihre Lust verlangen. Das wird
zwar als etwas Unerhörtes bezeichnet, scheint aber
nur in den Augen des bedrohten Leviten und seines
Gastgebers, der ebenfalls nicht zum Stamme Benjamin
gehörte, so unerhört, in den Augen der Benjaminiter
dagegen etwas ganz Selbstverständliches gewesen zu
sein. Dagegen ist wieder etwas, das für alle heutigen
Menschen etwas Furchtbares und Entsetzliches war,
offenbar für den Leviten und dessen Gastgeber einfach
völlig selbstverständlich erschienen. Sie opfern beide
ohne jedes Bedenken das Weib des Leviten, über-
lassen es den viehischen Gelüsten des Stammes und
kümmern sich um die Angelegenheit überhaupt nicht
mehr bis zum andern Morgen. Dabei hatte aber der
Levit erst eine weite Reise gemacht, um sich dieses
Weib wieder zu verschaffen. Die Geschichte erinnert
allzu lebhaft an die List der von Wölfen Überfallenen,
die den hungrigen Bestien ein Pferd opfern, damit
sie selbst, während die Raubtiere den ersten Hunger
an dem Opfer stillen, entkommen können. Das mag
eine kluge Rettung sein; wer aber sein Weib der
— 62 —
Lüsternheit der Menge opfert, um selbst deren sodo-
mitischem Hunger zu entgehen, der wird wohl mit
vollstem Rechte erheblich weniger anerkennend zu
beurteilen sein. Das ist hier aber weniger der Er-
wägung wert; die Hauptsache ist der Nachweis einer
stark entwickelten Sodomie auch bei den Benjaminitern
zu alttestamentlichen Zeiten, ebenfalls ein Beitrag zur
Geschichte des orientalischen Liebeslebens im Alter-
tum. Es soll vorgekommen sein, daß sogar regel-
rechte Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts
eingegangen wurden; eine Tatsache, die keineswegs
für eine besondere seelische Veranlagung spricht, son-
dern lediglich beweist, daß das Laster, dem kein
energischer Damm gesetzt wird, sich bis ins Unge-
heuerliche auszuwachsen pflegt.
Auch im Altertum ist die Notwendigkeit, das Laster
durch schwere Strafen auszurotten, erkannt worden,
mindestens immer dann, wenn sich die Schäden der
um sich greifenden Unnatur mehr und mehr fühlbar
machten. So findet sich bei Döpler folgende Stelle:
„Pausanias, ein schöner Jüngling ward an des Königs
Philippi in Macedonien Hoff wieder seinen Willen
von Attalo zur Sodomiterey einsten mißbrauchet.
Als er es nun dem König klagte, und umb Bestrafung
bath, auch solches offt wiederholete, aber ausge-
lachet, und Attalus immer größer und größer bey
Hoff wurde, ergrimmete Pausanias und erstach Phi-
lippum, als er ihn einsten allein antraff, daß er nicht
Justitiam administrieren wolte. Pausanias ward zwar
ergriffen und stranguliret, die Königliche Wittbe Olym-
pia aber ließ ihm eine güldene Krön aufsetzen, und
mit großem Pomp begraben."
— 63 —
Der gekrönte Königsmörder hat zwar nur sein
eigenes Interesse vertreten, als er den König für die
verweigerte Gerechtigkeit so energisch strafte; aber
die Geschichte ist doch sehr lehrreich. Schon daraus,
daß der schöne Jüngling Pausanias eine Bestrafung
des Attalus verlangte, ergibt sich zwanglos, daß dessen
Treiben strafwürdig erscheinen mußte, denn wäre
sein Tun allgemein als einwandfrei betrachtet worden,
so hätte auch Pausanias nicht auf den Gedanken ver-
fallen können, daß er eine Strafe verlangen dürfe, da
man eine solche doch nur für etwas Strafbares und
keineswegs für etwas durchaus Erlaubtes beanspruchen
darf. Daß nun der König nicht strafte, sondern den
Ankläger einfach auslachte, das zeigt weiter nichts,
als daß er das Recht äußerst willkürlich anwendete)
und seinen Günstling schützte. Dafür wendete dann
Pausanias eine Radikalkur an, die zwar den König,
später aber auch ihn selbst vernichtete. Nun hat die
Königin den Mörder ihres Mannes gekrönt, ein Zeichen,
daß sie die Gerechtigkeit weit höher schätzte, als der
ermordete König. Zwar konnte sie, wieder aus Hang
zur Gerechtigkeit, den Königsmörder nicht vor der
Todesstrafe schützen; daß sie ihn aber krönte und
krönen durfte, das läßt sicherlich darauf schließen, daß
auch andere das Verlangen des Pausanias nach einer
Sühne für durchaus berechtigt hielten.
Sittliche Verwahrlosung wird niemals das Gefühl
für Recht und Gerechtigkeit im Menschenherzen
stärken, deshalb werden entsittlichte Könige auch nie-
mals gerecht regieren, sondern die Grausamkeit, die
eine Folge ihrer unstillbaren Lüsternheit ist, auch stets
mit großer Willkür anwenden. Das ist wieder eine
— 64 —
Erklärung für die entsetzliche Tyrannei orientalischer
Herrscher.
Ausnahmen hat es aber auch da gegeben, und
die alte Geschichte des Orients weist auch Züge des
Liebeslebens auf, die so sinnig und zart anmuten, wie
der Frühlingstraum eines deutschen Gemüts. Ich will
mich hier auf die Geschichte der Stratonike beschrän-
ken, die allerdings in ihrem ganzen Verlauf absolut
nicht deutsch sondern echt orientalisch ist.
Seleukos I., dem die Geschichte den Ehrennamen
„Nikator" beigelegt hat, was so viel heißt wie der
Siegreiche, beherrschte etwa 300 Jahre vor Chr. das
gewaltige Syrische Reich. Seleukos hat gelebt und
geliebt, wie dies damals bei den Großen des Orients
Sitte war. Noch im Alter von 60 Jahren führte er
die jugendliche Tochter seines Verbündeten Demetrius
Poliorketes, die schöne Stratonike als Gattin heim.
Da diese für den Lebensherbst des Greises viel weniger
paßte als für einen Jüngling, und da Seleukos einen
erwachsenen Sohn Antiochus besaß, der noch nicht
das Glück der Ehe gekostet hatte, war es schließlich
gerade kein Wunder, daß Antiochus der Meinung war,
Stratonike sei als Gattin unendlich begehrenswerter
denn als Stiefmutter. Antiochus verliebte sich sterblich
aber hoffnungslos in die schöne Stratonike, die ihm
zwar mit aller Freundlichkeit begegnete, aber selbst
nicht auf den Gedanken verfiel, daß ihr Stiefsohn ihr
eine andere Neigung entgegenbringen könne als das Ge-
fühl liebevoller Verwandtenneigung. Antiochus wußte
sehr wohl, daß seine Neigung völlig aussichtslos war,
und es ging ihm so ähnlich wie den Männern vom
Stamme Asra, welche sterben, wenn sie lieben. An-
— 65 —
tiochus siechte auch wirklich an seiner hoffnungslosen
Liebe dahin und wurde so leidend, daß sein Vater
bange Sorgen seinetwegen fühlte.
Der alte Seleukos liebte seinen Sohn, der ihm
in der Regierung folgen sollte, und zerbrach sich den
Kopf über die schleichende Krankheit, für die sich
in der Tat keine Erklärung finden ließ. Seleukos
wendete sich deshalb an seinen alten, erfahrenen Arzt
Erasitratos, der den Sohn eingehend prüft und gar
bald herausfindet, daß nicht ein körperliches, sondern
ein seelisches Leiden bestehen müsse. Er vermutete
eine heimliche Liebe, war aber keineswegs in der Lage,
auch nur die mindeste Vermutung auszusprechen, wem
sie gelten könne. Der alte Erasitratos, der zwar nicht
den Doktortitel führte und auch nicht den Beweis
dafür erbringen konnte, daß er ein erfolgreiches Uni-
versitätsstudium hinter sich und das Staatsexamen be-
standen habe, der also nach heutigen „aufgeklärteren"
Begriffen nur ein elender Kurpfuscher sein konnte,
war in Wirklichkeit ein Arzt, wie er sein soll, also
ein Mann, der nicht allein seine Wissenschaft gar
trefflich beherrschte, sondern es auch verstand, seine
Patienten mit Menschenkenntnis und Wohlwollen zu
beobachten und sich dadurch ein klares Bild ihrer
Leiden zu verschaffen. Er war viel zu klug und er-
fahren, als daß er den Antiochus durch eine Anspielung
auf dessen heimliche Liebe härte aushorchen wollen;
er gab sich vielmehr den Anschein, als stehe er dem
Leiden völlig ratlos gegenüber. Da Antiochus immer
leidender in seinem Bette lag, wußte Erasitratos es
zu veranlassen, daß der ganze Hofstaat, d. h. alle
weiblichen Schönheiten am Hofe des Seleukos einzeln
5
— 66 —
nach einander durch das Zimmer gehen mußten.
Seleukos litt gewiß nicht an Geschmacklosigkeit, und
seiner Gattinnen und Huldinnen, die wohl auf das
sehnende Herz eines Jünglings ihren Zauber ausüben
konnten, waren nicht wenige, denn der alte Mann
sorgte dafür, daß er stets jugendlichen Ersatz erhielt.
Erasitratos hielt nun, während die Schönheiten
am Bette seines Patienten langsam vorüberschritten,
dessen Puls und beobachtete den Kranken mit aller
Schärfe. Nichts deutete aber darauf hin, daß Antiochus
gegen irgend eine der Vorüberwandelnden auch nur
die geringste Neigung oder Aufmerksamkeit fühle; er
blieb so gleichgiltig, als würden leblose Gegenstände
an ihm vorübergeführt, die noch nicht einmal durch
ihren Anblick ein geringes Interesse erregen könnten.
Schon gab der erfahrene Arzt die Hoffnung, einen
Anhalt für die Richtigkeit seiner Diagnose zu finden,
auf. Da nahte die jugendliche Stratonike. Der Kranke
zuckte zusammen, sein leidendes Antlitz wurde von
Purpurglut Übergossen, und der Arzt fühlte die Pulse
in fieberhafter Erregung schlagen. Selbst einem we-
niger erfahrenen Beobachter wäre wohl nicht ent-
gangen, daß Stratonike dem Herzen des Kranken nahe-
stehen mußte. Es war ja nun allerdings für den Arzt
recht erfreulich, zu sehen, daß er sich über das Leiden
des Kranken nicht getäuscht hatte; aber für den
Menschenfreund war dieser Roman doch eine ver-
teufelt dumme Geschichte, denn daß hier nicht viel
zu helfen war, erschien auf den ersten Blick sicher.
Wie sollte die Liebe des Sohnes zu der schönsten
Gattin seines Vaters hoffnungsvoll sein?
Erasitratos war aber, wie gesagt, ein Arzt, wie
— 67 —
er sein soll; deshalb gab er die Hoffnung doch nicht
auf, denn wo das Latein des Alltagslebens zu Ende
war, da konnte doch vielleicht ein ungewöhnlich guter
Gedanke retten. Der Arzt suchte den alten König
auf und sagte ihm: „O Seleukos, ich kenne das Leiden
deines Sohnes wohl; aber ich kann ihm leider nicht
helfen !" Das war für Seleukos eine schlimme Bot-
schaft, und es läßt sich wohl denken, daß ein so
gewaltiger Herrscher nicht einfach ergebungsvoll das
tragische Schicksal, das ihm den berufenen Thron-
folger rauben sollte, ertragen möchte.
Er drang in den Arzt, ihm doch das schleichende
Leiden seines Sohnes zu nennen und lachte, als ihm
Erasitratos sagte: „Dein Sohn ist verliebt." „Was",
rief er aus, „das soll eine Krankheit sein? Ich möchte
das Weib sehen, das es wagte, die Werbung eines
Königssohnes abzulehnen !" „Und doch, mein König,
ist die Sache hoffnungslos, denn dein Sohn liebt die
Gattin eines Andern!" „Nun," meinte der König, „so
mag ihm der Andere die Gattin überlassen; das ist
doch furchtbar einfach ! Wer ist denn der Andere."
— Der Arzt tat verlegen und meinte dann „der Andere
bin ich selbst! Dein Sohn hat mir gestanden, daß
er meine schönste, jüngste Gattin liebe, und daß er
sterben müsse, wenn er sie nicht bekomme!"
Der König runzelte die Stirn und sagte: „Mein
Sohn darf nicht sterben, das weißt du, also rette ihn !"
„O," erwiderte der Arzt, „das würdest du selbst für
deinen Sohn nicht tun." Seleukos aber fuhr grimmig
auf: „Das würde ich ohne Bedenken tun, ja, ich
würde noch viel mehr tun; ich würde außer der Frau
mein ganzes Königreich hingeben, wenn ich damit den
5*
— 68 —
Sohn retten könnte!" „Ist das ein Königswort, das
du auf jeden Fall halten würdest?" „Wagst du es,
daran zu zweifeln?" „Nun wohl, erhabener Herrscher,
da du denn zu solchen Opfern mit Freuden bereit
bist, so bringe sie und rette deinen Sohn, denn nicht
meine Frau ist es, die er liebt, sondern deine jüngste
Gattin Stratonike!"
Es hätte vielleicht einiges kulturhistorisches
Interesse gehabt, wenn Erasitratos nicht nur ein treff-
licher Arzt und Menschenkenner, sondern auch ein
geübter Photograph gewesen wäre, der das Gesicht,
das der edle Seleukos bei dieser Eröffnung zog, in
einer wohlgelungenen Momentaufnahme festgehalten
hätte. Da diese schöne Kunst aber leider damals
selbst die klügsten Gelehrten noch nicht verstanden,
müssen wir uns die Überraschung des großen Syrer-
königs schon selbst ausmalen und uns mit der ge-
schichtlichen Tatsache begnügen, daß Seleukos sein
Wort wirklich hielt. Er gab dem Sohne seine schönste
Gattin und trat ihm das halbe Königreich ab. Antiochus
wurde, als er dies vernahm, noch einmal purpurrot;
es war diesmal vor Freude, und da offenbar auch
Stratonike mit diesem Tausche außerordentlich zu-
frieden war, wurde Antiochus sehr schnell gesund.
Es läßt sich nicht verkennen, daß diese keusche
Liebe, wenn man sie durchaus so nennen will, etwas
ungemein Rührendes enthält, das keineswegs etwa
deutsches Gemüt verrät, sondern gerade im Orient,
wo das Gemütsleben neben der starken Sinnlichkeit
vorherrscht und deshalb den Orientalen so oft als
unberechenbar erscheinen läßt, keineswegs selten ist.
Ich möchte fast sagen, die romantische Zeit Deutsch-
— 69 —
lands, in der die führenden Geister stark „in Ge-
fühl machten", so daß sich die Freunde küßten wie
Pensionsfreundinnen und ständig in einem Meere von
rührseligen Tränen schwammen, freilich alles ohne daß
man dabei auf den modern auffrisierten Gedanken
homosexueller Seelenverwandtschaft verfallen wäre, ist
viel eher dem Orient abgelauscht, als daß man die
Rührgeschichte orientalischen Liebeslebens auf deut-
sches Gemütskonto zu setzen berechtigt wäre, denn
der Orient ist älter in seiner Geschichte, älter in seiner
Kultur, die zum großen Teile schon versunken und
halbvergessen war, als deutsche Kultur die Kinder-
schuhe anzog. Man gefiel sich übrigens auch in der
deutschen Sturm- und Drangperiode des überschäu-
menden Gemütslebens darin, die orientalischen Liebes-
lieder und Liebeslegenden ins Deutsche zu übertragen,
wie die schon angedeutete Legende von der Liebe der
Männer vom Stamme der Asra, die durch Heine bei
uns heimisch und dann auch musikalisch ausgebeutet
wurde. Die Asra, die übrigens korrekter Banu Udsra
oder Banu Odsra heißen, sind ein Araberstamm, der
in Südarabien hauste und besonders durch seine
schwärmerischen Liebesoden bekannt ist, wenn er auch
ganz bestimmt ebenso wenig wie die übrigen Araber-
stämme, auf die ich noch etwas eingehender zurück-
kommen werde, an der Liebe seiner männlichen Mit-
glieder ausgestorben ist.
Der echt orientalische Charakter der Seleukos-
Geschichte tritt darin zu Tage, daß einmal Seleukos
noch im Alter von 60 Jahren seine Frauen um die
begehrenswertesten Töchter anderer Fürsten oder auch
Nichtfürsten vermehrt, daß er aber die Gattin, mit der
— 70 —
er die Freuden der Ehe genossen hat, einfach dem
Sohne überläßt, und daß Stratonike überhaupt nicht
gefragt wird, wie sie über diese sonderbare Meta-
morphose ihres Liebes- und Ehelebens denkt. Nach
unseren Auffassungen wäre eine solche friedliche Lö-
sung des Konflikts überhaupt nicht möglich gewesen.
Don Carlos, dessen Liebesleid uns Schiller in seiner
unvergänglichen Bühnendichtung schildert, befand sich
ja in ähnlicher Situation wie Antiochus; aber wie
wesentlich weichen die Lösungen beider Irrungen und
Wirrungen voneinander ab. Abendland und Morgen-
land. Daß man es im Orient nicht so genau mit den
Heiraten nahm, wenigstens nicht, wenn ein Herrscher
als Beteiligter in Frage kam, ist ja bekannt; wir finden
dafür sogar in der Bibel nicht wenige Beispiele, z. B.
in der Geschichte Johannes des Täufers, die uns in
der „Salome" möglichst lebenswahr auf die Opern-
bühne gebracht zu haben, das nicht unangefochtene
Verdienst Richard Strauß' ist, in der Geschichte des
Königs David und noch an anderen Stellen. Es ist
bei den Völkern des Orients gar nicht so selten im
Altertum vorgekommen, daß ein Weib nacheinander die
Ehe mit dem Vater und dem Sohne einging. Die
Ehehinderungsgründe, die wir als etwas Selbstver-
ständliches betrachten, kannte man im orientalischen
Altertume zum großen Teile nicht, und es gibt ja
auch heute noch orientalische Völker, deren Ansichten
in diesem Punkte sehr erheblich von den unsrigen ab-
weichen.
Geschwisterehen waren ebenfalls keineswegs
selten, sie kommen sogar in den Mythologien sehr,
sehr oft vor, und die Mythologien sind ja in der
— 71 —
Regel die besten Spiegelbilder alter Kulturen und
Moralanschauungen, weil die Völker sich die Götter ge-
nau so schufen, wie sie sie brauchten und verstanden.
Besonders bei den Persern, Assyrern, Oalatern und
Ägyptern ist es nichts Ungewöhnliches gewesen, daß
Männer ihre Schwestern, ja selbst ihre Mütter oder
Töchter zur Gattin machten; diese letztere Eheart
wird beispielsweise auch dem Artaxerxes nachgesagt.
Selbst bei den Lacedämoniern, diedoch einen ganzanderen
Menschenschlag darstellten als die meisten Orientalen,
war es Brauch, daß ein Mann dem andern seine Frau
borgte, damit dieser für Nachkommen sorgte. Es
ist das offenbar etwas ganz anderes gewesen als die
Eheh elferschaft unseres alten Bauernrechts. Diese war
nur dann erlaubt, wenn der eigene Mann impotent
war; bei den Spartanern aber ist auch ein Austausch
der Frauen vorgekommen, so daß also nicht wegen
der Impotenz des einen Mannes der andere einspringen
mußte, sondern es hat wohl das alte Sprichwort
„Variatio delectat", den Ausschlag gegeben. Freilich
mag auch eine Impotenz das Ausleihen der Frauen
begründet haben. Vorgekommen sind solche Frauen-
austausche auch bei den Römern und den Athenern.
Herr Dr. Joh. Philipp Pfeiffer (Antiq. Graec. Lib. 4.
Kap. 3, Pag. 602) behauptet, daß selbst Sokrates sich
dieser Sitte angeschlossen und seine böse Xanthippe
ab und zu verborgt habe. Sokrates hat in diesem
Falle wirklich als Weiser gehandelt, denn die Xanthippe
läßt es viel eher begreiflich erscheinen, daß der gute
alte Sokrates sie gern mindestens zeitweilig los sein
wollte, als daß ein Anderer wünschte, sie zu besitzen.
Herr Doktor Pfeiffer führt auch an, daß Sokrates
— 72 —
zwei Gattinen besessen habe. Das trifft übrigens
tatsächlich zu; aber der Wortlaut der Pfeifferschen
Ausführungen läßt vermuten, daß er auf ein anderes
Verhältnis hindeuten wollte: offenbar hat er da
den alten griechischen Brauch nicht berücksichtigt,
nach dem die Gattin das Haus leitete und die Kinder
zur Welt brachte, während der Herr Gemahl noch
außer dem Hause eine Geliebte hatte, die ihn geistig
fördern sollte. Geliebte ist freilich nicht einmal der
richtige Ausdruck, denn die „Freundinnen" waren in
der Regel etwas anderes; im schlechten Sinne das
Wort Geliebte verstanden, trifft es über das Ziel weit
hinaus. Im alten Griechenland nannte man diese
Damen Hetären. Das ist aber auch nur ein Aus-
druck, denn Hetärie ist durchaus nicht mit Prosti-
tution usw. äquivalent, sondern bedeutet nichts als
einen Verein, ein Freundschaftsbündnis, und wenn
man in der Ethnologie Hetärismus für Gruppenehe
braucht, so ist das absolut nicht durch den eigent-
lichen Sinn des Wortes, der nichts Sexuelles darstellt,
gerechtfertigt.
Hetären war wohl auch ein Kunstausdruck, mit
dem man ein Verhältnis beschönigen wollte, das zwar
an sich nicht als entehrend galt, doch immerhin nicht
gerade der Harmlosigkeit ein Ehrenzeugnis ausstellte.
Die Hetären verstanden es meisterhaft, den lebens-
lustigen Männern gründlich die Taschen zu leeren;
aber sie unterschieden sich doch wesentlich von unseren
heutigen Prostituierten, die diese Kunst nicht selten
mit derselben Virtuosität betreiben, die aber doch nie-
mals das sein werden, was die Hetäre Griechenlands
war, deren Niveau noch am nächsten dem einer
— 73 —
Maitresse steht, wie sie an deutschen Fürstenhöfen
„regierten", nur mit dem Unterschied, daß die
Maitresse, wenigstens offiziell, nur einem Manne ge-
hörte, während die Hetären viele „Freunde" besaßen,
die sich in die Ehre teilten, für ihr Wohlergehen zu
sorgen. Erklärlich wird die Institution des Hetären-
wesens ziemlich leicht, wenn man erwägt, welche
niedrige Stufe die griechische Frau in der Gesellschaft
und Familie einnahm und der Bildung wegen auch nur
einnehmen konnte, denn die Sitte erlaubte es einfach
nicht, daß die Frau mehr hervortrat; das ist übrigens
echt orientalisch.
.Wenn nun ein Weib die Sitte nicht achtete, sondern
sich geistig glänzend ausbildete und auch sonst über
alle den Frauen gezogene Schranken kühn hinweg-
voltigierte, so war es sehr einfach und selbstverständ-
lich, daß sie den hochgebildeten, heiteren und lebens-
lustigen Männern viel mehr ein Magnet sein mußte,
als daheim die Gattin, die das Haus versorgen und
die Nachkommen zur Welt bringen mußte, im übrigen
aber nur eine Null war. Die Hetären konnten in der
Tat eine geistige Anregung bieten, die der sinnlich
veranlagte Mensch, der trotzdem auf einer hohen
Kulturstufe steht, unendlich höher schätzt als der
Durchschnittsmensch für möglich hält. Bei den Grie-
chen war der Verkehr mit den Hetären so wenig
eine Schande oder auch nur bedenklich, daß die
größten Philosophen offen und frei sich solchem Ver-
kehr hingaben, und es hat Hetären gegeben, die heute
noch bekannt sind, nicht dadurch, daß sie fürstliche
Reichtümer erwarben, sondern hauptsächlich dadurch,
daß sie dauernd die geistige Elite Griechenlands in ihre
— 74 —
Netze zu fesseln wußten. Das Hetärenwesen ist ein
äußerst wichtiger Faktor im Liebesleben des griechi-
schen Altertums, und des orientalischen Altertums!
überhaupt. Daß die Hetären nicht bloß geistige An-
regung gaben, sondern daß sie nebenbei auch noch
den sexuellen Begierden dienten und in letzter Be-
ziehung unsittliche Dirnen waren, das ergibt sich aus
dem ganzen Charakter der Orientalen, die ja an sich
über den sexuellen Verkehr ganz andere und viel
urwüchsigere, wenn man will, auch viel natürlichere
Ansichten hegten.
So wurde bei vielen Völkern des Altertums,
namentlich im Orient gar nichts darin gefunden, wenn
die Mädchen sexuellen Verkehr suchten. Tiraquell
berichtet, daß es bei den Illyriern, den Phöniziern,
Thebanern und Syrakusanern usw. durchaus üblich ge-
wesen sei, Frauen und Töchter den sexuellen Verkehr
mit anderen Männern nach Herzenslust pflegen zu
lassen. War das aber allgemeine Sitte, dann kann
natürlich ein solcher Verkehr auch im Einzelfalle die
Ehre nicht geschädigt haben, denn als entehrend und
schändend kann doch immer nur das gelten, was nicht
erlaubt ist und deshalb, wenn auch nicht gesetzlich,
so doch wenigstens moralisch verboten ist. Wie es
scheint, folgten aber nicht überall die Weiber nur
ihren sinnlichen Begierden, wenn sie einen Verkehr
suchten, der nach heutigen und überhaupt späteren
Anschauungen als unsittlich galt, sondern sie gaben
sich diesem Vergnügen aus kluger Berechnung hin,
um so viel wie möglich Geld zu gewinnen.
Besonders stand die Insel Cypern in dem Rufe,
daß dort die Jungfrauen um Geld stets zu haben seien,
— 75 —
daß diese sogar eifrigst jede Gelegenheit suchten, durch
die Gestattung des sexuellen Verkehrs Geld zu er-
werben. Es soll geradezu Sitte dort gewesen sein, daß
die Jungfrauen „so zum heyrathen tüchtig, sich an
das Ufer des Meeres verfüget und denen anlandenden
Fremden ihre Jungferschaft verkaufft, und so lange
Handel und Gewerbe getrieben, biss sie ein gut stück
Geld zur Morgen-Gabe verdienet hatten. (Justinus
lib. 18, Kap. 5.) Daher das Land der Heydnischen
Hurerey Göttin Venen gewidmet gewesen, welche
auch desswegen Dea Cypria oder potens Cypri ge-
nennet worden. (Horat. lib. 1, ad. 3.) Solches ist
bei den Scytikis und Corsis gleichfalls üblich ge-
wesen. (Tiraq.)"
Es ist dies eigentlich ein Bild, das auf große
Einfalt der Sitten schließen läßt. Man nahm damals
das Natürliche natürlich und wußte das Angenehme
mit dem Nützlichen zu verbinden. Da nun in jenen
Gegenden ein schwunghafter Handel getrieben wurde,
der reiche Kaufleute in Massen herbeiführte, da aber
andrerseits diese Kaufleute immer geneigt waren, die
Gelegenheit zu einem interessanten Liebesabenteur zu
benutzen, ist es fast selbstverständlich, daß die Jung-
frauen keine törichten Jungfrauen waren, weil sie ganz
sicher stets auf ihre Rechnung gekommen sind. Wenn
nun auch die „anlandenden Fremden" sicher eine
reiche Anzahl von Mädchen vorgefunden haben, so
daß sie nicht in Verlegenheit zu kommen brauchten,
wenn sie außer einem guten Handelsgeschäft ein noch
besseres Liebesabenteuer suchten, so werden doch die
liebenden Weiber wohl auf Preise gehalten haben,
einmal wollten sie ja für ihre zukünftige Ehe eine mög-
— 76 —
liehst große Morgengabe haben — hier ist der Be-
griff der Morgengabe offenbar satirisch angewendet
worden — , und zweitens wußten sie recht gut, daß
die Fremden in hohem Grade zahlungsfähig waren,
diese besonders gute Eigenschaft der Abenteur Suchen-
den werden sie sich wohl zu nutze gemacht haben.
Die zukünftigen Ehemänner dieser geschäftsgewandten
jungen Damen müssen allerdings an die Tugend und
Reinheit ihrer Gattinnen keine besonders großen An-
forderungen gestellt haben, denn sie wußten doch
ganz genau, auf welchem mehr praktischem als sitt-
lichem Wege ihre Holden die Reichtümer erworben
hatten; vielleicht hat ein Bräutigam auch die Ehe
möglichst lange hinausgeschoben, damit der Schorn-
stein des eigenen Haushalts desto besser rauchen
konnte, wenn der schnöde Mammon in reichlicher
Fülle vorhanden war. Geld riecht nicht. Im übrigen
beweist diese Mitteilung nichts, als daß das Weib
keine dominierende Stellung einnahm, es war gesucht
und begehrt als Mittel zum Zweck, nicht aber als
gleichberechtigte Persönlichkeit.
Auch da, wo das Weib den Gatten wählte, statt
von ihm gewählt zu werden, ist die Stellung der
Frau kaum eine bessere gewesen. Daß solche „Damen-
wahlen" in verschiedenen Gegenden Sitte waren, be-
richtet Athenäus: „Bey den Messiliensern freieten die
Jungfern um die jungen Gesellen, und wenn deren
mehr waren, so auch affection zu ihnen hatten, reichten
sie nach dem Essen denenjenigen, so ihnen am besten
gefiehl, eine Schale voll Wasser, und dem dieses wider-
fuhr, war hernach der rechte Bräutigam." Es ist
nicht nachzuprüfen, ob diese Wahl, wenn die Sache
— 77 —
wirklich so gehandhabt wurde, immer zur Ehe ge-
führt hat; man wird das aber wohl kaum annehmen
dürfen, denn dazu wäre die Männerwelt wohl schwer-
lich zu bewegen gewesen, weil ja sonst jeder ohne
Widerspruch gezwungen gewesen wäre, die zu hei-
raten, die ihm das Wasser reichte. Ob nicht auch
das Sprichwort „es kann mir jemand nicht das Wasser
reichen", auf diese alte Sitte zurückgeführt werden
darf? Man nimmt meist allerdings einen anderen Ur-
sprung dieser Redensart an.
Die Bräuche, durch die der Ehestand geschlossen
oder doch dessen Schließung wenigstens angebahnt
wurde, sind allerdings recht verschieden und teil-
weise außerordentlich absurde gewesen. Da, wo die
Vielweiberei herrschte, wie fast überall im Orient, ist
es den Männern in der Regel nicht so wichtig gewesen,
welche Holde sie als Gattin heimführen konnten, denn
einmal waren die Männer in der angenehmen Lage,
ein Weib, das ihnen nicht gefiel, recht schnell wieder
los zu werden, und ferner konnten sie auch stets eine
neue Gefährtin, für die sie mehr empfanden, zu den
übrigen hinzunehmen. Die Stelle über die Massilienser
betont ja nun freilich, daß die Töchter des Landes
unter den jungen Gesellen die Wahl durch die Über-
reichung der Schale Wasser getroffen hätten. Unter
jungen Gesellen ist dabei ein lediger Mann zu ver-
stehen, den wir ja auch bei uns noch in der Regel
als einen Junggesellen bezeichnen; aber man darf
derartige unkontrollierbare Geschichten schließlich nicht
allzu genau nach dem Buchstaben nehmen. Gemeint
sind nicht etwa die Massilienser, die im 4. Jahrhundert
eine Sekte in Syrien bildeten, wohl auch Eucheten,
— 78 —
Euphemiten, Coelicolae hießen und halb Heiden, halb
Christen waren, sondern die Semipelagianer, die nach
ihrer Hauptstadt Massilia benannt wurden. Diese
Semipelagianer waren ebenfalls eine Sekte, die 425
n. Chr. gegründet wurde und lehrte, daß eine mensch-
liche Freiheit bestehe, die zwar durch die Sünde der
ersten Menschen geschwächt aber nicht aufgehoben
sei. Diese Sektirer gaben sich alle Mühe, durch be-
sondere Bräuche sich von anderen Leuten zu unter-
scheiden. Es ist deshalb die Möglichkeit, daß sie es
den Weibern gestatteten, den zukünftigen Gatten zu
wählen, keineswegs ausgeschlossen, obwohl für das
orientalische Liebesleben diese Sekte, wie überhaupt
alle christlichen Orientalen nicht viel beweisen, weil
sie stets nur Ausnahmen von dem, was ganz allge-
meiner Brauch war, gelten ließen. Ich habe gleich-
wohl geglaubt, auch diese Mitteilung aus alter Zeit
nicht unerwähnt lassen zu dürfen, mag sie selbst für
das orientalische Leben des Altertums wenig oder nichts
beweisen.
Es hat aber auch bei anderen Völkern offenbar
höchst eigenartige Bräuche gegeben, durch die man
versuchte, alle Mädchen an den Mann zu bringen
und auch den Männern eine Frau zu verschaffen. So
lese ich bei einem alten Schriftsteller, der aus dritter
Hand geschöpft hat und den Born seiner Weisheit
in Plutarchos nachweist, das Folgende: „Es ist auch
eine Arth Leuthe, Dapsolyber genennet, gefunden
worden, bey welchen diese Närrische Gewohnheit
gewesen, daß zu einer gewissen Zeit des Jahres sich
diejenigen Personen, so heyrathen wollen an einen
finstern Orth versamelen müssen, und zwar die
— 79 —
jungen Gesellen besonders, die Weiber und Jung-
frauen auch besonders. Wenn sie nun alle beysammen
gewesen, hat man die Lichter ausgeleschet, und beyde
Hauffen zusammen belassen, da nun Männer und
Weiber also durcheinander gelauffen, hat ein jeder
eins erwischt, und was einer in demselben Gemenge
vor eine erhaschet, sie sey schön oder heßlich, jung
oder alt, gut oder böse gewesen, hat er auch müssen
behalten, und also sind die heßlichen in der Summa
mit verthan worden."
Die Ehe ist zwar sonst auch ein Lotteriespiel, bei
dem jeder in der Regel behalten muß, was er er-
haschet; aber bei den Dapsolybern ist die Sache doch
noch erheblich anders gewesen. Ich muß allerdings
bekennen, daß ich über die Dapsolyber außerordent-
lich wenig unterrichtet bin. Es ist deshalb auch nicht
zu bestimmen, ob das, was von diesen Leuten als
eine „Närrische Gewohnheit" gesagt wird, wirklich
korrekt und wahrheitsgemäß geschildert wird, denn
erstens sind an und für sich bei der Kritik fremder
Bräuche den Irrtümern und Mißverständnissen Tür und
Tor geöffnet, und zweitens kann man da, wo erwiesen
Übersetzungen aus fremden Quellen vorliegen, meist
annehmen, daß auch bei der Übersetzung noch Einzel-
heiten so unrichtig übertragen werden, daß zu den
alten Fehlern neue hinzukommen. Ist doch selbst die
Bibel durch verschiedene Übersetzungsfehler zum Teile
in ihrem Inhalt wesentlich verändert worden, einmal
weil für die morgenländischen Worte den abendländi-
schen Übersetzungen zum Teil die richtigen Begriffe
fehlten, und schließlich auch noch, weil derartige Fehler
bei Übersetzungen an sich fast natürlich sind. Nimmt
— 80 —
man aber an, daß alles, was über die Dapsolyber
gesagt ist, völlig stimmt, und „in dubio pro reo",
so besagt die Stelle, daß die Dapsolyber jedenfalls
in Polygamie gelebt haben. Es ist da zwischen Männern
und jungen Gesellen, und zwischen Weibern und
Jungfrauen ausdrücklich unterschieden worden, d. h.
es haben Verheiratete und Ledige sich an der „Närri-
schen Gewohnheit" beteiligt. Nach Lage der Sache
ist es natürlich völlig ausgeschlossen gewesen, daß
eine einzige der beteiligten Personen auch nur den
leisesten. Anhalt dafür hatte, ob er eine ledige oder
verheiratete Person erhaschte, denn es ist ja sogar
gesagt, ob jung oder alt, sei nicht vorher festzustellen
gewesen, ehe das Licht wieder angezündet wurde;
da ist es also selbstverständlich auch vorgekommen,
daß ein Ehemann eine Jungfrau, oder ein Junggeselle
eine Frau erhaschte. Was im letztern Falle? Daß
der Verheiratete sich noch eine weitere Frau nahm,
das ist bei der Vielweiberei durchaus nicht auffällig,
sondern selbstverständlich, weil es eben sonst keine
Vielweiberei gegeben hätte. Der Verheiratete, der
an der Ehelotterie teilnahm, ging einfach darauf aus,
seinen Haremsstand um eine weitere Frau zu ver-
größern. Sehr schwierig ist aber die zweite Eventualität
nämlich die, daß die verheiratete Frau, von einem neuen
Manne erhascht wurde. Hier kommt man mit der
Vielweiberei deshalb nicht mehr aus, und man müßte
schon Gruppenehen annehmen, wie sie ja das orien-
talische Altertum tatsächlich gekannt hat, d. h. ein
Mann konnte mehrere Frauen haben, da aber auch
die Frauen mehrere Männer nehmen konnten, mußte
der Mann seine Frauen wieder mit anderen Männern
— 81 —
teilen. Ich halte diese Erklärung jedoch keineswegs
für zutreffend, denn für solche Gemeinschaftsehen hätte
man wahrlich der sonderbaren Ehelotterie nicht be-
durft, und der Schluß des Berichts, daß auf diese
Weise die Häßlichen in der Summa mit vertan worden
seien, würde absolut nicht zu der Geschichte gepaßt
haben; er scheint überhaupt nichts weiter zu sein
als ein witziger Zusatz des Autors, der sicherlich selbst
nicht recht gewußt hat, was er mit der Sache eigentlich
anfangen sollte.
Es gibt aber eine andere Erklärung für die selt-
same Zusammengebung der Paare, nämlich die, daß
es sich überhaupt nicht um Eheschließungen ge-
handelt habe, sondern daß eine gleiche Anzahl von
Männern und Weibern sich lediglich zu dem Zwecke
in den geheimnisvollen Zusammenkunftsraum begeben
haben, um einmal einen Begattungsakt zu vollziehen,
wobei es dann allerdings nicht so wesentlich war,
welche Personen sich zu diesem einmaligen Zwecke
erhaschten. Daß dabei auch die Häßlichen einmal auf
ihre Rechnung kamen, liegt in der Natur der Sache,
und jedenfalls ist das Arrangement das gewesen, daß
nicht nur das Erhaschen, sondern auch die ganze
Orgie sich in dem dunklen Räume abspielte. Daß
dabei jeder die behalten mußte, die er erhaschte, ist
selbstverständlich, wenn man dabei das Behalten nicht
über die Orgie hinaus ausdehnen will, und dazu liegt
doch absolut kein zwingender Grund vor. Es ist
nicht einmal gesagt, ob die einzelne Person über-
haupt erfuhr, mit wem sie die Freuden der Liebe
genossen hatte, denn es kam doch lediglich darauf
an, daß sie Jeder und Jede genoß, die zu diesem
6
— 82 —
Zwecke sich eingefunden hatten. Daß auf solche Weise
auch die Häßlichen ebenso versorgt wurden wie die
Schönen, das war ein Gedanke, der auch bei dieser
Erklärung nur als geistreich und gut bezeichnet werden
kann. Vielleicht war es beabsichtigt, auch dem Schön-
heitsideal Rechnung zu tragen und es der Phantasie
der einzelnen Person zu überlassen, ob sie sich vor-
gaukeln wollte, daß sie mit einem bildschönen Partner
zu tun gehabt habe.
Vielleicht klingt die Erklärung des seltsamen
Brauches, die ich mir hier scheinbar aus den Fingern
gesogen habe, doch allzu kühn und willkürlich, als
daß sie hätte in einem ernsten Buche niedergeschrieben
werden dürfen. Ich habe aber keineswegs meine
Phantasie allzu lebhaft spielen lassen, sondern sehr
eingehend geprüft, ob ähnliche Dinge wie die von
mir geschilderten nicht auch anderwärts vorgekommen
sind, nämlich bei anderen Völkern des orientalischen
Altertums. Ich brauche da faktisch keine Trugschlüsse
gelten zu lassen, denn es sind die unglaublichsten
Dinge in der Tat erwiesen. Es ist dabei noch nicht
einmal die zarte Rücksicht geübt worden, den Raum
zu verdunkeln; man ist allerdings andererseits auch
nicht so berechnend gewesen, die Häßlichen gewissen-
haft zu versorgen, sondern folgte stets nur der augen-
blicklichen Lüsternheit, hielt es dagegen aber auch für
angemessen, natürliche Dinge frei und offen zu treiben.
Im übelsten Rufe, wenn man so sagen darf, standen
wohl die Mastageten oder Massageten. Dieses Volk
lebte in der Gegend des Kaspischen Meeres bis zum
Aralsee und führte in den Steppen ein Nomadenleben.
— 83 —
Diese Nomaden waren aber keineswegs etwa harm-
lose Hirten, sondern gefürchtete rohe Krieger, die für
unbesiegbar galten und jedenfalls auch unbesiegbar
waren, da sie 530 v. Chr. selbst das gewaltige Heer
des sieggewohnten Cyrus vernichteten. Cyrus selbst
soll nach alten Überlieferungen bei den Massageten
umgekommen sein. Dieses rohe und gewaltige Volk
wurde von einer Königin Tomyris beherrscht, und es
ist fast wunderbar, daß solche rauhe Männer, die sicher-
lich keine Feministen waren, sondern im Gegenteil
das Weib sehr gering, lediglich als Werkzeug für ihre
Gelüste und die „Erhaltung der Art" betrachteten,
sich von einem Weibe beherrschen ließen. Die Massa-
geten waren, wie viele Orientalen, Sonnenanbeter; die
Sonne war ihre höchste Gottheit, vor der sich auch
diese wilden Horden in Furcht und Demut beugten
und durch Opfer Gnade und Gunst zu erlangen suchten.
Sie opferten Pferde, die ihnen selbst als sehr wertvoll
galten, und können wohl als eine Type für die Be-
hauptung angeführt werden, daß auch das roheste
Volk auf religiöses Empfinden nicht verzichten kann.
Nur der starke Krieger galt im übrigen etwas bei
diesem Volke; das Weib, das nicht kämpfen konnte,
war naturgemäß nur ein Geschöpf zweiten Ranges,
und es wird berichtet, daß die Weiber selbst diese
Ansicht geteilt und sich deshalb nicht selten ent-
schlossen hätten, es den Männern im Kampfe gleich
zu tun. Vielleicht ließe sich hieraus die Erklärung
dafür finden, daß die Massageten von einer Königin be-
herrscht wurde. Greise duldete man nicht. Sie nützten
nichts im Kriege und halfen nur die Nahrung ver-
mindern. Deshalb war es Brauch, sie zu schlachten
— 84 —
und zu verzehren. So konnten sie wenigstens noch
durch ihren Tod dem Stamme nützen.
Das Abscheulichste war aber das Liebesleben
des arg verrohten Volkes. Eine Ehe, die diesen Namen
auch nur einigermaßen verdient hätte, gab es nicht;
es herrschte vielmehr die unbedingteste Geschlechts-
gemeinschaft. Wo ein Mann ein Weib traf, das ihn
gerade reizte, da legte er die schweren Waffen nieder
und vereinigte sich mit der Holden auf offener Straße.
Ob dieser Akt sich vor einer Anzahl von Zuschauern
vollzog, das galt völlig gleich; es war eine durchaus
natürliche Sache, und niemand war der Ansicht, daß
er etwas so Selbstverständliches vor den Augen der
Andern verbergen müsse. Das war ein Gedanke, den
ja auch einige griechische Philosophen auf Grund reif-
lichen Nachdenkens gefaßt hatten. Man nannte diese
Philosophengruppe deshalb die Cyniker, ein Wort, das
von dem griechischen Namen des Hundes = Küon
gebildet wurde und besagen sollte, daß die Gelehrten
lebten wie die verachteten Hunde, die ja auch für
unrein galten, weil sie auf offener Straße ihren sexuellen
Gefühlen freien Lauf ließen. Bei den Massageten war
aber die Philosophie keineswegs entwickelt; man gab
sich nicht die Mühe, über philosophische Ideen oder
sonstige philosophische Probleme nachzudenken, son-
dern handelte aus natürlicher Roheit. Das ist aber schließ-
lich ebensogut eine Entschuldigung wie ein Vorwurf,
jedenfalls dann eine Entschuldigung, die jene Leute
keineswegs sympathisch erscheinen läßt.
Sicherlich ist ein gewaltiger Unterschied zwischen
den Dapsolybern und den Massageten, aber der Zu-
sammenhang ist doch im Punkte des Liebeslebens
— 85 —
unverkennbar da, daß offenbar bei beiden eine Ge-
schlechtsgemeinschaft bestanden hat, die bei den Massa-
geten dauernd als Normalzustand herrschte, während
sie bei den Dapsolybern, falls ich den oben zitierten
literarischen Erguß richtig interpretiert habe, aber
nur periodisch auftrat. Ich will es auch hier völlig
dahingestellt lassen, was vom Standpunkte der Moral
als das Schlimmere zu gelten hat, denn in der Tat
kann man wohl sagen, daß ein Volk, das eine rechte
Ehe kennt, schlimmer handelt, wenn es diese gelegent-
lich verletzt, als ein Volk, das überhaupt keine andere
Geschlechtsgemeinschaft kennt als die unbedingteste
Gemeinschaftsehe, sofern man dabei das Wort Ehe nun
einmal anwenden will.
Auch die Garamantes, ein großes Volk, das in
Lybien hauste, standen nicht viel höher als das Volk
der Massageten, dafür scheinen sie aber auf einer noch
etwas tieferen Kulturstufe gestanden zu haben. Herodot
berichtet, daß diese Menschen, die im Lande „Pha-
zania" lebten, halb oder selbst ganz Wilde gewesen
seien. Nicht einmal bis zu wirklichen und menschen-
würdigen Wohnräumen hätten sie es gebracht, sondern
sie bewohnten Höhlen und ähnliche Schlupfwinkel und
lebten ähnlich wie die Tiere. Die Kleidung dieser
Leute sei liederlich und schäbig gewesen und über-
haupt kaum als eine wirkliche Kleidung anzusehen.
Es läßt sich schon nach dieser Schilderung nicht an-
nehmen, daß die Eheverhältnisse und das Liebes-
leben der Garamanten besonders hoch entwickelt ge-
wesen seien, denn je höher die Kultur, desto idealer
pflegt auch das Liebesleben zu sein. Nach Tiraquell
gab es bei den Garamanten nur eine Gruppenehe,
— 86 —
d. h. Männer und Weiber lebten untereinander in Ge-
meinschaft. Ich kann allerdings nicht sagen, ob die
intimeren Liebesakte sich ebenso öffentlich abgespielt
haben wie bei den Massageten; vielleicht ist es in
dieser Beziehung etwas manierlicher zugegangen, weil
die Garamanten weniger roh und weniger verwildert
waren; aber da die allgemeinste Geschlechtsgemein-
schaft bestand, wird es ja wohl auch etwas anders
zugegangen sein als da, wo Europas übertünchte Höf-
lichkeit sich darüber streitet, ob das, was scham-
verletzend sei, ohne unzüchtig zu sein, doch in Schrift
und Bild von der Öffentlichkeit streng entfernt werden
müsse. Ich meine, die Garamantes werden sich nicht
die Köpfe darüber zerbrochen haben, ob das, was
sie in ihrem Liebesleben mehr oder weniger öffent-
lich taten, unzüchtig oder schamverletzend sei, sondern
sie haben über alle diese Dinge mit der Naivetät ein-
facher Naturmenschen höchst wahrscheinlich — gar
nicht nachgedacht.
Tiraquell hebt noch ein Moment hervor, daß mir
nicht unwesentlich erscheint; nämlich die Familien-
angehörigkeit der einzelnen Personen. Es ist zwar eigent-
lich einleuchtend, daß bei einer absoluten Geschlechts-
gemeinschaft von einer Familie nicht die Rede sein
kann, weil die Familienbildung schon die allgemeine
Geschlechtsgemeinschaft ausschließt; aber es soll auch
bei den Garamantes und bei anderen Völkern des
orientalischen Altertums, auf die ich noch etwas weiter
eingehen will, doch eine Art Vaterrecht gegeben haben.
Zunächst konnte natürlich, wenn ein Weib in die Lage
kam, die Zahl der Stammesmitglieder zu vermehren,
kein Mensch wissen, welchem von den Männern des
— 87 —
ganzen Stammes die Ehre der Vaterschaft zuzubilligen
sei. Man habe, so behauptet Tiraquell, die Kinder bis
zu deren 5 Jahre auf gemeinsame Kosten erzogen
und sie einfach als Angehörige des Stammes betrachtet.
Dann aber habe man Umschau gehalten, ob so ein
Kind etwa einem einzelnen Manne besonders ähnele.
Sei eine solche auffallende Ähnlichkeit festgestellt
worden, dann habe der Mann, der auf diese einfache
Methode als der Vater ermittelt worden sei, sich des
Kindes angenommen und es völlig groß gezogen. Es
ist möglich, daß an dieser Behauptung etwas Wahres
ist, denn eigentlich ist die Methode garnicht so übel.
Würde man sie überall anwenden, um den Vater zu
finden, wo er sich aus bestimmten Gründen nicht
gern finden läßt, weil die Sache zuweilen doch mit
nicht gerade erwünschten Kosten verknüpft ist, so
würde sich vielleicht bei uns jeder Junggeselle, der
moralisch nicht völlig mit dem Joseph übereinstimmt,
den die Geschichte den Keuschen nennt, möglichst
bemühen, sein Exterieur immer und immer wieder zu
verändern, und trotzdem wäre unseren Gerichten noch
die größte Gefahr bereitet, Fehlsprüche abzugeben
und Männer zu Alimenten zu verurteilen, die nichts
weiter verbrochen hätten, als daß sie nach der Ansicht
irgend eines Sachverständigen eine gewisse Ähnlich-
keit mit einem unehelichen Kinde aufzuweisen hätten.
Das würde vielleicht noch schlimmer sein als die Ge-
schichte mit den Schreibsachverständigen, die doch
schon so unendlich oft ihrer unrichtigen Gutachten
überführt worden sind, und gleichwohl kommt es
immer wieder vor, daß Gerichte auf solch ein Gut-
achten hin die Verurteilung selbst unbescholtener Per-
— 88 —
sonen aussprechen. Da hatte Napoleon einen bessern
Blick, als er das Suchen nach dem unehelichen Vater
ein für allemal gesetzlich untersagte. Na, das ist ja
nun aber schließlich Sache der Garamanten gewesen.
Ich will hier noch ein Volk beleuchten, dessen
Herodot (lib. 4, § 123) Erwähnung tut; das Volk
der Giodaner. Diese Völkerschaft lebte in Lybien und
hat wohl mit den bisher besprochenen Völkern das
übereinstimmend gehabt, daß Kultur und Moral eben-
falls auf einer sehr niedrigen Stufe standen. Die
Weiber, die in keiner besonderen Ehe lebten, sondern
für alle Männer gemeinschaftlich da waren, wie auch
jedes Weib wieder Anspruch an alle Männer hatte,
wurden von den Männern auserwählt, und hielten es
für eine große und besondere Ehre, möglichst vielen
Männern so gut zu gefallen, daß diese der Liebe
letzte und liebste Gunst begehrten. Da dieses Viel-
verlangtwerden aber nun einmal die höchste Ehre
war, die einem Weibe widerfahren konnte, war man
bemüht, diese Ehre auch nach Möglichkeit zur Schau
zu tragen, und man verfiel auf eine eigenartige Idee.
Die Weiber trugen zottige Röcke, die wohl aus Pelz-
werk gefertigt gewesen zu sein scheinen. Wenn ein
Mann nun eines Weibes begehrte, machte er ihr
einen deutlich sichtbaren Knoten in den Rock, d. h.,
es wird wohl in das Pelzwerk ein Knoten geschürzt
worden sein, da der Rock selbst zu diesem Zwecke
sich wohl sehr wenig geeignet haben dürfte. An der
Zahl der Knoten ließ sich nun erkennen, welcher
Anzahl von Männern die betreffende Frau den Liebes-
dienst erwiesen hatte. Ich bin allerdings nicht darüber
unterrichtet, ob jeder Mann nur einen Knoten machen
— 89 —
durfte, oder ob es ihm freistand, bei jedem Besuche
einen neuen zu schürzen, nehme aber das letztere
schon deshalb an, weil es ein zu gutes Gedächtnis
verlangt hätte, wäre immer nur ein einziger Knoten
erlaubt gewesen, denn die Männer werden sich doch
schwerlich jedes ihrer Liebesabenteuer genau gemerkt
haben, ebenso wenig aber wohl die Personen, mit
denen sie es erlebt hatten. Es mag nun aber auch da-
bei noch eine hohe Ehre für eine Frau gewesen
sein, einen total mit Knoten übersäeten Rock tragen
zu dürfen, fast so wie bei uns die Männer die zahl-
reichen Orden, die ihre Brust schmücken, mit Stolz
zur Schau tragen, wenn auch nicht wenige davon noch
leichter verdient sind als die Knoten, die den Giodaner-
Frauen in die Röcke geschürzt wurden.
Unter den Völkern, die in Geschlechtsgemeinschaft
lebten, nennen die alten Schriftsteller auch die Brach-
manen. Das macht nun allerdings die Angaben im
allgemeinen zweifelhaft. Über die Massageten und
Garamanter läßt sich ja freilich der Nachweis ihres
absurden Liebeslebens führen; mit den Brachmanen
aber scheint die Sache doch nicht zu stimmen. Diese
wohnten allerdings auch in einer sehr weit vom Ge-
biet der andern entfernten Gegend, und wurden ihrer
Eigenart wegen schon von alten griechischen Schrift-
stellern vielfach erwähnt. Sie sind vor allen Dingen
in Wirklichkeit kein Volk, sondern nur eine Sekte
gewesen, die bei den Hindus in großem Ansehen
stand und es sich auch gewiß nicht leicht werden
ließ, dieses Ansehen zu erringen. Der Weg, der zu
Ruhm und Ehren führte, war für sie etwa derselbe,
den die überspanntesten christlichen Asketen später
— 90 —
wandelten, d. h. sie verbrachten ihre Zeit mit Buß-
übungen. Diese Übungen aber waren nichts als die
furchtbarste Selbstpeinigung. Wer sich die größten
Qualen auferlegte und seinen Leib zermarterte, der
galt als der Größte unter ihnen, und da nach diesem
Ruhme alle trachteten, läßt sich ungefähr ermessen,
welche Leiden sich jeder auferlegte. So etwas hat
die profane Menge stets bewundert; bei den Hindus
war aber die Achtung vor der Heiligkeit der Brach-
manen so gewaltig, daß diese sogar den Herrschern
als Ratgeber stets willkommen waren.
Das hat freilich wohl auch noch eine andere
Ursache gehabt, denn die Brachmanen waren nicht
bloß Asketen in des Wortes grausamster Bedeutung,
sondern sie waren auch gelehrte Philosophen, die aus
den Sternen zu lesen vermochten, was das Geschick
jedem Menschen vorbehielte. Sie waren Astronomen
und mehr wohl noch Astrologen, die die Kunst des
Wahrsagens verstanden und eine religiöse Geheim-
lehre besaßen, die es ihnen allein gestattete, das Licht
der Wahrheit, also die höchste Gottheit, zu sehen.
Die Brachmanen lebten äußerst dürftig, hielten sich
in den Wäldern auf und gingen völlig nackt einher.
Das erregte damals durchaus kein Ärgernis. Wenn
diese Sekte als ein Volk geschildert wird, so liegt
dies wohl daran, daß es trotz des schweren, qual-
vollen und freudearmen Lebens dieser Männer doch
zahllose Mitglieder der Sekte gegeben haben soll.
Die Schüler waren verpflichtet, 37 Jahre der Sekte
anzugehören, und während dieser ganzen Zeit die
Selbstmarter zu betreiben.
Es erscheint danach kaum denkbar, daß auch diese
— 91 —
Leute gemeinsame Weiber gehabt haben sollten, denn
offenbar ist doch bei einem Asketenleben kein Raum
für Weiber und die Freuden der Liebe und Ehe. Es
ist aber gleichwohl von allen, die uns über jene selt-
samen Menschen Kunde bringen, betont, daß die
Brachmanen, wenn sie 37 Jahre „aktiv" gewesen waren,
in eine Art Ruhestand traten, bei dem es ihnen auch
erlaubt war, Weiber zu nehmen. Daß ein 37 jähriger
Peinigungszustand den Männern die Lust zu Liebe
und Ehe nicht zu vertreiben vermochte, das läßt aller-
dings darauf schließen, daß ihre Herzen von recht
dauerhaften und unverwüstlichen Empfindungen beseelt
gewesen sein müssen. Hat nun aber die lange Zeit
des Leidens nicht die sexuellen Regungen zu erdrücken
vermocht, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit oder
doch wenigstens Möglichkeit vorhanden, daß es bei
den „ausgedienten" Sektierern auch eine Weiberge-
meinschaft gegeben haben kann, die jedenfalls nicht
als unsittlich empfunden und gedacht war, sondern
vielleicht nur den Zweck hatte, den Heiligen Nach-
kommen zu sichern. Jedenfalls hat im Altertum weder
die Gelehrsamkeit noch die besondere Heiligkeit in
allen Fällen dahin geführt, die Weibergemeinschaft
als etwas Verwerfliches zu betrachten. Sie resultierte
vielmehr auch bei höher kultivierten Menschen aus
der Stellung der Frau im allgemeinen und teilweise
sogar aus der besonderen Erwägung, daß es sittlicher
und eines ernsten Mannes würdiger sei, sich nicht an
eine bestimmte Frau zu ketten, sondern nur aus
Opportunitätsgründen, d. h. aus Gründen des öffent-
lichen Wohles, dafür zu sorgen, daß das Geschlecht
der Menschen nicht aussterbe. Das war im wesent-
— 92 —
liehen der Gedankengang, der auch griechische Philo-
sophen auf die Theorie brachte, daß eine Weiber-
gemeinschaft eigentlich das würdigste Verhältnis für
den Mann sei. Vielleicht sind die Brachmanen weiter
gegangen und haben diese Theorie zur Praxis erhoben.
Es ist aber wohl auch die Wahrscheinlichkeit, daß
die Berichte des Altertums nicht besonders zuverlässig
waren, nicht zu übersehen. Jedenfalls sind die Brach-
manen des Altertums nichts anderes gewesen als die
Brahmanen, die ja jetzt noch existieren, ihren Lebens-
wandel allerdings im Laufe der Jahrhunderte wesent-
lich geändert haben werden, ebenso wie die Moral-
anschauungen.
Unter den alten Völkern, denen die allgemeine
Geschlechtsgemeinschaft nachgesagt wurde, sind auch
die Troglodyten genannt. Das Wort läßt schon seiner
ursprünglichen Bedeutung nach auf eine nicht gerade
hohe Kulturstufe schließen, denn Troglodyten heißt
eigentlich nichts als Höhlenbewohner; es würde also
auf alle Völker zutreffen, die nicht genügend fortge-
schritten waren, um sich ihre Wohnungen zu erbauen,
die sich deshalb auf Höhlen und ähnliche von der Natur
gelieferte, mietsfreie Behausungen beschränken. In
diesem Allgemeinsinn ist das Wort auch auf eine ganze
Reihe unkultivierter Völker angewendet worden. Wenn
also noch ein Volksstamm besonders als Troglodyten
bezeichnet wurde, so beweist dies, daß dieser Stamm
erst recht als unkultiviert galt. Das war auch durch-
aus zutreffend. Das Land Troglodytica, das diese
Höhlenmenschen beherbergte, zog sich an der Abes-
synischen Küste hin. Das Volk war halbverwildert,
und es ist wohl kaum zu bestreiten, daß dort wirk-
- 93 -
lieh die Geschlechtsgemeinschaft allgemein herrschte.
Jedenfalls hat es dann auch keine gesonderten Höhlen-
wohnungen gegeben, sondern wenn ein solcher Schlupf-
winkel gefunden wurde, stand er allen zur Verfügung, und
in diesem Loche erfreute sich die Gesellschaft ihres
Lebens und ihrer Liebe.
Nicht viel besser waren die Tyrrhener oder
Tyrsaner, die geschichtlich schon vor dem trojani-
schen Kriege bekannt waren. Dies Volk war schon
im hohen Altertum von den Nachbarvölkern gehaßt
und befeindet und soll vor dem trojanischen Kriege aus
seiner damaligen Heimat Thessalien vertrieben worden
sein und sich dann nach Attika geflüchtet haben. Auch
dort wurden diese Barbaren nicht geduldet, sondern
überfallen und in alle Welt zerstreut. So gab es denn
zahlreiche Kolonien, besonders auf Lemnos und der
thracischen Küste. Die Tyrrhener waren nicht bloß
wegen ihres wüsten Liebeslebens und ihrer üblen
Sitten verhaßt, sondern teilweise auch gefürchtet, weil
sie das Mein und Dein nicht nur in bezug auf ihre
Weiber nicht zu unterscheiden vermochten, sondern
weil sie diese Rechtsbegriffe auch im allgemeinen nicht
mit genügender Klarheit auseinanderhalten konnten.
Die meisten Kolonien waren verrufene Seeräuber-
nester, die dem griechischen Handel sehr gefährlich
wurden. Die Männer waren kühn bis zur Verwegen-
heit, und da sie das Meer als ihre Heimat betrachteten,
mußten sie natürlich auch als Räuber zur See große
Erfolge erringen können. Wie die gefürchteten Wi-
kinger im Norden unsere deutschen Lande gefährdeten
und sich mit ihren Schiffen dem Laufe der Ströme
folgend auf Raubzüge bis ins Innere des Festlandes
— 94 —
wagten, so waren die Tyrrhener in ihrer kühnen Wild-
heit eine Geißel für den griechischen Handel. Daß
dieses Volk sich nicht an bestimmte Ehegesetze
fesselte, sondern daß alle Männer mit allen Weibern
verkehrten, wie sie gerade Lust hatten, ist gewiß nicht
der schlimmste Vorwurf, der ihnen mit Recht gemacht
werden durfte. Viel auszurichten war ohnehin gegen
die Gesellschaft nicht, die sich im Falle eines Raub-
zuges stets schnell in Sicherheit zu bringen wußte
und den Feinden doch wieder viel zu schaffen machte,
ehe sie recht entdeckt werden konnte. Die Eigen-
art des Landes begünstigte das Seeräuberhandwerk in
hohem Maße. Das Hauptgebirge, der Hämus, bot
viele Schlupfwinkel, und der Scomius, der sich im
Südwesten an dieses Gebirge anschloß und einzelne
Zweige als Vorgebirge bis ins Meer erstreckte, ließ
eine erfolgreiche Überrumpelung von der See her
überhaupt nicht zu, gestattete es vielmehr der See-
räuberflotte, sich zu verbergen und plötzlich über
nahende Feinde herzufallen. Wild wie die Natur,
war auch der Volksstamm, der sie bewohnte und
dort ein Leben führte, das alles andere eher war,
als ein geordnetes und gesittetes Staatsleben.
Ebenso wie die Griechen unter den Troglodyten
Menschen verstanden, die ihnen als entsetzliche Bar-
baren erschienen, weil sie auf so niederer Kultur-
stufe standen, daß sie sich keine Wohnungen bauen
konnten, nannte das hochgebildete Griechenvolk die
unkultivierten Bewohner verschiedener Meeresküsten
Ichthyophagen. Das heißt zwar nur Fischesser und
würde für heutige Begriffe nicht auf Barbarismus
schließen lassen, weil wir die volkswirtschaftliche Be-
— 95 —
deutung der Seefischkost kennen und würdigen ge-
lernt haben. Im Altertum freilich dachte man hier-
über wesentlich anders, da war das Wort Ichtyophage
der Ausdruck großer Verachtung und deutete eine
Kulturstufe an, die der etwa gleich ist, die wir den
Menschenfressern zutrauen. Ichtyophagen gab es
natürlich nur in den Küstenländern, das ist schon in
der Natur der Sache begründet, denn Flußfische als
Nahrung kamen nicht in Betracht. Den Griechen waren
die Küstengebiete der Ichthyophagen nicht besonders
bekannt, und die Völker ebenfalls nicht, denn es
lohnte sich für sie nicht, jene Gegenden, in denen
ja weder für den Handel Schätze noch für den Ver-
kehr Vorteile zu haben waren, genauer zu durch-
forschen; das, was sie aber von diesen Barbaren
kennen gelernt hatten, war nicht geeignet, sie mit
besonderer Hochachtung zu erfüllen. Die bekanntesten
waren die äthiopischen Ichthyophagen, die im äußer-
sten Osten die Küsten der südlichen Meere bewohnten.
Von diesen war die genaueste Kunde bis nach Griechen-
land gelangt. Es ist ja nun freilich die Frage, ob
es wahr ist, daß diese guten Leutchen ausschließ-
lich sich von Fischkost nährten; angenommen wurde
es jedenfalls. Das wäre nun aber wohl noch nicht
ausreichend für die allgemeine Beurteilung gewesen.
Das Volk war auch sonst als roh und barbarisch
bekannt. Das Liebesleben dieser Küstenbewohner
war auf den einfachsten Instinkten aufgebaut. Es
gab überhaupt keine bestimmte Form, in die der
Verkehr der Geschlechter gezwungen gewesen wäre.
Die unkultivierten Leute kannten keine Ehe, wohl
auch nicht die Liebe in ihrer poetischen Gestalt, die
— 96 —
das Leben veredelt, und den Sinn für weitere Ent-
Wickelung und das Streben nach Vervollkommnung
weckt, sondern es war ihnen nichts zum Bewußtsein
gekommen als der Trieb der Erhaltung der Art, d. h.,
die Notwendigkeit der Fortpflanzung, also der rein
animalische Instinkt. Dabei kam es ihnen, ebenso wie
allen Völkern, bei denen die allgemeine Geschlechts-
gemeinschaft bestand, nicht darauf an, wer sich an
der Erreichung dieses Zieles beteiligte, sondern es
blieb der augenblicklichen Laune und Neigung von
Mann und Weib überlassen, ob sie sich zu einem
gelegentlichen Begattungsakte entschließen wollten,
aus dem für keinen der Beteiligten irgend welche
Rechte und Pflichten entstanden.
Diese primitive Ausgestaltung des Liebeslebens
war für die hochkultivierten Griechen und überhaupt
für die gebildeteren Völker des Altertums ein Greuel,
obwohl man doch im allgemeinen an die Sittlich-
keit durchaus keine hohen Ansprüche stellte und gar-
nichts so bedenkliches darin fand, wenn „in Venere"
excediert wurde. Im Gegenteil, gerade die hoch-
gebildeten Völker hätten für eine Enthaltsamkeit so
gut wie kein Verständnis besessen, sondern den keu-
schen Joseph für ein Muster von Dummheit und Un-
verstand gehalten. Das zeigt sich nicht bloß in der
Mythologie, sondern im ganzen öffentlichen Leben
des sogenannten klassischen Altertums. Man war
weder prüde, noch ein Verächter des Vergnügens,
sondern liebte es sehr, wie der Schmetterling von
allen Blüten zu naschen, mochten es auch verbotene
Früchte sein, nach denen man griff; im Gegenteil
das Verbotene reizt bekanntlich viel mehr als das
— 97 —
Erlaubte. Es war aber als ein Beweis wüstester
Barbarei verhaßt, wenn das Liebesleben so wenig aus-
gebildet war, daß es eben verbotene Früchte garnicht
mehr geben konnte, weil einfach alles erlaubt war.
Weder Rücksichten auf Verwandtschaft konnte es bei
einer allgemeinen Geschlechtsgemeinschaft geben, noch
eine Pietät, die doch von den Alten sonst viel mehr
in Ehren gehalten wurde als in unserer Zeit. Wer
kannte denn überhaupt bei den Barbaren seine Ver-
wandtschaftsgrade? Es wußte doch niemand anzu-
geben, wer sein Vater, wer sein Kind war, und eine
allgemeine Verwandtschaft mußte man selbst da an-
nehmen, wo man den oben geschilderten geistreichen
Gedanken ausgeheckt hatte, daß die Ähnlichkeit eines
Kindes mit irgend einem Manne dessen Vaterschaft
beweisen sollte. In der Tat kann es für einen ge-
sitteten und gebildeten Menschen kein abscheulicheres
Liebesleben geben als die unbedingte Geschlechts-
gemeinschaft des ganzen Stammes.
Im ganzen Orient war das Liebesleben wenn man
so sagen darf, überhaupt erst das eigentliche Leben,
der eigentiche Lebenszweck bestand beinahe darin, die
Freuden der Liebe zu genießen und alles diesem
Genuß hintanzustellen. Das war ja wohl bei der
Geschlechtsgemeinschaft auch nicht anders; der Unter-
schied bestand aber darin, daß die höher kultivierten
Völker die Weiber, die sie für sich nahmen, auch
absolut für sich allein haben und niemals mit einem
anderen Manne teilen wollten. Deshalb erfolgte der
strenge Abschluß des Harems, und wo es weder den
Harem noch die Vielweiberei gab, hielt doch jeder
Mann sein Haus rein, die Frau von andern Männern
7
— 98 —
fern. Keine Regel ohne Ausnahme. Hier ist die Aus-
nahme, die schon früher erwähnte Idee, die Frauen
sich gegenseitig auszuleihen. Wir haben eine ähn-
liche Erscheinung auch im deutschen Altertum zu ver-
zeichnen. Es handelt sich da um die sog. Ehe-
helferschaft, die allerdings nur unter bestimmten
Voraussetzungen möglich war, aber doch — und das
ist gerade der springende Punkt — vorkam. Ich
werde auf diesen Punkt gelegentlich noch zurück-
kommen.
Von den alten Babyloniern, die alles andere viel
eher waren als Sittlichkeitsfexe, wurde nach Herodot
eine sehr sinnreiche Verheiratungsmethode geübt, die
vor allen Dingen dahin abzielte, alle Jungfrauen zu
versorgen und nicht bloß die schönsten, sondern auch
die häßlichen an den Mann zu bringen. Es sollen
da alljährlich einmal alle heiratsfähigen Töchter ver-
sammelt worden sein. Man suchte dann die schönsten
aus und bot sie für Geld aus, d. h. es wurde eine
Art Auktion veranstaltet; wer am meisten zahlte, der
erhielt die Schönheit als Eigentum und konnte sie in
sein Heim führen. Je nach dem Grade der Schönheit
waren natürlich auch die Gebote verschieden, und
es kam dann schließlich soweit, daß für die mit
weniger Reizen ausgestatteten Töchter niemand mehr
etwas bieten mochte. Damit war aber die Auktion
noch nicht beendet; sie wurde im Gegenteil nun erst
interessant. Die schönsten Mädchen hatte man
sicherlich mit Neid in die Hände der „Beati pos-
sidentes" übergehen sehen. Wenn die Angebote
recht hoch ausgefallen waren, so hatte man doch
wenigstens den schönsten Trost, daß die glücklichen
— 99 —
Erwerber immerhin ihren Sieg teuer bezahlen mußten,
und daß diese Summen nun anderen zufließen würden.
Das, was durch den Verkauf der Schönheiten erlöst
worden war, das floß nämlich weder in die Taschen
der Verkauften, noch in die von deren Eltern, son-
dern diente dazu, die Häßlicheren, die ja auch auf
die Freuden der Liebe nicht verzichten wollten und
sollten, anzubringen. Es wurde nämlich nochmals
sortiert und festgestellt, welche von den noch zu ver-
gebenden Jungfrauen die häßlichsten, und welche min-
der häßlich waren. Die Häßlichsten erhielten das
Geld, das für die Schönsten erlöst worden war, und
die minder Häßlichen erhielten das, was für die
minder Schönen erzielt worden war. Wenn nun erst
für die schönsten Mädchen große Summen geboten
waren, weil die reichen Männer in ihrer Leidenschaft-
lichkeit für den Besitz solcher auserlesener Weiber
kein Opfer scheuten, so war nun die Sache gerade
umgekehrt, die, für die niemand mehr etwas geboten
hatte, fanden Männer, weil diese dafür, daß sie ein
solches Weib erwählten, das Geld erhielten, das
diesem aus dem Auktionserlös zugefallen war, so daß
nun eigentlich die Männer gekauft wurden, wobei
die, die an die Schönheit ihres neuen Weibes die
niedrigsten Ansprüche stellten, das meiste Geld er-
hielten. Ein Zeichen, daß man im alten Babylon
äußerst praktisch dachte und sich durch Geld über
das Glück anderer in der Liebe zu trösten wußte.
Jedenfalls zeigt dieser Brauch aber, daß die Weiber
eigentlich nichts waren als ein Handelsobjekt, daß
sie eine eigene Wahl des Gatten nicht treffen konnten,
sondern dem Manne angehören mußten, der sie ver-
— 100 —
langte, bezahlte oder sich auch dafür bezahlen ließ,
daß er das Weib zu sich nehmen wollte. Letzteres
kommt ja auch wo anders vor und ist immer ein
beliebtes Mittel, einen Mann zu erhalten, der Geld
zu schätzen weiß, und zwar in so hohem Grade, daß
er dafür auch eine Gattin mit in den Kauf nimmt,
die doch nun einmal die einzige Bedingung ist, unter
der das Geld zu erlangen ist. Freilich so deutlich
wie im alten Babylon werden die Herren Mitgift-
jäger ihr „berechtigtes Interesse" öffentlich nicht gleich
betonen.
Nach Strabo hat bei einem indischen Volksstamm,
den er Taxilli nennt, ein Brauch bestanden, durch
den der Vater einer heiratsfähigen Tochter sich mehr
oder weniger leicht einen Schwiegersohn verschaffen
und dabei, wenn das Mädchen schön genug war,
auch ein ganz gutes Geschäft machen konnte. Der
Vater nahm seine Tochter, wenn er glaubte, daß sie
zum Heiraten reif sei, wohl geschmückt mit auf den
Markt, ließ die Trommeln rühren, damit die Leute
aufmerksam wurden und in genügender Menge er-
schienen und bot dann die Tochter aus. Da die Taxilli
aber sehr praktische Leute waren, die nicht gern die
Katze im Sacke kauften, so begnügte man sich nicht
damit, daß der Vater die Vorzüge seines Kindes in
grellen Farben schilderte, sondern man wollte sehen,
ob es sich auch wirklich lohne, das Mädchen zur
Ehe zu nehmen. Das Gesicht mochte noch so schön
sein, was half es? Auch die Schönheit vergeht, und
ein schönes Gesicht beweist doch noch lange nicht,
daß auch der Körper schön und ohne Fehler sein
müsse, und ein schönes Gesicht allein kann den Mann
— 101 —
nicht glücklich machen und eine Frau nicht begehrens-
wert, wenn der Körper etwa Fehler aufzuweisen hat,
die auch das schönste Gesicht nicht aufzuwiegen
vermag. Vor allen Dingen war es nach der Ansicht
der Taxilli nicht mehr als recht und billig, daß man
ein fremdes Weib, das man sich aussuchen und be-
halten sollte, allermindestens doch ganz angesehen
haben müsse. So wurde dann, wenn sich genügend
viele Interessenten auf dem Markte versammelt hatten,
die Vorstellung eröffnet. Das Mädchen drehte zunächst
den Schaulustigen den Rücken zu und hob dann die
Kleidung bis zu den Schultern hoch, so daß der
Körper in seiner Gesamterscheinung den Blicken der
Männer freigegeben war. In dieser Stellung verharrte
die Schöne eine ganze Weile, bis sich annehmen ließ,
daß die Beschauer nunmehr ihre Studien mit der ge-
nügenden Gründlichkeit beendet haben könnten. Das
Mädchen drehte sich dann herum und enthüllte
wiederum durch Hochheben des Kleides die Vorder-
ansicht des Körpers. Das soll in der Regel den ge-
wünschten Erfolg gehabt und die anwesenden Männer
bewogen haben, den Vater um Überlassung der
Schönen zu bitten. Da natürlich die Stärke des
Wunsches, die Tochter zu besitzen, in erster Linie
von deren Körperschönheit abhing, versteht es sich
von selbst, daß die Sache für den Vater umso an-
genehmer gewesen sein muß, je schöner die Tochter
war, denn in diesem Falle wurde natürlich dem die
meiste Aussicht, seine Wünsche erfüllt zu sehen, der
seine Bitte durch den stärksten „Metallzusatz" zu
unterstützen vermochte. So wurde der Vater nicht
nur die Tochter los, sondern er erhielt auch noch ein
— 102 —
schönes Stück Oeld. Das ist sicherlich ein weit an-
genehmeres Los als das, was heutigen Tages den
Vater, der eine Tochter zu verheiraten hat, zu treffen
pflegt. Er muß dabei recht energisch in den Beutel
greifen und außer der standesgemäßen Ausstattung
meist auch noch eine möglichst reich bemessene Mit-
gift geben, und doch wird das wohl jeder Vater der
Taxilli-Sitte vorziehen.
Die Szene, die Strabo beschreibt, erinnert lebhaft
an die Sklaven markte, bei denen die zu verkaufenden
Sklaven und besonders die Sklavinnen ebenfalls nackt
den Kauflustigen vorgestellt wurden. Das war auch
ganz bestimmt die beste Anpreisung, die jemals ge-
geben werden konnte, vorausgesetzt natürlich, daß
die Menschenware körperlich einwandsfrei war. Daß
die Sklavinnen nicht sittlich als unantastbar galten,
ist bekannt, gerade das nackte Vorstellen zielte in
erster Linie dahin, daß sie außer zu schweren Ar-
beiten auch dazu Verwendung finden sollten, die sinn-
lichen Gelüste ihrer Käufer zu befriedigen. Auch darin
herrschte volle Übereinstimmung mit der von Strabo
geschilderten Verheiratungsmethode der Taxilli.
Die Vorliebe für Nuditäten.
Wenn es auch unbestreitbar ist, daß die Phantasie
durch das, was den Blicken verborgen bleibt und in-
folgedessen nicht sinnlich wahrgenommen, sondern
nur geahnt und vermutet werden kann, viel lebhafter
angeregt wird, als durch das wirklich Gesehene, so
ist doch im Liebesleben der Anreiz durch das sich
offen den Blicken Darbietende in der Regel viel inten-
siver als der durch das Spiel der bloßen Phantasie
hervorgerufene. Das ist nur scheinbar ein Wider-
spruch, denn in Wirklichkeit sprechen hierbei ganz
andere Momente mit. Es ist zunächst der Anblick
des Schönen, der mächtig auf das Gemütsleben ein-
wirkt und die Begierde anregt, dabei aber die Phantasie
keineswegs ausschaltet. Die Phantasie beschäftigt sich
vielmehr erst dann lebhaft, wenn sie es sich ausmalt,
welche Genüsse der Besitz des Gesehenen schaffen
könnte. Das Schöne ist dabei nur das Objekt. Wer
z. B. sich ein herrliches Schaugericht nur in der
Phantasie ausmalt, der wird sicherlich den lebhaften
Wunsch damit zu erwecken vermögen, das Gedachte
auch wirklich zu besitzen; aber sicherlich wird durch
den unmittelbaren Anblick des herrlichen Gerichts der
— 104 —
Appetit weit lebhafter angeregt als durch die bloße
Vorstellung. Es kommt dabei freilich sehr viel auf die
Lebhaftigkeit der Phantasie an, so daß Abstufungen
in der Wirkung von Wahrheit und Dichtung selbst-
verständlich, weil naturgemäß, sind.
Will man das Gesagte auf die Nuditäten allein
anwenden, so lehrt auch da die Praxis des täglichen
Lebens schon die Richtigkeit der These vollkommen.
Wir leben in einer Zeit, in der das Nackte in Kunst
und Leben besonders lebhaft umstritten wird. Wäh-
rend ein Teil des Publikums alles Nackte als unsitt-
lich und unzüchtig perhorresziert und sich darin ge-
fällt, die Grenzen der Vernunft systematisch zu über-
schreiten, treibt ein anderer Teil die Schwärmerei für
das Nackte ebenso ins Ungemessene, und man kann
selbst hier wieder sagen, daß die Extreme sich be-
rühren, so unhaltbar diese Behauptung auf den ersten
Blick auch erscheinen mag. Beide Parteien gehen
nämlich von demselben Grundgedanken aus, daß der
nackte Körper einen eigenen Reiz auf das Sinnen-
leben ausübt.
Schon seit Jahrtausenden bemüht sich die bildende
Kunst, in der Darstellung des nackten Körpers das
Schönheitsideal zu schaffen; besonders ist die Bild-
hauerkunst von jeher auf Aktstudien angewiesen.
Sie schafft im nackten Körper das bleibend Schöne,
während der bekleidete Körper doch immer nur das
Schönheitsideal einer bestimmten Zeit wiederspiegelt.
Das Kostüm wechselt, weil es etwas Willkürliches
ist, das nicht dauernden Gesetzen unterworfen ist
und nur zu oft absurde Schönheitsprinzipien darstellt,
so daß ein Kostüm, das als das Schönste gepriesen
— 105 -
wird und die Welt entzückt, nicht selten schon nach sehr
kurzer Zeit als eine Ausgeburt verschrobener und
wahnsinniger Geschmacksverirrung belacht wird. Wer
wollte es heute noch zu behaupten wagen, daß die
Krinoline das höchste Schönheitsideal sei? Wer kann
auch nur eine kurze Sekunde im Zweifel darüber sein,
ob die bildnerische Darstellung eines unbekleideten
weiblichen Körpers oder des mit der Krinoline „ver-
schönerten" einen idealeren Kunstgenuß bereitet? Ob
das Schönheitsideal mehr in dem einen oder mehr
in dem andern gewahrt sei und zur Geltung komme?
Es würde wohl jedem, gleichwohl welcher Partei er
angehört, lächerlich erscheinen, eine solche Frage
überhaupt ernstlich anzuregen.
Während nun die Sittlichkeitsapostel davon aus-
gehen, daß alles Nackte schon immer deshalb, weil es
schön sei, die Sinnlichkeit in moralgefährdender Weise
anrege, sind die Verteidiger des Nackten der Ansicht,
daß gerade das Empfinden des Schönen die Menschen
veredele, sie reiner und edeler mache. Ohne in
eine ernste Kritik der einen oder der andern Ansicht
einzutreten, soll nur kurz gesagt sein, daß beide
Meinungen durch ihre Übertreibungen sich selbst
ins Unrecht setzen. So falsch es ist, das Nackte ohne
jede Einschränkung für unsittlich und schamverletzend
zu halten, so falsch ist es, durch den steten Anblick
des Nackten die Menschheit veredeln zu wollen. Es
ist bedauerlich, daß auf beiden Seiten so unendlich
über das Ziel hinausgeschossen wird.
Wenn im Orient eine Vorliebe für Nuditäten be-
stand und zum Teile auch noch besteht, so läßt sich
gewiß nicht behaupten, daß durch diese Vorliebe
— 106 —
eine Veredelung und eine sittliche Reinheit der
Menschen herbeigeführt oder auch nur beabsichtigt
worden sei. Daran hat sicherlich kein Mensch ge-
dacht, und vor allen Dingen hat man unter der Ver-
edelung und sittlichen Reinheit etwas absolut anderes
verstanden als Prüderie und sexuelle Enthaltsamkeit,
die ja auch in der Tat meist mit Veredelung und
sittlicher Reinheit nicht das mindeste zu schaffen
haben. Im Gegenteil; Prüderie schließt sogar natur-
gemäß die sittliche Reinheit völlig aus. Deshalb
herrscht die Prüderie immer bei Völkern vor, die stark
entsittlicht sind. Insbesondere haben die alten Griechen
alles andere eher gepriesen als die Prüderie. Bei
ihnen galt das Nackte in der Kunst keineswegs als
etwas sexuell Erregendes, mindestens nicht im klas-
sischen Altertum, sondern höchstens in den Zeiten
des sittlichen Verfalls. Man begeisterte sich für das
Nackte in den bildnerischen Schöpfungen, die wir auch
heute noch bewundern, nur für das reine Schönheits-
ideal, und wer heute die wunderbaren Werke plasti-
scher Kunst, die sich bis auf unsere Tage erhalten
haben, nicht von diesem Gesichtswinkel aus zu wür-
digen weiß, sondern nur daran denkt, daß die herr-
lichen Körperformen, weil sie nicht durch ausgiebige
Kleidung verhüllt sind, schamverletzend oder gar un-
sittlich wirken, der beweist damit nicht sittliche Rein-
heit, sondern einen so bedenklichen Grad moralischer
Verkommenheit, daß man gut daran täte, ihm durch
eine reichlich bemessene Dosis ungebrannter Holz-
asche eine so nachdrückliche Lektion zu erteilen, daß
er auf eine ganze Weile vergäße, die Schleusen seiner
Beredsamkeit zur Hebung fremder Sittlichkeit in Be-
— 107 —
trieb zu setzen. Niemals wird ein Volk, das sittlich
auf einem wirklich tiefen Niveau steht, Werke hervor-
zubringen vermögen, deren ideale Schönheit auf Jahr-
tausende das Entzücken aller hervorruft, die nicht in
der Heuchelei und sittlichen Scheinheiligkeit ihre
Lebensaufgabe erblicken. Es läßt sich indessen auch
nicht behaupten, daß im Orient ganz allgemein aus
künstlerischem Idealismus etwa das Nackte in der
Kunst die Menschheit begeistert hätte. Wohl das
Nackte ohne Kunst und aus anderen Gründen.
Dabei liegt natürlich die Sache ganz wesentlich
anders, und das ist die geschichtliche Tatsache, die
sich unsere modernen Lobredner auf das Tanzen
nackter Personen doch lieber einmal etwas sorgfältiger
zu Gemüte führen sollten. Die orientalische Neigung,
sich am Anblick nackter Körper, besonders von Tänzern
und noch mehr Tänzerinnen, zu berauschen, läßt
schlechterdings, doch nicht auf ein sittlich völlig ein-
wandfreies Motiv schließen. Es liegt nun einmal in
der menschlichen Natur, daß der Anblick eines be-
sonders schönen menschlichen Körpers Begierden
wachruft, die weder an sich verwerflich noch un-
sittlich, sondern durchaus natürlich sind. Darüber
wird auch die Phrase von der Freude am Schönen
nicht hinwegzutäuschen vermögen. Anders wirkt
immer das reine Kunstwerk als das wirkliche Leben.
Wir haben durchaus keinen Grund, uns darüber zu
beklagen, wir sollen aber auch nicht eine Tatsache
bestreiten, die doch nun einmal nicht zu leugnen ist.
Ich will mich dabei garnicht auf eine Kritik von
Gründen und Scheingründen einlassen, denn sie führt
zu nichts, schon deshalb nicht, weil die Verschieden-
— 108 —
heit der menschlichen Naturen sich nicht in eine be-
stimmte Methode hineinzwängen läßt. Wenn es selbst
Menschen gäbe, die mit gutem Gewissen behaupten
könnten, daß sie der Anblick einer nackten Tänzerin
sexuell absolut nicht errege, daß sie vielmehr nur
die reine Schönheit ohne jeden Nebengedanken zu
bewundern vermöchten, so ist damit noch lange nicht
festgestellt, daß dabei nicht eine starke Selbsttäuschung
mitwirke, und für die Frage, ob solche Schaustellungen
für die Allgemeinheit zulässig seien, würde, selbst
wenn keine Selbsttäuschung im Spiele wäre, die ab-
norme reine Formenschönheitsfreude Einzelner garnicht
in Betracht kommen können, da der normale Durch-
schnittsmensch doch anders empfindet und zweifellos
sexuell erregt wird, ganz besonders wenn es sich um
eine schöne Tänzerin handelt, die eifrig bestrebt ist, sinn-
berückend auf die Menge zu wirken. Eine solche
öffentliche künstliche Erregung der Leidenschaften zu
verbieten, ist aber durchaus die berechtigte Aufgabe
der Obrigkeit.
Neu ist ein solches Einschreiten der Obrigkeit doch
ohnehin nicht. Schon das mosaische Gesetz unter-
sagte die Entblösungen in einer langen Reihe von
Fällen aus sehr triftigen Gründen, und wo sie ge-
stattet war, da ist auch die schlimme Wirkung nie-
mals ausgeblieben. Ich vermag überhaupt das Be-
dürfnis, eine Tänzerin nackt auf der Bühne sich pro-
duzieren zu sehen, aus rein künstlerischen und ethi-
schen Momenten nicht nachzuweisen, sondern kann,
obwohl ich doch gewiß in Kunstsachen sehr liberal
denke und ein erbitterter Feind jeder Prüderie bin, mich
nicht von der Ansicht bekehren, daß es für die meisten
— 109 —
Menschen ebenso wie für mich ein mehr als peinliches
Empfinden sein würde, in einem Theater zu sitzen,
auf dessen Bühne nackte Tänzer und Tänzerinnen
sich produzierten; ja ich mache kein Hehl daraus,
daß für mich der Anblick absolut schamverletzend
sein würde, wenn ich ihn etwa gemeinschaftlich mit
einer fremden Dame, in Gegenwart von Eltern, Kindern,
Braut oder Frau über mich ergehen lassen sollte.
Doch nun zurück ins orientalische Altertum.
Schon die Geschichte Davids mit Bath-Seba,
dem Weibe des Hethiters Urias, belegt das Gesagte.
„Und es begab sich, daß David um den Abend auf-
stand von seinem Lager, und ging auf dem Dach
des Königshauses, und sah vom Dach ein Weib sich
waschen; und das Weib war sehr schöner Gestalt."
So heißt es im 2. Samuelis, Kap. 11, V. 2. Diese
wenigen Worte schildern schon in klassischer Form
die Wirkung des nackten Körpers. David denkt an
Liebesabenteuer überhaupt nicht; er erhebt sich von
seinem Ruhelager und begibt sich auf das Dach seines
Hauses, um dort in freier Luft ein wenig zu wandeln.
Da sieht er die schöne Bath-Seba, die, wie der Text
sagt, von sehr schöner Gestalt war. Sofort wird er
von wilder Begierde ergriffen. Er sendet Boden aus,
die sich erkundigen müssen, wer das Weib sei, und
als er es erfuhr, ließ er die Schöne selbst kommen
und schlief bei ihr, wie die Bibel kurz sagt. Das
war also die Verführung des verführten Verführers,
denn ein solcher war David durch den berauschenden
Anblick des herrlichen Frauenkörpers. Es ist bekannt,
wie David die Folgen dieses kurzen Liebesrausches
dadurch zu verbergen suchte, daß er den Mann des
— 110 —
Weibes veranlassen wollte, sich zu Bath-Seba zu
begeben, um so den Anschein zu erwecken als sei
Uria der wirkliche Vater des Kindes seiner Frau.
Der königstreue Hethiter folgte dem Winke aber nicht,
da er treu bei dem Könige mit den anderen Kriegs-
leuten wachen will. Nun ist David teuflisch genug,
den Mann mit einem Briefe an seinen Feldherrn
Joab zu senden. In diesem Briefe aber war der Be-
fehl enthalten, daß Uria in der Feldschlacht so ver-
wendet werden solle, daß er erschlagen werde und
sterbe. Ehebruch und Mord; das waren die Erfolge
des Anblicks eines schönen Frauenkörpers.
Es wäre aber völlig verfehlt, etwa behaupten zu
wollen, daß gerade David besonders prädestiniert ge-
wesen sei, einer solchen Versuchung zu unterliegen;
es ist im Gegenteil viel eher anzunehmen, daß auf
die Durchschnittsmenschen der Anblick ebenso ge-
wirkt haben würde wie auf den weit über die Durch-
schnittsmenschen hinausragenden David. David hätte
sogar durch seine zahlreichen Weiber viel eher Ge-
legenheit finden können, seine sexuelle Erregtheit zu
befriedigen; aber der Anblick der schönen jBath-Seba
hatte seine Begierde so erweckt, daß er gerade diese
Frau für sich haben mußte. Daß er die Macht besaß,
den historisch gewordenen und sprichwörtlich ver-
wendeten Uriasbrief zu schreiben, das ist ein Um-
stand, den zwar nicht viele Menschen bei solch
einem Abenteuer zu verzeichnen haben würden; die
Moral der Geschichte ist aber nicht die weitere ab-
scheuliche Entwickelung des Dramas, sondern die
Wirkung des nackten Frauenkörpers.
— 111 —
So wird dem Tiraquell folgende Historie nacherzählt,
die ich in der Schreibweise eines älteren Schriftstellers
wiedergeben will: „Aristoclea, ein ausbündig schön Mäd-
gen, opfferte einsmahl dem Gott Jovi nackend, da ein
vornehmer Jüngling, Nahmens Strato, sie ungefehr ersähe,
und darüber in Liebe gegen sie heftig entzündet ward.
Es hatte sie aber auch ein ander, mit Nahmen Callisthenes,
lieb, drum als sie Hochzeit hielt, haben sich diese beyde
so grausam um sie gezerret, und einer den andern
dieselbe wieder nehmen wollen, daß endlich im Grimm
das gute Mensch drüber in stücken zerrissen worden,
auf deren toten Cörper sich Strato erstochen."
Hier ist das Drama recht wesentlich von dem
des Königs David verschieden, aber der Grundton
ist doch genau derselbe. Das „ausbündig schöne
Mädgen" wird von einem für Frauenschönheit sehr
empfänglichen Manne belauscht, als es nackt im Zeus-
tempel opfert. Strato war ein gesitteter Mann, sonst
würde er sich auf die Schönheit, die ihn bis zum
Wahnsinn begeistert hatte, wohl energisch gestürzt
und ihr Anträge gestellt haben wie der König David
der Gattin des Hethiters. Das tat er nicht; er war
aber in die schöne Aristoclea so verliebt, daß ihn
deren sinnberückendes Bild nicht mehr verließ. Er
mag errötend ihren Spuren gefolgt sein; aber damit
hat er nicht erreicht, daß Aristoclea ihm eine be-
sondere Aufmerksamkeit schenkte. Strato hat auch
das ertragen; als er aber erfuhr, daß^sie ein anderer
auch lieb habe, und daß sie diesen Anderen heiraten
wollte, da stand das Bild ihrer nackten Schönheit ihm
wieder vor Augen, und diese Schönheit einem Andern
überlassen, den Gedanken mit sich herumtragen, daß
— 112 —
ein Anderer diesen herrlichen Körper besitzen und
des namenlosen Glückes teilhaftig werden sollte, nach
dem er selbst vergeblich schmachtete, das konnte Strato
nicht ertragen. Er kämpfte mit dem glücklichen Neben-
buhler Callisthenes, und der Chronist drückt sich
wohl allzu bildlich aus, wenn er sagt, daß beyde sich
um die Braut gezerret hätten, bis das gute Mensch
in Stücke gerissen worden sei; jedenfalls ist aber der
Aristoclea ihre ungewöhnliche Schönheit verhängnis-
voll geworden; sie wurde in dem Kampfe getötet,
und Strato erstach sich über der Leiche. Er hat sie
also geliebet „bis in den Tod." Das alles war aber
nur die Folge davon, daß er sie nackt belauscht hatte.
Was aus Callisthenes geworden ist, verschweigt die
Geschichte. Wie es scheint, hat er den Fall über-
lebt; vielleicht hat er die schöne Aristoclea nicht gar
so glühend geliebt wie Strato; vielleicht hatte er sie
nicht nackt gesehen.
Das sind Geschichten, die man trotz ihres tragi-
schen Ausganges und trotz ihres ganzen Verlaufes
fast noch naive Liebesäffären nennen könnte, wenig-
stens dann, wenn man sie mit dem vergleicht, was
sonst im Morgenlande an „nackten Geschichten" vor-
gekommen ist. Ich möchte jedoch, ehe ich zu der
allgemeinen Schwärmerei für Nuditäten übergehe, noch
eine Geschichte erzählen, die wieder etwas anderes
bringt, schließlich aber gerade deshalb in der Kette
ein wichtiges Glied bildet. Der König Gandaules III.
von Lydien besaß eine schöne Gemahlin, die er
närrisch liebte, und auf deren Schönheit er nicht
wenig stolz war. Eines schönen Tages, als sich die
Königin nackt in ihrem Gemache befand, rief Gandaules
— 113 —
seinen Freund Gyges und zeigte ihm die Gattin mit
allen ihren geheimsten Reizen durch eine kleine Öff-
nung in der Tür. Das war also eine Geschichte, die
der des österreichischen Prinzen nicht unähnlich war,
die seinerzeit so viel unliebsames Aufsehen erregt hatte.
Gyges war Kenner und fühlte sich durch den Anblick
der schönen Königin derartig erregt, daß er nicht
mehr Herr seiner selbst war. Wie die Geschichte
endete, erzählt ein alter Chronist mit lakonischer Kürze
folgendermaßen: „drüber der König das Leben ver-
lohr, und Gyges an seine stat die Gemahlin und das
Königreich bekahm."
Hier hatte also der König selbst seinen Unter-
gang heraufbeschworen. Nach Herodot hat sich die
Geschichte so abgespielt, daß Gandaules in der Tat
seinem Günstling Gyges die Reize seiner schönen
Gattin zeigen wollte und ihn deshalb in deren Zimmer
verbarg. Nun soll die schöne Tudo den Eindring-
ling aber entdeckt haben und über die Frivolität ihres
Gatten so entrüstet gewesen sein, daß sie dem Gyges
erklärte, sie wolle ihm selbst die Wahl zwischen zwei
Möglichkeiten, ihre Ehre wieder herzustellen, über-
lassen. Sie könne und dürfe sich nackt nur vor ihrem
Gatten zeigen und werde es nicht dulden, daß ein
fremder Mann, der sie so gesehen habe, unter den
Lebenden weile. Entweder müsse also Gyges sterben,
oder er müsse ihr Gatte werden und, um dies
möglich zu machen, ihren jetzigen Gatten Gandaules
ermorden. Gyges war durch den Anblick der schönen
Tudo so in Liebe entbrannt, daß er durchaus nicht
abgeneigt war, sie zu seiner Gattin zu machen. Das
Leben erschien ihm namentlich mit der Aussicht auf
8
— 114 —
den alleinigen Besitz der Tudo doppelt schön und
wertvoll, so daß er überhaupt keine Lust verspürte,
es gerade jetzt zu verlieren. Dazu kam noch die Er-
wägung, (daß doch selbst Gandaules die Katastrophe
heraufbeschworen hatte, daß also nur er die gerechte
Strafe verdiente, falls das Anschauen seiner nackten
Gemahlin wirklich ein todeswürdiges Verbrechen war.
So entschloß sich Gyges ziemlich leicht, wie er die
Ehre der Tudo retten könne; er ermordete den König
wirklich. Durch diese Tat erhielt er nicht allein
eine äußerst begehrenswerte Gattin, sondern er wurde
als Gatte der Königin selbst Herrscher über das
lydische Reich.
Das Volk, das au und für sich nichts zu sagen
hatte, war aber doch über den Königsmord sehr
entrüstet und wollte den Gyges strafen, statt ihn zum
König haben. Nun kam diesem aber eine Hilfe, die
zwar etwas unerwartet kommen mochte, aber desto
sicherer und widerspruchsloser wirkte. Man fragte
nämlich das berühmte Delphische Orakel, was man
in dieser sehr schwierigen Lage zu tun habe, und
das Orakel war dem Königsmörder sehr günstig ge-
sinnt und antwortete, man solle ihn zum König an-
nehmen und werde sich gut dabei stehen. Gandaules
war ja ohnehin nicht wieder ins Leben zurückzurufen,
also befolgte man den Orakelspruch, und es war richtig,
man stand sich gut dabei. Gyges regierte 38 Jahre
und machte auch Eroberungen, die dem Reiche zum
Vorteil gereichten. Gegen das Delphische Orakel
erwies er sich übrigens sehr dankbar, denn er machte
für den ihm günstigen Wahrspruch ein wirklich fürst-
liches Geschenk.
— 115 —
Gyges ist eine wirklich historische Person, und
es ist historisch erwiesen, daß er sich tatsächlich die
Herrschaft über Lydien angeeignet hat. Freilich wollen
einige Historiker wie z. B. Plutarch, die romanhafte
Geschichte mit der Tudo nicht gelten lassen, sondern
erzählen nüchtern, daß Gyges die Herrschaft durch
einen Aufstand mit Heeresmacht errungen habe. Aber
nach anderen Quellen, die auch Hebbel benutzt hat,
ist die Geschichte noch viel mystischer gewesen. Da-
nach soll Gyges als Hirt in einer unterirdischen Höhle
einen Zauberring entdeckt und an sich genommen
haben. Dieser Ring habe die außerordentliche Kraft
besessen, seinen Besitzer unsichtbar zu machen, so-
bald dieser den Ring so drehte, daß dessen Stein
nach einwärts gerichtet war. Gyges habe sich in
die schöne Tudo verliebt, sich ihr mit Hilfe seines
Ringes genaht, ohne von jemandem gesehen zu werden
und mit ihr die Freuden der Liebe genossen, dann
den König Gandaules ermordet, da er sich in den
Besitz der Tudo mit niemandem, am wenigsten mit
deren rechtmäßigem Gatten, teilen wollte. Auch nach
dieser Erzählung ist also die Verliebtheit des Gyges
an dem Königsdrama schuld, und diese Verliebtheit
ist durch den Anblick der nackten Tudo hervorge-
rufen worden, denn gerade diesen Anblick verschaffte
sich Gyges mit Hilfe seines Zauberrings. Wer aber
an dieses ebenso seltene wie begehrenswerte Kleinod
nicht recht glauben will, der wird wohl der Herodot-
schen Erzählung die größere Wahrscheinlichkeit bei-
messen müssen.
Das ist ja auch schon deshalb empfehlenswerter,
weil sie einen Einblick in die alten lydischen Sitten-
— 116 —
anschauungen gestattet. Es darf wohl als etwas auf-
fallend betrachtet werden, daß Tudo die Belauschung
durch Gyges gar so tragisch auffaßte, obwohl doch
ihr eigener Gatte seine heiligsten Rechte auf die ihm
allein geweihten körperlichen Geheimnisse seiner
Gattin nicht so überaus streng zu wahren suchte. Wer
die Gattin eines Mannes unverhüllt erblickt hatte, der
mußte sterben. Davon wollte Tudo auf keinen Fall
absehen. Das war in der Tat orientalisches Recht,
das hier allerdings etwas schärfer ausgelegt wurde,
als dies sonst zu geschehen pflegte. Das Recht hat
doch den Grundgedanken als Basis,' daß die Rechte
des Mannes von der Unverletzlichkeit seiner Frau
oder Frauen in der denkbar schärfsten Weise ge-
wahrt werden sollten. Wie ja auch jetzt noch bei
einzelnen orientalischen Völkerschaften der Mann den
mit dem Tode straft, der es wagt, seine Frauen un-
verschleiert anzusehen. Gandaules hatte zwar auf
dieses Recht selbst verzichtet; aber seine Gattin hielt
dies doch nicht für ausreichend, eine Tat, die todes-
würdig war,- ungesühnt zu lassen. Sie ist deshalb
nach der Sitte ihres Landes eine unbegrenzt tugend-
hafte Person gewesen. Daß sie dies veranlaßt hat,
die Ermordung ihres Gatten zu verlangen und die
Heirat des Moralverletzers, das ist eben das Inter-
essante bei der Sache, denn es lehrt oder bestätigt
vielmehr den alten Erfahrungssatz, daß eine strenge
Befolgung moralischer und religiöser Glaubenssätze in
der Regel zu Konsequenzen führt, die geradezu wie
Wahnsinn erscheinen.
Übrigens hat das Altertum — Gyges regierte von
716—678 v. Chr. — in der Tat scharfe Bestimmungen
— 117 —
über die Nuditäten gekannt, tausendmal schärfer als
sie unsere so oft als Zeitalter des Muckertums ver-
schrieene Zeit für möglich hält. Nach Plutarch hat
auch Romulus ein Gesetz gegeben, nach dem der
des Todes sein sollte, der sich nackt von einem Weibes-
bilde beschauen ließ. Ich bin allerdings nicht in der
Lage, nachzuweisen, ob jemals auf Grund dieses Ge-
setzes hingerichtet worden ist, oder, falls dies wirk-
lich niemals geschehen sein sollte, ob die Männer
selbst so sittlich dachten und empfanden, daß tat-
sächlich keiner dieses Gesetz verletzte, was allerdings
eigentlich den Gedanken wachrufen müßte, daß dann
das Gesetz höchst wahrscheinlich überhaupt nicht
hätte gegeben zu werden brauchen, weil erfahrungs-
mäßig solche Gesetze doch nur dann gegeben zu
werden pflegen, wenn das, was sie verbieten, eben
schon so oft 'geschehen ist, daß man, um Wieder-
holungen zu verhüten, zu scharfen Strafandrohungen
greift. Ich kenne dagegen einen von Cassius und
Zeiler berichteten Fall, in dem das Gesetz nicht An-
wendung fand. Als nämlich die Gattin des Kaisera
Augustus, Livia, einst lustwandelte, begegneten ihr
einige nackte Männer. Da das Gesetz noch bestand,
sollten diese in der Tat hingerichtet werden, obwohl
doch die Moral ans chauungen seit den Tagen des braven
Romulus sich recht erheblich gemildert hatten. Die
Kaiserin erklärte, daß für ein sittenreines Weib der
Anblick eines nackten Mannes in keiner Weise ver-
letzend sei, da er nicht anders wirke als der Anblick
einer leblosen Statue; die ja auch die Sittlichkeit in
keiner Weise gefährden könne, wenn der Erblicker
überhaupt Sittlichkeit besitze. Dieser Ausspruch der
— 118 —
Kaiserin rettete in der Tat den nackten Männern das
Leben. Es läßt sich wohl auch schwerlich verkennen,
daß dieser Ausspruch völlig unanfechtbar ist, denn
der bloße Anblick eines Körpers ist in Wirklichkeit
für einen Menschen, der sittlich denkt und empfindet,
dasselbe wie der Anblick einer Statue; es wird nur
immer das in uns erregt und zum Mitklingen ange-
regt, was auf den gleichen Ton gestimmt ist, wie
nur die Saite eines Instruments mit schwingt und in-
folgedessen mitklingt, die auf den gleichen Ton, der
laut wird, gestimmt ist Wird also ein unsittlicher
Wunsch in uns lebhaft, weil wir etwas sehen, was!
an sich natürlich ist, so muß dieser Wunsch schon
vorher in uns gelebt haben; er wird angeregt, nicht
erst erzeugt und wir könnten diese wichtige und
interessante Frage ohne weiteres mit mathematischer
Sicherheit in jedem Einzelfalle beantworten, wenn wir
so klar wie die Kaiserin definiren könnten, was sitt-
lich und was unsittlich sei. Ich vermag in den sexuellen
Trieben nichts unsittliches zu finden und meine, daß
die gute Livia Pflichtgefühl und Sittlichkeit doch nicht
völlig einwandfrei getrennt hat. Vielleicht ist es ihr
überhaupt nur darum zu tun gewesen, den Männern,
von denen sie wußte, daß sie nichts Böses beabsichtigt
hatten, das Leben zu retten. Vieleicht hat sie auch
den übereifrigen Sittlichkeitshütern eine Lektion er-
teilen wollen.
Das Gesetz des Romulus unterscheidet sich von
dem lydischen Gesetze, das dem armen und leicht-
fertigen König Gandaules das Leben kostete, dadurch,
daß nach diesen das Anblicken nackter Weiber, nach
jenem der Anblick nackter Männer als todeswürdiges
— 119 —
Verbrechen galt. Der Unterschied ist also doch sehr
wesentlich, obwohl bei ganz oberflächlicher Betrach-
tung überhaupt kein Unterschied vorhanden zu sein
scheint Für die Lyder und überhaupt die Orientalen
ist das Weib für jeden Mann, der nicht ihr Gatte ist,
ein absolutes Noli me tangere. Es ist das ungefähr
dasselbe, was ich im „Liebesleben im alten Deutsch-
land" über die Keuschheit der Frauen gesagt habe,
d. h. das Weib war als Eigentulm des Mannes un-
antastbar. Auch im Orient ist das Recht des Mannes
der Grundgedanke der strengen Vorschriften. Anders
im Gesetz des Romulus. Da war eben die stolze
Würde des Mannes entscheidend dafür, daß diese nicht
vor den Weibern herabgewürdigt wurde. Die Weiber
selbst waren nicht so vor dem Betrachtetwerden be-
wahrt. Es kam vielmehr im alten Rom garnicht darauf
an, ob der entblößte Körper eines Weibes vor den
Blicken der Männer geschützt wurde oder nicht;
jedenfalls wurde das Weib, das sich nackt den Blicken
eines Mannes aussetzte, nicht getötet noch mit Strafen
bedroht, sofern es nicht gerade zu den vestalischenl
Jungfrauen gehörte, die ja aus wesentlich anderen
Gründen zu einer mimosenhaften Empfindsamkeit ge-
zwungen waren. Man liebte es sogar, bei festlichen
Aufzügen nackte Weiber auftreten zu lassen, und es
ist sicher, daß dieser Anblick auf die Römer doch
erheblich anders wirkte als das Beschauen einer
schönen Statue; das lag aber an den Römern.
Denselben Geschmack an Nuditäten fanden auch
die Griechen, die sogar Ringkämpfe von nackten
Weibern aufführen ließen, also doch noch einen Schritt
weiter gingen als wir, die wir unsere Ringkämpferinnen
— 120 —
wenigstens in Trikots schlüpfen lassen, obwohl ja auch
bei uns das wesentlichste Interesse an solchen Ring-
kämpfen viel weniger auf die gebotene Gewandtheit
und Kraftentfaltung als auf die Präsentation des weib-
lichen Körpers in allerlei reizvollen Situationen und
auf das Muskelspiel zurückzuführen ist, wenigstens
zieht dieses Interesse die meisten Besucher zu den
Damenringkämpfen hin. Die weiblichen Ringkämpfe
im alten Griechenland erfreuten sich großer Beliebt-
heit, und es mag dabei in der Tat auch so zuge-
gangen sein, daß die Zuschauer wirklich auf ihre
Rechnung kamen. Das war weder verboten, noch er-
schien es Anstoß erregend; im Gegenteil hatte schon
Lykurg diese Materie gesetzlich geregelt, und Plato
soll dieses Gesetz ausdrücklich gutgeheißen und be-
stätigt haben. Der fromme Eusebius und auch andere
Kirchenväter waren über diese Ungeniertheit äußerst
aufgebracht und schimpften über die sündhafte Un-
sittlichkeit wie die Rohrspatzen. Sie sind besonders
deshalb so aufgebracht gewesen, weil die Nacktheit
keineswegs auf das weibliche Geschlecht beschränkt
blieb. Es sollen vielmehr nackte Jungfrauen mit
nackten Jünglingen solche Ringkämpfe ausgefochten
haben, ja selbst ältere Männer mit älteren Frauen
sollen als Ringkämpfer in die Schranken getreten sein.
Ebenso sollen bei den öffentlichen Spielen und Auf-
zügen Männer und Weiber in bunter Reihe völlig
nackt sich beteiligt haben. Diese Unsitte wird be-
sonders aus dem alten Athen berichtet.
Anders soll bei den Spartanern der Nuditätskult
betrieben worden sein. Es war dort wohl Brauch,
daß die Jünglinge völlig nackt miteinander Ring-
— 121 —
kämpfe veranstalteten, aber es war den Weibern streng
verboten gewesen, sich dort sehen zu lassen oder
gar den Kampfesspielen zuzusehen. Nun stimmt das
allerdings historisch keineswegs mit dem, was über
die Unsitte der Athenienser berichtet wird, denn
Lykurgos war nicht Gesetzgeber in Athen, sondern
spartanischer Legislator. Hat er also die Kämpfe der
nackten Jünglinge und Jungfrauen gesetzlich vorge-
schrieben, dann kann er sie doch nur den Spartanern
angeraten haben, nicht den Atheniensern, die sich jeden-
falls von den spartanischen Gesetzgebern keine Vor-
schriften hätten machen lassen. Es ist schon aus
diesem Schnitzer zu entnehmen, daß auch in den an-
scheinend ein wandsfreiesten Berichten über das öffent-
liche Leben des Altertums nicht alles Gold ist, was
glänzt. Man wird wohl deshalb zu der Annahme be-
rechtigt sein, daß in Spartan dieselben Unsitten
herrschten wie in Athen. Freilich wird man dabei
nicht allzu äußerlich urteilen dürfen. Daß die Ring-
kämpfe nackter Frauen und Männer nach unseren
Begriffen etwas überaus Skandalöses darstellen, kann
nicht bestritten werden, aber daß sie gesetzlich ge-
regelt waren, das läßt doch schon erkennen, daß sie
mindestens nicht als eine Unsittlichkeit empfunden
wurden. Man muß dabei immer davon ausgehen, daß
auch die griechischen Gesetze zur Zeit keineswegs
das duldeten, was als unsittlich erschien, und weder
Lykurgos noch Plato dürfen als Männer gedacht
werden, die etwa darauf ausgegangen wären, der Un-
sittlichkeit in ihrem Vaterlande Tür und Tor zu
öffnen. Im Gegenteil; sie waren Männer, die das
Beste erstrebten, und wenn sie die Frauen an Leibes-
— 122 —
Übungen teilnehmen ließen, so glaubten sie, gerade da-
durch das Wohl des Vaterlandes zu fördern, denn
starke, gesunde Weiber waren nach ihrer Ansicht
allein befähigt, starke und gesunde Nachkommen zu
liefern, ein Gedanke, der an sich so absolut richtig"
und zutreffend ist, daß es sich wohl erübrigt, ihn noch
besonders auf seine Berechtigung zu prüfen. Eine
andere Frage ist es allerdings, ob es eben nur den
einen Weg gegeben habe, die Gesundheit und Körper-
kraft der Weiber zu fördern. Aber auch dabei darf
man nicht übersehen, daß der Geist jener Zeiten, wie
dies auch schon in den olympischen Spielen in die
Erscheinung tritt, nicht die im Verborgenen blühenden
Veilchen als höchstes Ideal betrachtete, sondern daß
Jeder, der über ungewöhnliche Kraft und Gewandtheit
verfügte, in erster Linie danach trachtete, diese
schätzenswerten Eigenschaften auch in der Öffent-
lichkeit anerkannt zu sehen. Es gibt eben keinen leb-
hafteren Ansporn als den, öffentlich um die Palme
zu ringen.
Dieser Ansporn, den das Ringen nach öffentlicher
Anerkennung naturgemäß bietet, ist das Gesunde und
doch auch zugleich das Bedenkliche bei der ganzen
Sache, Gesund, weil eben der Zweck der aufge-
wendete Mühe und Anstrengung darauf gerichtet ist,
das Höchste und Vollkommenste zu erreichen. Die
Mühe ist der Preis des Erfolges; aber diese Mühe
ist ja gerade das, was einziges Erfordernis ist, die
Kräfte zu stählen, die Muskeln zu üben und den
Körper geschmeidig und gewandt zu machen. Wo
alle im lebhaftesten Wettbewerb stehen, wird natür-
lich die aufgewendete Arbeit für alle den schönen
— 123 —
Erfolg haben; alle werden kräftig und gesund ihre
Glieder bilden und erhalten. Ließ man das weib-
liche Geschlecht an diesem Wettkampfe teilnehmen,
dann wurde ohne weiteres erreicht, daß es nicht an
der Hauptbedingung, unter der ein starkes und festes
Geschlecht sich fortpflanzen konnte, fehlte, nämlich an
starken und gesunden Müttern. Das war also eine
durchaus solide Idee. Daß man die Kampfspiele nackt
übte, das ergibt sich zwanglos aus der Natur der Sache,
denn die Kleidung, die jede freie Bewegung hindert,
dem Gegner außerdem gerade beim Ringkampfe außer-
ordentliche Vorteile bietet, hätte einem wirklichen und
uneingeschränkten Entfalten von Kraft und Gewandt-
heit unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt.
Trikots, durch die man in unserer Zeit Gymnastikern
und ähnlichen Artisten die „Arbeit" erleichtert oder
überhaupt erst ermöglicht, gab es nicht; man hätte
sie überhaupt nicht herzustellen vermocht, selbst wenn
man der Ansicht gewesen wäre, daß eine künstliche
Verhüllung des Nackten dringend notwendig sei. Diese
Ansicht hegte man aber auch keineswegs, weil man
glaubte, daß ein Mensch, der über einen schön ge-
wachsenen und kräftig gebauten Körper verfüge, sich
dessen unter keinen Umständen zu schämen brauche.
Vor allen Dingen würde man es nicht begriffen haben,
daß ein nackter Körper etwas empörend Unanständiges
sei, daß aber derselbe Körper sofort absolut einwands-
frei bleibe, sobald er in einem fleischfarbigen Trikot
erscheine, das man zwar als eine Kleidung nicht
einmal erkenne, das aber schon, weil man es bloß
vermute, alle moralischen Bedenken sofort vernichte.
Ich weiß sehr wohl, daß ja das Trikot allein nach
— 124 —
unseren heutigen Begriffen noch nicht ausreichen
würde, seinen Träger oder seine Trägerin als wohl-
anständig erscheinen zu lassen, daß vielmehr zu dem
Trikot noch ein Übergewand zu treten hat, das den
Oberkörper schamhaft verhüllt; aber wenn das Ge-
sagte wirklich hierdurch völlig widerlegt werden könnte,
nun dann dürfte man sich doch einfach auf das Über-
gewand beschränken. Das würde aber nach heutigen
Begriffen doch absolut nicht ausreichen ; der Gedanke,
völlig nackte Beine zu sehen, würde vielmehr auch
denen ein Horror sein, die daran gewöhnt sind, unsere
Damenwelt bei Bällen und sonstigen feierlichen Ge-
legenheiten mit so weit entblößtem Oberkörper zu
betrachten, daß hieran eine ganz unbefangen urteilende,
empfindsame Seele erst recht ein sogenanntes morali-
sches Ärgernis nehmen würde.
Ich möchte das Gesunde des Gedankens aber
auch darin erblicken, daß man gerade an der Nacktheit
keinen Anstoß nahm, weil man eben mit regstem
Eifer den Verlauf des Kampfes verfolgte, an den kräf-
tigen und gewandten Bewegungen der Kämpfenden
Gefallen fand und durch dieses Interesse so weit in
Anspruch genommen wurde, daß man auf den Ge-
danken, die .Nacktheit könnte anstößig sein, garnicht
verfiel. Das ist jedenfalls ein viel gesunderer Zustand
als der, bei dem es den Zuschauer wenig oder gar-
nicht fesselt, was sich vor seinen Augen an Handlungen
abspielt, sondern bei dem es ihm in der Hauptsache
bloß darum zu tun ist, etwas zu entdecken, das nach
seiner Ansicht nicht wohlanständig, sondern scham-
verletzend und moralisch empörend ist. Es gibt in der
Tat solche Käuze viel mehr, als man gewöhnlich glaubt.
— 125 —
Wie kann nun aber der Ansporn der öffentlichen
Anerkennung gesund und doch zugleich bedenklich
sein ? Die Beantwortung dieser Frage ist immer etwas
rein Subjektives, d. h. es kommt immer ganz auf die
Persönlichkeit an, die die öffentliche Anerkennung auf
sich einwirken läßt, und zweitens auch auf die Per-
sonen, die öffentliche Anerkennungen zollen. Es ist
ein alter Ausspruch: „Wenn die Weiber den Rock
oder das Hembd ausziehen, werfen sie auch zugleich
alle Schamhaftigkeit mit hinweg." Auch das Alter-
tum war dieser Ansicht im allgemeinen. Es ist des-
halb immer die an Wahrscheinlichkeit grenzende Mög-
lichkeit gegeben, daß ein Weib, das nackt in die Arena
tritt, doch den Gedanken hieran auch nicht durch die
faktisch etwa entstehende Notwendigkeit, in diesem
Aufzug erscheinen zu müssen, zu bannen vermag. Es
wird deshalb die gezollte Anerkennung nicht bloß auf
Rechnung der geleisteten Arbeit, sondern zum großen
Teile auch auf Rechnung der bloßen Erscheinung
setzen. Das ist eben die Klippe, an der die Harm-
losigkeit des Auftretens so oft schon gescheitert ist
und noch so oft scheitern wird. So lange die Zu-
schauer noch die harmlose naive Freude an den Dar-
bietungen eines Kampfes nackter Weiber so voll auf
sich wirken ließen, daß persönliche Begierden dagegen
nicht aufzukommen vermochten, hatte in der Tat die
für uns viel mehr als bedenkliche Sitte eigentlich nur ihre
gesunde Seite. Wie lange hat sie sich gehalten? Das
ist eine Frage, die sehr schwer zu beantworten ist;
jedenfalls hat aber selbst in Zeiten, in denen das
griechische Heldentum noch im Zenith seines Ruhmes
sich sonnen konnte, die naive Harmlosigkeit schon
— 126 —
nicht mehr bestanden, und der sittliche Verfall ließ
den politischen nicht allzulange auf sich warten. Ge-
rade durch die große Verschiedenheit der Moralauf-
fassungen erklären sich aber auch die außerordentlich
verschiedenen Ansichten über denselben Brauch, der
ja, so absurd das klingen mag, trotz äußerlicher Gleich-
heit in den verschiedenen Perioden ein völlig ver-
schiedener war. Ich komme auf den Dionysiusdienst
und die Bacchanalien zurück.
Im orientalischen Altertum liebte man die Nudi-
täten im allgemeinen. So wird unter Berufung auf
Curtius geschrieben : „Die Babylonischen Weiber, wenn
sie bey einem Gastmahl waren, stelleten sich An-
fangs gantz ehrbar und züchtig, bald aber drauf zogen
sie die Ober-Kleider aus und letztlich warffen sie den
Rock mit samt dem Hembd hinweg." Die Kunst
der alten Schriftsteller, mit einigen Worten ein ganzes
Stück Kulturgeschichte zu erzählen, zeigt sich auch
an diesem kurzen Beispiel im schönsten Lichte. Aber
mit so wenigen Worten ist um die Geschichte des
alten, mystischen Babylon nicht herumzukommen.
Babylon ist wohl die älteste, prächtigste und be-
rühmteste Stadt des orientalischen Altertums, die schon
unter Nabuchodonosor (Nebukadnezar) 2 Millionen
Einwohner gehabt haben soll, und deren hohe Kultur
und Wissenschaft unsere Bewunderung hervorrufen
muß. Soll doch schon damals ein Problem der Tech-
nik gelöst worden sein, das wie eine Errungenschaft
neuester Zeit anmutet, nämlich ein Tunnel unter dem
Euphrat, der die alte Stadt in zwei Hälften teilte,
hindurch. Da über den Euphrat hinweg auch eine
breite prächtige Brücke den Verkehr zwischen den
— 127 —
beiden Stadtteilen vermittelte, wird man aus der Tunnel-
anlage einen Schluß auf den ungeheuren Verkehr
ziehen dürfen, denn man hat den Tunnel wohl bloß
deshalb angelegt, um eine Gefährdung des Fußgänger-
verkehrs durch den Wagenverkehr zu vermindern.
Wenn man diese alte Stadtkultur studiert, mutet sie an,
als müsse man auf die Schilderung elektrischer Straßen-
bahnen stoßen. Es hat allerdings das Studium dieser
untergegangenen Kulturwelt etwas ungemein Weh-
mütiges ; es wirkt wie ein M e m e n t o m o r i , das
uns daran erinnern könnte, daß die Bäume nicht in
den Himmel wachsen, und daß vielleicht nach Jahr-
tausenden auch von unserer Pracht und unserer Kultur
nur ein totes Trümmerfeld der forschenden Nach-
welt noch Kunde gibt.
Die Gründung Babylons wird in der Bibel den
Nachkommen Noahs zugeschrieben; aber historisch
läßt sich wenig nachweisen, und daß die Bibel ge-
rade Babylons mit besonderer Aufmerksamkeit ge-
denkt, ist kein Wunder; ist doch mit dieser Stadt
die Geschichte des Judentums innig verknüpft. Schon
die biblische Erzählung des Turmbaus zu Babel ist in
ein mythisches Gewand gekleidet, soll doch erst als
Strafe für das zu kühne Unternehmen die Verschieden-
heit der einzelnen Sprachen entstanden sein, die ja in
der Tat schon im Altertum als ein Übelstand em-
pfunden wurde, sicherlich sich aber sehr leicht anders
erklären läßt als durch die Turmbaugeschichte. Es
wäre aber gleichwohl völlig verfehlt, den babylonir
sehen Turm ins Fabelreich verweisen zu wollen. Der
Turm hat vielmehr wirklich bestanden und war sicher-
lich der merkwürdigste Tempelbau, der je existierte,
— 128 —
ein Tempel des Belu, der obersten Gottheit der Baby-
lonier. Mag der Qedanke, in dem Turm aus reli-
giösem Fanatismus etwas Unerhörtes zu scharfen, die
Grundidee des Baues gewesen sein; mag es sich
darum gehandelt haben, ein Werk zu errichten, das
auch der größten Flut widerstehen könne, jedenfalls
ist der Turm eines der vielen Weltwunder gewesen.
Daß in dem alten Babylon mit seiner hochent-
wickelten Kultur die Bewohner bemüht waren, des
Lebens Unverstand mit vollen Zügen zu genießen, das
würde man ohne weiteres annehmen dürfen; hier ist
aber auch historisch erwiesen, daß in der Tat die
alten Babylonier eine äußerst heitere Lebensauffassung
besaßen, daß sie den wilden Sinnentaumel über alles
liebten und daß sie es verstanden, sich die Zeit zu
vertreiben. Nicht allein die schon oben zitierte Stelle
nach Curtius zeigt, wie es bei den frohen Gelagen,
der Babylonier zuzugehen pflegte, sondern es lassen
sich hierfür auch noch andere Belege erbringen. Die
Curtius-Worte faber sind gerade ihrer Kürze wegen
trefflich. Es ist da gesagt, daß zunächst bei den Gast-
mählern der Anstand durchaus gewahrt blieb, daß
erst im Verlaufe des Gastmahls die wilde Lust in ihr
Recht trat, und daß die Damen dann ihre kostbaren
Gewänder ablegten und sich den Gästen unverhüllt
zeigten.
Es ist natürlich über die älteste Wunderstadt des
Orients viel gefabelt worden, aber sie hat sicherlich
bestanden und eine große Bedeutung gehabt. Die
älteste Kultur ist von dort verbreitet worden, und es
ist nicht alles lautres Gold, was in den alten Erzäh-
lungen über die Wunderstadt mit ihren hängenden
— 129 —
Gärten glänzt. Schon an diese hängenden Gärten
knüpft die Sage an, denn die Gärten selbst werden
als eine Anlage der Königin Semiramis gepriesen, und
diese Königin ist in einen solchen Dunst von Mythen,
Sagen und Legenden gehüllt, daß sie selbst zum Schemen
geworden ist. Man kann es nicht einmal übersehen,
was an dieser Semiramis Fleisch und Blut, was Gott-
heit an ihr jst, denn es wird ja in der Tat ver-
mutet, daß sie überhaupt keine Königin gewesen sei,
sondern eine von den Assyrern verehrte Gottheit, die
also den umgekehrten Weg in der Sage genommen
hätte, den sonst große Sterbliche nahmen. Diese
werden nach einem Leben großer Taten im Glauben
des Volkes nicht selten zu Göttern; j,ene dagegen
wäre aus einer Gottheit in die menschliche Gesellschaft
aufgenommen worden, ich weiß nicht, welcher Weg
der des größeren Ruhmes ist. Jedenfalls soll die Se-
miramis 2000 Jahre v. Chr. gelebt haben, also in einer
Spanne Zeit, in der eine historische Persönlichkeit schon
in ihren scharfen Umrissen leicht verwischt werden
kann. Nach Herodot ist eine Babylonische Königin
Semiramis eine durchaus historische Persönlichkeit;
über das Jahr ihres Lebens und Regierens drückt dieser
klassische Zeuge sich allerdings weniger klassisch aus ;
er sagt, sie habe fünf Generationen vor Nitokris re-
giert. Da Gottheiten nun aber höchst selten auf die
Welt niedersteigen, selbst nicht um den Preis, hier als
Königinnen einen Thron zieren zu dürfen, da die
Semiramis bei allen ihren Vorzügen nicht gerade gött-
lich, sondern sehr, sehr menschlich gelebt haben soll,
so wird man sie wohl richtiger zu den Menschen
als zu den Göttinnen zu rechnen haben, wenn man
9
— 130 —
sie nicht völlig als ein Fabelwesen betrachten will,
wozu doch wieder nicht der mindeste Grund vor-
liegen kann, da jn der Tat die Semiramis wirklich
als Königin auf Erden gewandelt sein und große
Taten verrichtet haben muß. Sie soll zunächst die
Gattin des Onnes gewesen sein, den einige Quellen
als Feldherrn des Königs Ninus, andere als Statthalter
von Syrien bezeichnen. An der Seite ihres Gatten
soll sie den Krieg gegen Oxyartes von Baktra mit-
gemacht und dabei sich ein ganz besonderes Verdienst
erworben haben. Es wird nämlich erzählt, sie habe
die Stadt und besonders die hauptsächlichsten Schwä-
chen der Verteidigung genau gekannt und selbst die
Mauer der Stadt erstiegen, um so den Ihrigen den
Weg zu zeigen, der mit Erfolg im Sturme eingeschlagen
werden könne. Nun tritt wieder ein besonderes Mo-
ment in die Sage. Wenn es sicherlich auf eine un-
gewöhnliche Gattenliebe schließen läßt,, daß Semiramis
die Strapazen des Feldzug auf sich nahm, um dem
Gatten nahe zu bleiben, so tritt dies besondere Mo-
ment, das ich als ein echt orientalisches bezeichnen!
will, doppelt auffällig in die Erscheinung. Semiramis
wurde die Gattin des Königs Ninus, dem sie sehr
gut gefallen hatte, und der besonders ihren Helden-
sinn beim Besteigen der Mauer bewundert hatte. Wie
das möglich war? Im Liebesleben des orientalischen
Altertums war eben alles möglich. Onnes soll ein-
gewilligt haben, daß er auf seine Frau verzichtete,
und daß diese den König heiratete. Ein sonderbarer
Mann, wenn diese Einwilligung aus freiem Herzen
ohne Zwang gekommen ist. Das ist allerdings schwer-
lich anzunehmen, denn die großen Vorzüge der Se-
— 131 —
miramis, die den König bis zur Tollheit entflammten,
sind doch wohl auch dem guten Onnes nicht ver-
borgen geblieben ; er hat sie wahrscheinlich noch besser
gekannt als der König. Es wird ja auch berichtet,
daß Onnes Selbstmord begangen habe. Das läßt
schwerlich darauf schließen, daß er sich gar so leichten
Herzens von der Gattin, die ihm bis ins wilde Kriegs-
getümmel gefolgt war, trennte, um sie dem König zu
überlassen. Gestorben ist Onnes jedenfalls, vielleicht
hat auch da der König dem Entschlüsse des abge-
tanen Gatten etwas nachgeholfen, wie der König Da-
vid dem Uria beim Abschied vom Leben behilflich
gewesen ist, als er sich überzeugt hatte, daß der
Bathseba der Gatte durchaus entbehrlich war. So
etwas nahm man nicht so genau; man dachte viel-
mehr, selbst lieben macht glücklich, wie unser mate-
riellerer Spruch lautet, selber essen macht fett. Ich
habe diese Geschichte wiedergegeben, weil sie, gleich-
viel ob sie wahr ist oder nicht, doch einen recht
interessanten Einblick in die Auffassung alt orientali-
schen Liebeslebens gestattet. Ich will auch die anderen
wesentlichsten Angaben über das Königtum der Se-
miramis wiedergeben.
Dies vielumstrittene Weib soll die Mutter, nach
anderen Quellen die Tochter des Königs Ninus ge-
wesen sein. Diese nahe Verwandtschaft habe aber den
König nicht gehindert, die Semiramis zu seiner Gattin
zu machen. Der feste Pol in aller dieser Erzählungen
Flucht ist der, daß Semiramis dem König einen Sohn
geboren habe, der Ninyas genannt wurde. Eine
v/eitere Übereinstimmung in allen Erzählungen ist die,
daß Ninus nicht lange das Glück seiner Ehe mit Se-
— 132 —
miramis genossen habe; er sei sehr bald gestorben,
und nach seinem Tode habe Semiramis die Regierung
allein geführt. Dieses Faktum wird übereinstimmend
gemeldet; aber über die Todesart des Königs Ninus
gehen die Berichte wieder sehr weit auseinander.
Nach der einen Ansicht soll Ninus friedlich eines
natürlichen Todes gestorben sein. Nach anderen Er-
zählungen soll Semiramis ihn ermordet haben. Das
würde ja zu der oben zitierten Ansicht, daß Ninus
das treue Band der Liebe und Ehe zwischen Onnes
und Semiramis gewaltsam zerrissen, die Frau für sich
genommen und den Gatten in den Tod getrieben habe,
nicht übel passen. Es wäre die Rache für die ab-
scheuliche Tat des Ninus. Hier will ich noch einer
anderen Variante gedenken. Ninus soll die Semiramis
als Sklavin an seinen Hof geführt haben, um sie sich
zu eigen zu machen. Ich weiß nicht, ob auch nach
dieser Variante die schöne Semiramis die Gattin des
Onnes gewesen sein soll; möglich oder sogar wahr-
scheinlich ist es sicher. Semiramis war nicht nur
schön, sondern auch klug; sie wußte es, die Leiden-
schaft des Königs bis zum Wahnsinn zu entflammen,
so daß Ninus sich soweit beherrschen ließ, um der]
schönen und stolzen Semiramis auf 5 Tage die Re-
gierung zu überlassen. Das war im orientalischen
Altertum durchaus möglich, und nicht einmal etwas
so gar Absurdes. Semiramis aber soll diese Herrscher-
gewalt benutzt haben, um den König zu ermorden
und die Regierung für alle Zeit zu behalten. Sie hat,
wenn auch aus anderen Motiven, vielleicht aber auch
aus ganz ähnlichen, demnach gehandelt wie die jü-
dische Judith, auf die ich noch zurückkommen werde.
— 133 —
Ninus ist auch nach dieser Variante als ein Opfer
seines Liebeswahns und seiner Leidenschaft gefallen.
Und das Volk?
Ich habe schon an anderer Stelle gezeigt, daß
das Volk in hündischem Gehorsam vor dem Herrscher-
thron kroch und gegen Königsmorde vielleicht heim-
lich murrte, nicht aber sie zu rächen wagte, wenn
der Mörder selbst den Thron bestieg, denn in diesem
Augenblicke war er ja Herr über Tod und Leben
seiner Untertanen geworden. Nach der alten Sage
ist Semiramis sogar die Erbauerin von Babylon ge-
wesen; nach anderer Meinung, die viel mehr Wahr-
scheinlichkeit für sich hat, soll sie nur im bereits be-
stehenden Babylonischen Reiche Städte gegründet
haben. Daß ihre Regierung über Babylon aber eine
für das Volk günstige und vorteilhafte war, darin
stimmen die Berichte überein. Sie soll Kriege ge-
führt, mit Genie und Energie gekämpft und im
Lande viel Gutes geschaffen haben. So wird
von ihren Zügen nach Persien, nach Ägypten, Libyen
und Aethiopien erzählt. Ob sie Großes auf dem Kriegs-
pfad erreicht hat, wird nicht gesagt; es ist aber
wohl anzunehmen, daß der Kriegsgott ihr nicht alle
Erfolge versagt hat; denn sonst würde ihr wohl der
Mut zu neuen Unternehmungen vergangen sein. Das
war aber keineswegs der Fall ; im Gegenteil. Sie wagte
sich sogar an ein gewaltiges Unternehmen und zog
gen Indien. Dabei hatte sie aber nicht nur keinen
Erfolg, sondern sie schnitt noch schlimmer ab als
Napoleon I. bei seinem Zuge gegen Rußland. Ihr
Heer wurde völlig vernichtet, und sie entkam mit
großer Not mit etwa 20 Mann. Damit war aber auch
— 134 —
ihr Schicksal besiegelt. Nachdem sie 24 Jahre regiert
hatte, verschwand sie im Alter von 62 Jahren von
der Bildfläche.
Hier tritt nun wieder die Sage in ihr Recht,
denn es wird erzählt, daß die einst gefeierte Semira-
mis die Gestalt einer Taube angenommen habe und
davongeflattert sei. Für .diesen Abschluß ihrer Re-
gentenherrlichkeit lassen sich freilich keine einwands-
freien historischen Beläge erbringen, und wenn die
Taube so oft als Symbol der keuschen Unschuld gilt,
so würde Semiramis zu diesem sanften Bilde eigent-
lich auch wohl sehr wenig gepaßt haben. Sie soll
vielmehr ein sehr wenig taubenhaftes Leben geführt
haben, und man hat später die über alle Begriffe
„galante" Kaiserin Katharina II. wohl die Semiramis
des Nordens genannt. Wenn das in Rücksicht auf das
Liebesleben der Katharina II. auch nur einen Schein
des Rechtes gehabt hat, dann hat es um die Moral
der Semiramis sehr übel ausgesehen. Jedenfalls hat
die alte Sage, daß Semiramis als Taube den Nach-
stellungen ihres Sohnes entgangen sei, viel dazu bei-
getragen, die ganze Geschichte von der Semiramis als
eine Mythenbildung erscheinen zu lassen. Soll doch
auch Iphigenia in einer Wolke vom Opferaltar ent-
führt und gerettet worden sein; Wolke und Taube
— an sich freilich recht verschiedene Dinge, für die
Sage aber sind sie völlig gleichwertig. Der Sage
bedarf es aber in diesem Falle wirklich nicht, denn
daß Ninyas seiner Mutter nachgestellt hat, um sie
zu ermorden, daß sie schließlich wirklich von der
Bildfläche verschwunden ist, darin berichten die ver-
schiedenen Quellen völlig übereinstimmend; es ist
— 135 —
deshalb doch ziemlich naheliegend, der Quelle zu
folgen, die angibt, daß Ninyas seinen Plan wirklich
durchgeführt, d. h. die Semiramis tatsächlich ermordet
habe. Die Quelle, die dies berichtet, erzählt, daß
Semiramis 45 Jahre lang für ihren Sohn die Regierung
geführt habe. Das wäre an sich schon ein Qrund ge-
wesen, in dem prädestinierten Herrscher den Wunsch,
nun endlich selbst die Zügel der Regierung in die
Hand zu nehmen und sich nicht weiter am Gängel-
bande führen zu lassen, wachzurufen. Es ist für einen
Orientalen ohnehin keine Kleinigkeit, sich von einem
Weibe bis zur vollen Bedeutungslosigkeit zurück-
drängen zu lassen. Besonders als Semiramis so ge-
waltiges Unglück im Kriege gegen Indien gehabt
hatte, mochte der Wunsch eines kräftigen, tatenlustigen
Mannes, die alte, verbrauchte Frau zurücktreten zu
sehen, sogar etwas Staats erhaltendes für sich haben.
Es wäre ja nun damit freilich noch nicht gesagt ge-
wesen, daß dieser Wunsch nur durch einen Mord zu
verwirklichen sein konnte; aber die herrschsüchtige
und, wie viele Quellen behaupten, ausschweifende
Semiramis wird wohl nicht freiwillig zurückgetreten
sein, und dann gibt es auch noch ein psychologisches
Moment, das nicht übersehen werden darf.
Semiramis hatte den Ninus ermordet, um die
Herrschaft zu erlangen. Bei ihrer Charakteranlage und
dem Hange zu Ausschweifungen, der ihr wenigstens
später nachgewiesen oder doch mindestens nachgesagt
wurde, mochte auch die Annahme, daß sie den Ninus
an sich gelockt und ihren Mann, den Onnes, zum
Selbstmord getrieben habe, den Ninyas beherrschen.
Er konnte durch den Mord der Mutter den Mord des
— 136 —
Vaters rächen. Daß er sich gerade 45 Jahre Zeit
gelassen haben sollte, um die im Orient wohl schon
im hohen Altertum bestehende Pflicht der Blutrache
zu üben, das würde freilich nicht gerade auf einen
schnellentschlossenen, impulsiven Charakter schließen
lassen; es steht ja aber auch nicht fest, daß Ninyas
ein solcher gewesen sei. Er soll allerdings der Er-
bauer des alten Ninive gewesen sein, eine historische
Tat, die andere Berichte wieder seinem Vater, dem
Ninus, andichten, während die Bibel als Gründer von
Ninive den gewaltigen Jäger Nimrod nennt, der ja
allerdings der historische Ninus zu sein scheint, denn
von Nimrod ist eine einwandsfreie Überlieferung nicht
auf uns gekommen. Wenn Josephus, der als Ge-
schichtsschreiber uns so manchen Aufschluß gegeben
hat, den Nimrod als den Erbauer des babylonischen
Turms und als einen niederträchtigen Bösewicht, der
zuerst das Feuer angebetet habe, bezeichnet, so ist
leicht zu erkennen, daß die Quellen, aus denen Jo-
sephus diese Weisheit schöpft, nicht zuverlässiger sein
können als der biblische Bericht, und daß Jesephus viel-
mehr zweifellos aus jüdischen Legenden geschöpft hat.
Darauf mögen auch die arabischen Überlieferungen
fußen, nach denen Nimrod jeder Schandtat für fähig
gehalten wurde, ja geradezu als eine Art bösen Prinzips
galt, der aber auch da als Gründer und Erbauer der
großen, längst verfallenen Städte Mesopotaniens gilt.
Er gilt gleichzeitig als Begründer der Astronomie,
die ja im alten Babylon sich zu einer bestgepflegten
Wissenschaft entwickelte. Man wirft ihm also bei
hochverdienstlichen Werken auch die größten Schänd-
lichkeiten vor. Warum? Ich glaube aus einem ahn-
— 137 —
liehen Grunde, aus dem unter christlicher Kultur
Leuten, die Großes leisteten, nicht selten vorgeworfen
wurde, sie ständen mit dem Teufel im Bunde und
wären deshalb schlechte, boshafte Menschen, die jeder
gemeinen Handlungsweise fähig seien. Es muß das wohl
auf die Sucht des menschlichen Herzens, sich selbst
dadurch zu erhöhen, daß man Größere verkleinert
und deren Verdienste durch allerlei üble Nachreden
zu verringern trachtet, zurückzuführen sein. Die Bibel
selbst sagt von Nimrod nur: „Der fing an, ein ge-
waltiger Herr zu sein auf Erden und war ein ge-
waltiger Jäger vor dem Herrn." Das sind doch sicher-
lich keine so besonders üble Dinge, und wenn es
heißt, ein gewaltiger Jäger „vor dem Herrn", so ist
auch dieser letztere Zusatz höchstens eine Andeutung,
daß Nimrod auch „vor dem Herrn" bestand. Wie
man darauf gekommen ist, ihn als Feueranbeter zu
nennen, ist schwer zu sagen. Es ist auch nicht zu
sagen, ob Nimrod und Ninus dieselbe Person dar-
stellten, für die nur der Name abweichend angegeben
ist; daß aber Nimrod mit Ninyas identisch sein könne,
das erscheint völlig ausgeschlossen, und es ist dem-
nach auch nicht einleuchtend, warum man letzteren»
für den Erbauer von Ninive gehalten hat. Ich habe
aber die weite Abschweifung nur deshalb unternommen,
weil es mir immerhin wichtig erschien, zu zeigen, wie
widerspruchsvoll und in undurchdringliche Mythen ge-
hüllt die dürftigen Berichte über das älteste orien-
talische Altertum sind. Man nimmt an, daß es in
der Tat einen assyrischen König Ninus gegeben habe,
und setzt dessen Regierungszeit auf mindestens 2100
Jahre vor Christus. Das ist gewiß auch nicht zu
— 138 —
hoch gegriffen; aber schon aus der Geschichte der
Semiramis erkennen wir, daß es zu jener Zeit auch
schon eine indische Kultur gegeben hat, die wohl
ebenfalls mindestens annähernd der assyrisch-baby-
lonischen äquivalent war. In der Kriegskunst hat sie
vielleicht die assyrische übertroffen. Sicher ist dies
allerdings auch nicht, denn die Tatsache, daß das
Heer der Semiramis in Indien völlig vernichtet wurde,
läßt sich schließlich auch durch andere Umstände er-
klären; es erscheint sogar nicht einmal wahrscheinlich,
daß ein großes Heer durch einen so gewaltigen Marsch
durch unbekannte und wohl auch unwirtliche Gegen-
den, in denen es das Gelände nicht einmal kannte,
schwer zu leiden gehabt hat, und daß es den Indern,
selbst bei nicht übertriebenen großen taktischen Fähig-
keiten leicht gelingen konnte, dem fremden, mit den
örtlichen Verhältnissen nicht vertrauten Heere Hinter-
halte zu legen.
Wenn man die Unzulänglichkeit der einwandsfreien
historischen Quellen über das älteste Babylon berück-
sichtigt, wird man wohl schwerlich mit Sicherheit be-
haupten dürfen, daß gerade das, was über die Vorliebe
für Nuditäten und Sittenlosigkeit des Volkes und der
Semiramis behauptet wird, als über jeden Zweifel
festgestellt gelten dürfte. Viel eher läßt sich über
das spätere Babylon unter Nabukudurrusur oder Nebu-
chadrezar, den Nebukadnezar der Bibel, der 604 — 562
v. Chr. lebte, mit einiger Sicherheit berichten. Hier
fließen die Quellen reichlicher, und das Mythische tritt
nicht mehr so stark in den Vordergrund. Von Nebu-
kadnezar steht fest, daß er eine historische Person war;
er wird als der Sohn des Nabopolassar bezeichnet,
— 139 —
und in alten Keilschriften finden wir sichere Kunde
von ihm, so daß es als erwiesen behauptet werden
darf, daß er der mächtigste König von Babylon war.
Weniger zuverlässig sind die weltlichen Quellen über
die Kriegszüge; aber die biblischen Berichte, die ja
im großen Ganzen mit dem, was als historisch gelten
muß, übereinstimmen, enthalten in den Apokryphen
sehr eingehende und interessante Schilderungen. Nach
dem Buche Judith wird Nebukadnezar als der König
von Assyrien bezeichnet, der in der großen Stadt
Ninive regierte und zunächst den medischen König
Arphaxad, dessen feste Stadt Ekbatana als das Wunder-
werk einer festen Stadt damaliger Zeit gepriesen wird,
besiegte. Nebukadnezars Macht war so groß, daß
sich ihm in Furcht und Schrecken rings die Lande
ergaben, ohne daß sein gewaltiger Feldherr Holo-
fernes auch nur eine Schlacht zu schlagen brauchte.
Der stolze Assyrerkönig wurde von Übermut arg ge-
peinigt; nach der Bibel verlangte er, daß alle Völker
ihre Götter absetzen und ihn selbst als Gott anbeten
sollten. Das mag ja historisch wohl nicht als ein-
wandsfrei gelten dürfen; es zeichnet aber gleichwohl
trefflich den Hochmut des gewaltigen Königs, der
nichts über sich dulden wollte, wie ihm nach seiner
Ansicht nichts auf Erden widerstehen konnte. Man
nimmt an, daß die biblische Erzählung der Judith
nicht historisch, sondern erfunden sei, um das jüdische
Volk in schwierigen Lagen zu ermutigen und zu zeigen,
daß Gott seinem Volke, wenn es ihm treu bleibe und
fest auf ihn vertraue, auch in den schwersten Stunden
helfe, in denen eine Hilfe absolut unmöglich erscheine.
Es mag sein, daß dies in der Tat der Zweck der Er-
— 140 —
Zählung gewesen ist; aber das würde doch nichts
für die Unwahrheit der Erzählung beweisen. Hat
doch selbst in unserer Zeit noch der gläubige Sinn
des ersten deutschen Kaisers das Wort gesprochen:
„Welche Wendung durch Gottes Fügung !" Wird doch
auch in unserer Zeit noch in den Kirchen in schwerer
Zeit Gottes Beistand herbeigefleht. So wenig man
aber den deutsch-französischen Krieg für unwahr be-
zeichnen darf, weil ein Kaiser gesagt hat: „Gott war
mit uns!" oder „Dem Volke muß die Religion er-
halten bleiben!", so wenig ist man berechtigt, zu be-
haupten: „Die Geschichte der Judith ist deshalb un-
wahr, weil sie benutzt wurde, das Volk zum treuen
Glauben und zum Ausharren im Vertrauen zu Gott
zu erhalten."
Sehen wir uns die Geschichte der Judith einmal
etwas näher an, so werden wir doch unmöglich ver-
kennen dürfen, daß sie, auch völlig von dem doktrinären
Gottesvertrauen entkleidet, reine Tatsachen lehrt, die
allermindestens doch die Vermutung hervorrufen
müssen, daß sie nicht in allen Einzelheiten frei er-
funden sein können. Denkt man an die Flucht der
Kinder Israels aus Ägypten, die ja übrigens in der
Judith-Erzählung ausführlich mitgeteilt wird, so fällt
der Unterschied im ganzen Aufbau und im speziellen
Effekt so handgreiflich auf, daß die Wage sich un-
bedingt zur Judith neigen muß. Dort teilt sich das
Meer, um die Kinder Israels trocknen Fußes hindurch-
zulassen. Sofort aber, als die Verfolger denselben
Weg einschlagen, vollzieht sich die Vernichtung der
Feinde. Das ist also ein Wunder, von denen man
wohl sagen mag, es wird berichtet, um die wunder-
— 141 —
bare Hilfe zu zeigen, die Gott seinem auserwählten
Volke geleistet habe. Dem kritischen Verstand drängt
sich dabei ohne weiteres der Zweifel oder, wo ohne
Rücksicht auf die Quelle geurteilt wird, die Gewiß-
heit auf, daß die Geschichte vom Roten Meere nicht
wahr sein könne, da Wasser den natürlichen Gesetzen
der Schwerkraft folgen müsse und sich nicht zu beiden
Seiten auseinandertürmen könne.
Wo in aller Welt ist aber in der Judith-Geschichte
des Glaubens liebstes Kind, das Wunder? Auch nicht
die allerleiseste Andeutung eines Wunders ist da ge-
geben, denn die ganze umfangreiche Doktrin, daß Gott
in der höchsten Not helfe, kann getrost gestrichen
werden, ohne daß der Erzählung auch nur ein Körn-
chen von Wahrscheinlichkeit verloren ginge. Im
Gegenteil, das Ganze ist so unwiderstehlich wahrschein-
lich, so bis ins Detail psychologisch wahr, daß man
bei ganz objektiver Prüfung sich nur sagen muß; es
kann sich überhaupt garnicht anders abgespielt haben.
Zunächst sprechen schon Tatsachen, die ja in der
Erzählung nicht einmal angedeutet sind, für die Wahr-
scheinlichkeit; dann aber sind soviele kulturhistorische
Finessen in die Erzählung verflochten, unabsichtlich,
daß sie als Lehrstoff dienen könnten. Wo aber ist
auch nur der allermindeste Nachweis dafür, daß die
Judith episode sich nicht abgespielt habe? Ich würde
auf diese Geschichte überhaupt nicht näher eingehen,
wenn sie mir nicht gerade für dieses Kapitel, das
von der Vorliebe für Nuditäten im orientalischen Alter-
tum handelt, so überaus wertvoll erschiene. Ich möchte
annehmen, daß auch Hebbel dieser Gedanke mitbe-
wogen hat, seine Judithtragödie zu schreiben, denn
— 142 —
er ist ihm viel mehr noch gefolgt, als nach dem bib-
lischen Original gerechtfertigt erscheinen kann.
Nebukadnezar führte, nachdem er 586 v. Chr.
Jerusalem erobert und den Tempel zerstört hatte, die
Juden in die babylonische Gefangenschaft. Das er-
zählt die Bibel selbst; warum hätte sie nun gerade
die Judithgeschichte als eine theosophische Lehr-
episode erfinden sollen, um etwas zu bestreiten, was
sie dann selbst zugibt? Ich meine, hätte es sich darum
gehandelt, einfach beweisen zu wollen, daß den Juden,
die zu Gott hielten, nichts geschehen könne, so würde
man doch nicht gerade den Sieg über das Heer des-
selben Nebukadnezar gefeiert haben, der die Juden
in die babylonische Gefangenschaft abführen ließ. Ge-
rade daß sich die Judithgeschichte in den apokryphi-
schen Büchern findet, macht sie nicht unwahrschein-
licher, wenn auch die chronologische Reihenfolge der
historischen Ereignisse nicht dadurch, daß das
Buch Judith gewissermaßen losgelöst ist aus der
Reihe der geschichtlichen Daten, übersichtlicher ge-
macht wird.
Nun zurück zu der inneren Wahrscheinlichkeit der
im Buche Judith mitgeteilten Tatsachen! Ich habe
schon darauf hingewiesen, daß der mythische Wunder-
zauber, der so reichlich über andere Erzählungen aus-
gebreitet ist, hier völlig fehlt. Statt dessen finden
wir eine Schilderung echten altorientalischen Lebens,
wie es echter überhaupt nicht gegeben werden kann.
Wir finden den wulstigen Übermut des von seiner
Übermacht überzeugten Königs Nebukadnezar, der
sich als Gott anbeten lassen wollte. Die Völker
zitterten vor ihm und unterwarfen sich. Anders das
— 143 —
strenggläubige Volk der Juden, das daran festhielt,
daß sein Gott größer und mächtiger sei als alle
Götter und Götzen anderer Völker, und daß er sie
deshalb wohl bewahren und beschützen könne. Das
ist wieder etwas durchaus Natürliches, und der
Glaube an den Schutz und die Hilfe der Gottheiten
war ja nicht einmal etwas spezifisch Jüdisches. Wir
finden dieses Vertrauen auch bei den heidnischen!
Völkern des Altertums, die ihren Göttern opferten,
damit sie ihnen den Sieg verleihen sollten. Der Heer-
führer des Nebukadnezar war der Feldherr Holofernes,
und was konnte wohl näher liegen, als der Gedanke,
daß die schlimmste Gefahr abgewendet sein mußte,
wenn Holofernes getötet wurde, wodurch natürlich
sein Heer in Schrecken und Bestürzung geraten mußte.
Da es aber in jedem Kampfe außerordentlich wich-
tig ist; welcher der Gegner mutig und siegessicher
angreift, und welcher bestürzt und verzagt sich an-
greifen läßt, so ist auch der Sieg der fanatisch sieges-
gewiß über die bestürzten Gegner herfallenden Juden
kein Wunder, sondern so absolut wahrscheinlich und
sicher, daß es vielmehr ein Wunder gewesen wäre,
wenn die assyrischen Truppen sich trotz der bei ihnen
herrschenden Verwirrung und Bestürzung doch gegen
den machtvollen Anprall der Feinde hätte halten;
können.
Wie aber konnte das assyrische Kriegsvolk in
Verwirrung gebracht werden, d. h. wie konnte der
mächtige, stolze Holofernes, der so gut in seinem
Lager bewacht wurde, plötzlich getötet werden, ohne
daß seine Umgebung von dieser Tat eher etwas be-
merkte, als bis eben die Stunde der Gefahr nahte,
— 144 —
in dei die unerwartete Entdeckung1 die Gemüter tief
erschütterte? Das gerade zeigt uns die Geschichte
der Judith so klar, daß man wohl zugeben muß,
eine andere Möglichkeit war überhaupt nicht vor-
handen.
Als das jüdische Volk in der Stadt Bethulia, wie
die Bibel schreibt, Betylua, wie sie historisch benannt
wird, belagert wurde, stieg die Not aufs Äußerste,
da die Assyrer den Wasserzufluß abgeschnitten hatten,
um die Stadt, die wie alle Städte des Altertums stark
befestigt war, zur Übergabe zu zwingen. In diesen
Not kam Judith ein rettender Gedanke. Judith war
die Witwe des Manasse, ihre Abstammung ist mit
großer Ausführlichkeit geschildert, die ebenfalls nicht
die Vermutung rechtfertigt, daß Judith nichts gewesen
sei, als eine erdichtete Figur, die gerade gebraucht
wurde, um eine Doktrin dichten zu können. Judith
wird als eine besonders fromme und gottesfürchtige
Person geschildert, die während der 31/2 Jahre ihrer
Witwenschaft im Sacke um den auf dem Felde plötz-
lich verstorbenen Mann trauerte. Diese Judith be-
schloß nun, mit Gottes Hilfe ihr Volk von den Feinden
zu erretten. Sie begab sich, festlich gekleidet und
im Glänze ihrer ungewöhnlichen Schönheit mit einer
Magd ins feindliche Lager und verlangte, vor Holo-
fernes geführt zu werden.
Was sich dort abspielte, ist altorientalisches Leben
mit einer psychologischen Feinheit beobachtet, daß
diese Geschichte, wäre sie nicht die Geschichte einer
wahren Begebenheit, sondern freie Erfindung, ein
Meisterstück poetischer Schilderung wäre. Holofernes
sieh! die schöne Jüdin, die ihm helfen will, die feind-
— 145 —
liehe Stadt in seine Hände zu bekommen. Er ist
ihr schon aus diesem Orunde gewogen; aber seine
Sinnlichkeit wird durch den Anblick des verführerisch-
schönen Weibes mehr und mehr entflammt. Wie diese
steigende Leidenschaftlichkeit geschildert wird, wie
Judith es versteht, das sichtliche Wohlgefallen des
nichtigen Fürsten listig auszunutzen, um sich von
vornherein eine Bewegungsfreiheit zu sichern, ohne
die sie ihr Vorhaben überhaupt nicht hätte ausführen
kennen, das ist geradezu bewunderungswürdig, und
nur verständlich, wenn man annimmt, daß die Er-
zählung wahr ist. Judith gibt sich in einem Punkte
wahr; sie ist die fromme Jüdin, die ihr Heil im
ständigen Gebete sucht und offen erklärt, daß sie auch
dem Holofernes nur helfen könne, wenn dieser ihr
erlaube, sich täglich aus dem Lager zu entfernen, um
in der Nähe ihrer Stadt ihr Gebet zu verrichten. Nur
dadurch hatte sie die Sicherheit, daß sie zu jeder
Zeit mit ihrer Dienerin das Lager verlassen durfte.
Ja, sie hatte ihren Plan noch besser durchdacht; sie
hatte in einem Sacke Lebensmittel mitgenommen und
durfte auch beim Verlassen des Lagers diesen Sack
mit sich nehmen.
Holofernes empfindet immer mehr Begierde nach
Judith: es liegt ihm schließlich viel mehr daran, die
Judith zu erobern als die feste Stadt Bethulia, die
ihm ja ohnehin nach seiner Ansicht nicht entgehen
konnte. Er war schließlich nur noch darauf bedacht,
Judith für sich zu gewinnen und machte daraus auch
vor seiner Umgebung kein Hehl. Es heißt wörtlich:
„Am vierten Tage machte Holofernes ein Abendmahl
seinen nächsten Dienern allein, und sprach zu Bagoas,
10
— 146 —
seinem Kämmerer: Gehe hin, und berede das ebräische
Weib, daß sie sich nicht weigere, zu mir zu kommen.
Denn es ist eine Schande bei den Assyrern, daß ein
solch Weib unberühret von uns komme, und einen
Mann genarret habe/'
Diese kurze Rede allein ist ein ganzes Stück
Kulturgeschichte. Daß Holofernes Absichten auf Ju-
dith hatte, die schön und verführerisch war, das
würde ja keineswegs als etwas besonders Erwähnens-
wertes gelten können, denn das ist so natürlich, daß
es unter gleichen Verhältnissen wohl auch heute noch
bei allen Völkern dasselbe sein würde. Aber Holo-
fernes geht weiter; er sagt das große Wort, daß es
eine Schande bei den Assyrern sein würde, wenn ein
solches Weib unberührt davon kommen sollte. Es
war also danach geradezu Ehensache, die Verführung
vorzunehmen und sie mit Hilfe der Untergebenen so-
fort einzuleiten. Wenn man das berücksichtigt, dann
wird man wohl schwerlich den Vorwurf zu fürchten
haben, daß man etwa leichtfertige Schlüsse auf die
damalige Moral der Assyrer ziehe, wenn man daraus
entnimmt, daß das Liebesleben jenes alten Volkes von
einer Sinnlichkeit erfüllt war, die kaum übertroffen
werden kann.
Wie verhielt sich nun Judith zu dem Ansinnen?
Sie wird als eine sehr fromme und tugendhafte, sitten-
reine Witwe geschildert, idie einsam und verlassen
31/2 Jahre um den verstorbenen Mann trauerte und nie
daran dachte, nach einem neuen Gatten zu schauen, oder
auch nur nach einem noch so harmlosen Verkehr mit
Männern trachtete. Wendete sie sich mit sittlicher Ent-
rüstung ab, als ihr ein so echt — assyrisches Aner-
— 147 —
bieten gestellt wurde? O nein! Im Gegenteil. Sie
hatte längst erkannt, daß sie das Wohlgefallen des
Holofernes in hohem Maße erregt hatte, und daß
Holofernes ihr ein derartiges Anerbieten machen werde.
Sie ist offenbar nur deshalb in das feindliche Lagen
gegangen, weil sie die Männer ihrer Zeit kannte und
sich wohl bewußt war, daß sie immer noch einen
tiefen Eindruck auf Männerherzen machen konnte. Sie
mochte vielleicht auch von der assyrischen Lebens-
auffassung gehört haben, (die ja nicht einmal so er-
heblich verschieden von der jüdischen war, und mochte
recht gut wissen, daß die Stunde kommen mußte, wo
die Begierde den Sinn des gewaltigen Feldherrn
berücken würde. Das ist eben die psychologische
Feinheit in der ganzen Geschichte. Es heißt im Text
weiter: „Da sprach Judith: Wie darf ich's meinem
Herrn versagen? Alles, was ihm lieb ist, das will
ich von Herzen gerne tun all mein Leben lang."
Und sie stand auf, und schmückte sich, und ging
hinein vor ihm. Da wallte dem Holofernes sein Herz;
denn er war entzündet von Begierde zu ihr. Und
sprach zu ihr: Sitz nieder, trink, und sei fröhlich;
denn du hast Gnade gefunden bei mir. Und Judith
antwortete: Ja, Herr, ich will fröhlich sein, denn ich
bin mein Leben lang so hoch nicht geehret worden."
Auch diese Rede zeigt einen lehrreichen Ein-
blick in das Leben jener alten Zeit. Es war doch
weder für Judith noch für die ganze Gesellschaft auch
nur der leiseste Zweifel darüber vorhanden, welche
Rolle Judith bei Holofernes spielen sollte. Dennoch
sagt Judith, sie sei ihr Leben lang noch nicht so
geehrt worden, wie dadurch, daß sie die Buhlerini
10*
— 148 —
des Holofernes werden sollte. Daß auch dies nach
der altjüdischen Auffassung des Liebeslebens durch-
aus keine Phrase war, ist unstreitig. Es war eben
für das Weib eine ehrende Auszeichnung, wenn es
bei einem Manne heftige Begierden erregte, die
eben doch nur das Weib zu erregen vermochte, das
in ausreichendem Maße begehrenswert war. Ist es
doch auch bei uns noch eine Auszeichnung für ein
weibliches Wesen, wenn es viel umworben ist, d. h.
doch aber auch nichts weiter, als daß es die Eigen-
schaften besitzt, die jn Männeraugen ein Weib be-
gehrenswert erscheinen lassen. Daß dabei das
sexuelle Moment nicht ausgeschaltet werden kann, das
ist doch auch in unserer Zeit noch Binsenweisheit,
wenn wir es freilich auch nicht nach heutiger Moral-
ansicht zugeben dürfen, daß eine Begehrlichkeit, die
nicht durch die Ehe sanktioniert wird, als eine
Auszeichnung gelten sollte. Wir würden das Erregen
der Begierde für eine Auszeichnung, den Wunsch, daß
diese Begierde anders als durch die Ehe befriedigt
werden soll, als eine beleidigende Herabsetzung zu
bezeichnen haben. Das Altertum, namentlich das des
sinnlichen Orients, kannte aber das Dogma von der
Metamorphose der Auszeichnung nicht, sondern fol-
gerte logischer, weil natürlicher, daß wenn die Er-
regung der Begierde ehrend sei, auch die Konsequenz
ehrenvoll bleiben müsse. Also Judith fühlte sich so
hoch geehrt, wie noch niemals all ihr Leben lang.
Kleine Züge soll man bei der Prüfung derartiger
Vorgänge so wenig unbeachtet lassen, wie große Taten,
die ja nur deshalb größer erscheinen, weil der erheb-
liche Erfolg drastischer in die Augen fällt. Ein kleiner
— 149 —
Zug war es, daß sich Judith noch besonders schmückte,
ehe sie zu Holofernes ging. Sie wollte ihn eben
völlig berauschen und ihm den klaren Verstand
nehmen. Es ist wohl anzunehmen, daß sie damit
erreichen wollte, was der Bibeltext ganz nebenbei
sagt: „Und Holofernes war fröhlich mit ihr, und
trank so viel, als er nie getrunken hatte sein Leben
lang."
Auch dabei findet sich noch eine psychologische
Feinheit Judith verzehrte nur das, was ihre Magd
ihr bereitet hatte. Es war dies sicherlich Speise und
Trank, die ihr den Verstand nicht trüben konnten.
Sie wollte bei dem Abenteuer ihrer Sinne völlig
Herrin bleiben, und sah gewiß mit großer Freude,
daß der gute Holofernes, der das Ziel seiner heißen
Wünsche sicher erreicht zu haben glaubte, diese weise
Vorsicht vollständig außer Acht ließ. Daß dabei Holo-
fernes sich bis zur Sinnlosigkeit betrinken würde, das
konnte Judith allerdings nicht voraussehen; aber sie
hatte jedenfalls ihre Pläne so gemacht, daß sich auch
ohne diesen glücklichen Zufall einen Erfolg ihres
Abenteuers gehabt haben würde. Es kann auch nicht
gerade Wunder .nehmen, wenn Judith und die, die
die Geschichte erzählt haben, in der völligen Trunken-
heit des Holofernes nicht einen blinden Zufall er-
blickten, sondern eine Fügung des großen Gottes, den
Judith ja um Hilfe angefleht, und von dem sie
zuversichtlich eine Hilfe erwartet hatte, da ja Gott
durch diese Hilfe zeigen sollte, daß er der große,
mächtige Gott sei, der die Seinen auch in der höchsten
Not nicht verläßt, und der sich nicht durch hoffärtige,
übermütige Menschen verspotten läßt.
— 150 —
Es muß bei der Tafel sehr lustig hergegangen
sein, denn es wird erzählt, daß die Diener sich ent-
fernten, und daß sie alle betrunken waren. Es ist
das wohl auch die beste Erklärung dafür, daß sich
niemand weiter um den sinnlos berauschten Holofernes
kümmerte, sondern daß man ihn in diesem Zustande
mit der Judith allein ließ. Es ist ja ohnehin nichti
zu vergessen, daß Holofernes schon vorher allen ge-
sagt hatte, er wolle die Schande bei den Assyrern
nicht aufkommen lassen, daß ein solches Weib un-
berührt von ihnen kommen sollte; sie wußten also,
daß er sie für sich allein haben wollte, und trauten
es dem Manne wohl zu, daß er selbst einen starken
Rausch bald überwinden und sich auf Judith besinnen
würde, die ja bereitwilligst diese Ehre genießen wollte.
„Und Judith war allein bei ihm in der Kammer."
Das Weib allein mit dem gewaltigen Manne, der
ihrer so heiß begehrte. Es wäre ja wohl doch die
Sinnlichkeit des Weibes auf eine harte Probe gestellt
worden, wenn Judith nicht so fest von dem Vorsatz,
ihr Volk zu retten, durchdrungen gewesen wäre. So
allerdings, wo sie den Mann sinnlos vor sich auf dem
Bette liegen sah, machtlos und willenlos in ihre Hand
gegeben, den Mann, den sie als den gefährlichsten!
Feind ihres Volkes glühend hassen, den sie wegen
seiner wüsten Trinkerei verachten mußte, da war
wohl die Versuchung nicht allzugroß. Hochklopfenden
Herzens beobachtete sie den Feind, dessen mächtige
Glieder ihr auch trotz seiner Besinnungslosigkeit noch
Furcht und Schrecken einflößten. Würde ihr das
Werk, das sie verrichten wollte, auch glücken, würde
ihre des Kampfes und der Waffen völlig ungeübte
— 151 —
Hand, diesen Riesen erschlagen können? Und was
sollte geschehen, wenn sie ihn nicht mit mächtigem
Streiche zu fällen vermochte? Wenn sie ihn bloß
verwundete und ihn dadurch ins Bewußtsein zurück-
rief, ehe sie ihn wirklich kampfunfähig gemacht
hatte? Und wenn ihr Überfall Lärm verursachte, durch
den seine Wachen herbeigelockt würden ? Die Rettung
ihres Volkes war auch dann mißlungen, wenn selbst
Holofernes sterben mußte; denn die Assyrer würden
dann in maßlose Wut geraten, statt in Bestürzung
und den Tod des Feldherrn am jüdischen Volke furcht-
bar rächen.
Es war also trotz aller günstigen Umstände doch
noch eine verzweifelte Lage, in der sich Judith be-
fand. „Und Judith trat vor das Bette, und betete
heimlich mit Tränen." Sie betete, daß Gott ihr bei
dem Meuchelmord helfen sollte. An sich ein absurder
Gedanke, und doch kein unlogischer, denn Gott sollte
ja zum Siege helfen, und der Sieg über einen grimmen
Feind ist nicht möglich, wenn der Feind geschützt
werden soll. Judith ergriff das Schwert des Holofernes,
das an der Säule oben am Bette hing, und führte
die eigene Waffe ihres Opfers gegen dieses. Zwei-
mal hieb sie mit aller Kraft zu; der Kopf war damit
noch nicht vom Rumpfe getrennt, sondern die Mörderin
mußte ihn erst noch mit des Schwertes Schärfe völlig,
abschneiden. Holofernes erwachte aber nicht zum
Bewußtsein; schon der erste Hieb muß also sofort
tötlich gewesen sein. Der Plan war gelungen. Der
stolze, siegesgewisse Feldherr war nicht mehr, von
den Freuden einer üppigen Tafel träumte er hinüber
in das geheimnisvolle Jenseits, von dem es kein Zurück
— 152 —
mehr gibt. Und Judith warf den entseelten Körper
von dem Lager, auf dem er mit ihr die höchste Wollust
hatte genießen wollen, auf den Boden. Den Kopf
aber hüllte sie in den Sack, den sie zum Aufbewahren
ihrer Lebensmittel stets bei sich führte und nahm ihn
mit hinaus. Dann ging sie mit ihrer Magd hinaus
aus dem Lager, wie sie dies jeden Abend getan hatte,
um zu beten. Die Diener des Holofernes, die wußten,
daß ihr Herr mit Judith die Wonnen der Liebe ge-
nießen wollte, waren ja ebenfalls betrunken ; sie
schliefen und merkten den vorzeitigen Abschied der
Jüdin nicht, und die Wachen, die ein für allemal den
Befehl hatten, das ebräische Weib ungehindert pas-
sieren zu lassen, konnten natürlich keinen Verdacht
hegen, als die fremden Frauen also, wie sie dies
sonst taten, das Lager verließen. Sie achteten auch
nicht darauf, wie lange diese fortblieben, und ob sie
überhaupt zurückkehrten. An eine Rückkehr dachte
Judith selbstverständlich nicht; sie entfloh vielmehr
eiligst nach Bethulia. Dort fand sie natürlich die Tore
fest verwahrt; aber es gelang ihr leicht, sich den
Wächtern zu erkennen zu geben und Einlaß zu finden.
Den Kopf des Holofernes führte sie als unwiderleg-
baren Beweis dafür, daß das unmöglich Scheinende
gelungen, daß Holofernes kein gefährlicher Feind
mehr war, mit sich.
Damit war freilich die Rettung erst zur Hälfte
geschehen; aber schon (der Anblick des Hauptes er-
füllte die Männer Judas mit wilder Siegesfreude. Ju-
dith riet nun, man solle am nächsten Morgen in aller
Frühe das blutige Haupt des Feindes über die Mauer
hinaus hängen. Das war ein sehr kluger Rat, denn
— 153 —
der Anblick dieser Trophäe mußte die Juden sieges-
gewiß machen, weil er ihnen zeigte, daß Gott dem
gefährlichsten Gegner in ihre Hand gegeben hatte,
und von der Stimmung, mit der die Juden den An-
griff auf das feindliche Lager unternahmen, hing
eben der Erfolg ab.
Der Rat wurde befolgt, und am andern Morgen
berauschte sich das ganze Volk an dem Anblick des
Hauptes. Die Männer ergriffen die Waffen und stürm-
ten mit großem Geschrei nach dem assyrischen Lager.
Dort hatte noch niemand von der grausigen Bluttat
der Judith etwas bemerkt. Man lachte deshalb über
die Juden und die Feldhauptleute wendeten sich an
Bagoas und forderten ihn auf, den Holofernes zu
wecken, denn „die Mäuse seien herausgelaufen aus
ihren Löchern und kühn geworden"; sie wagten es,
das Lager anzugreifen. „Da ging Bagoas hinein, und
trat vor den Vorhang, und klatschte mit den Händen;
denn er meinte, er schliefe bei Judith. Und horchte,
ob er sich regen wollte. Da er aber nichts vernahm,
hob er den Vorhang auf: da sah er den Leichnafm
ohne Kopf in seinem Blute auf der Erde liegen. Da
schrie und heulte (er laut, und zerriß seine Kleider,
und sähe in der Judith Kammer; und da er sie nicht
fand, lief er heraus zu den Kriegern und sprach: Ein
einziges ebräisches Weib hat das ganze Haus Nebu-
kadnezars zu Spott und Hohn gemacht vor aller Welt;
denn Holofernes liegt da tot auf der Erde, und ist
ihm der Kopf abgehauen. Da das die Hauptleute
von Assyrien hörten, zerrissen sie ihre Kleider, und
erschraken über die Maßen sehr. Und ward ein groß
Zetergeschrei unter ihnen."
— 154 —
Das war also genau die Wirkung, die Judith er-
wartet hatte, und die zum Gelingen des kühnen Über-
falls unbedingt erforderlich war, denn da die Assyrer
erheblich in der Übermacht waren, da sie kampf-
gewohnte und für unüberwindlich gehaltene Krieger
waren, hätte ein Überfall des Lagers durch die Juden
als heller Wahnsinn erscheinen müssen, wenn nicht
ein so außerordentliches Ereignis eingetreten wäre,
das unter allen Umständen das moralische Gleich-
gewicht so wesentlich zu gunsten der stürmenden
Juden verschieben mußte, daß eben das, was sonst
Wahnsinn schien, zum Erfolge führte. Wir haben ja
gesehen, daß die Assyrer zunächst über den Ausfall
der Juden spotteten, die Mäuse hätten ihre Löcher
verlassen und seien kühn geworden, so hieß es, ehe
der plötzliche Tod des Holofernes bekannt war. Und
nachdem die Schreckenskunde das assyrische Lager
durcheilte? Der Text schildert es sehr einfach: „Da
nun das Kriegsvolk hörte, daß Holofernes der Kopf
ab war, erschraken sie, und wurden irr, und konnten
nicht Rat halten, was sie tun sollten, so war ihnen]
der Mut entfallen ; und flohen auf allen Wegen in der
Ebene und im Gebirge, daß sie den Ebräern ent-
rinnen möchten; denn sie hörten, daß sie gegen sie
daherzögen. Und da die Kinder Israel sahen, daß
die Feinde flohen, eileten sie ihnen nach mit großem
Geschrei und Trommeln/' Keine Spur eines Wunders!
Alles ist so durchaus natürlich und einfach, daß man
sagen könnte, selbst das Faktum, daß zwei und zwei
immer nur vier ergeben müsse, sei nicht selbstverständ-
licher als dieser Sieg der Kinder Israel über die viel
stärkere Macht der Assyrer. Der Oberste der Stadt,
— 155 —
Orius, schickte eiligst Boten an alle Städte des Landes,
ließ ihnen die Kunde von dem Siege bringen und sie
auffordern, den Sieg ausnutzen zu helfen. Dadurch
erhielt er große Verstärkungen, die den Fliehenden
in den Weg fielen und ihnen große Verluste bei-
brachten. Man erreichte damit auch, daß die Assyrer
nirgends Ruhe noch Rast fanden, bis sie aus dem
Lande getrieben waren.
Wer sich von den Einwohnern Bethulias nicht
an dem Angriffe beteiligt hatte, der wanderte nun
hinaus in das assyrische Lager, das verödet und un-
bewacht geblieben war, da die Assyrer nur darauf
bedacht gewesen waren, sich zu retten. Nichts hatten
sie mitgenommen, und nun zeigte sich erst der Reich-
tum und der Luxus, den die verwöhnten Assyrer
auch im Kriegslager nicht vermissen wollten. Die
Beute war enorm, und die Israeliten erwarben auf
leichte Weise gewaltige Reichtümer. Sie waren aber
nicht undankbar und vergaßen nicht, der Retterin in
ihrer Not, der kühnen Judith, reiche Geschenke zu
machen. Alle die massenhaften Prunkstücke aus edlen
Metallen, die Holofernes mit sich geführt hatte, er-
hielt Judith als Geschenk, und aus dem ganzen Lande
strömten helle Scharen nach Bethulia, um Judith zu
sehen und zu preisen. Judith war und blieb die
Heldin des Volkes; aber sie vergaß ihren Mann nicht
und blieb Witwe. Im Alter von 105 Jahren soll sie
gestorben sein.
Doch nun genug von dieser biblischen Judith-
episode. Daß sie die höchste Wahrscheinlichkeit für
sich hat, keine freie Erfindung zu sein, habe ich ge-
nügend dargetan. Sie würde aber auch, wenn sie
— 156 —
eine bloße Dichtung wäre, vollen Anspruch auf recht
eingehende Beachtung erleben dürfen. Sicher sind
doch mindestens die Sitten und Gebräuche jener Zeiten
durchaus richtig wiedergegeben, und diese zeigen die
alte assyrische Moral in so klarem Lichte, daß für
den Kulturhistoriker diese Geschichte immer noch eine
Fundgrube bleibt. Von einiger Wichtigkeit ist nun
freilich die Frage, ob Holofernes, der den Ausspruch
getan haben soll, daß es eine Schmach und Schande
bei den Assyrern sei, wenn ein Weib wie Judith sich von
ihnen trennen sollte, unberührt und unverführt, wirk-
lich gelebt hat. Daß die biblische Geschichte die
Namen nicht ganz genau wiedergibt, beweisen schon
die Benennungen Bethulia und Nebukadnezar, die, wie
wir gesehen haben, in Wirklichkeit anders lauteten.
Auch Holofernes ist nicht korrekt genannt, und höchst
wahrscheinlich ist Holofernes in Wirklichkeit der per-
siche Name Orofernes. Ein solches Fürstengeschlecht
ist aber historisch nachgewiesen; es tritt sogar ver-
schiedentlich in der Geschichte auf. Ein Mitglied der
kappadocischen Familie Orofernes wird als Feldherr
des Darius Ochus etwa 345 v. Chr. genannt, der andere
bemächtigte sich 159 v. Chr. sogar des Thrones, er
war ein dem König Ariarathes IV. von seiner Gattin
Antiochis untergeschobener Sohn. Es ist also auch
nach dieser Richtung hin mindestens doch so viel
bewiesen, daß die Namen, die in der Judithgeschichte
die Hauptrollen spielen, echt sind.
Auffallen mag es ja, daß bei der lüsternen Leiden-
schaft der Assyrer nicht Weiber im Kriegslager desj
Holofernes erwähnt sind. Man würde doch fast mit
Sicherheit erwarten dürfen, daß Holofernes mehrere
— 157 —
Gattinnen oder Buhlerinnen mit sich geführt habe.
Das ist aber auch wieder ein Punkt, der nicht vor-
eilig abgetan werden darf. Zunächst kommt es ja
bei der Erzählung nicht im mindestens darauf an, eine
kulturhistorisch wertvolle Schilderung des Lebens in
einem assyrischen Kriegslager zu liefern, sondern es
soll die Geschichte der durch die Ermordung des Holo-
fernes ermöglichten Rettung Israels geschildert werden.
Dabei war es selbstverständlich nicht von Interesse,
ob die Assyrer Weiber bei sich führten, ja, es mußte
ohnehin das, was damals allgemeiner Brauch war, als
bekannt und deshalb nicht der Erwähnung wert be-
trachtet werden, wie ja auch sonst keine einzige An-
deutung über das Leben im Lager der Assyrer g&-
macht wird. Es war selbstverständlich, daß sich Weiber
im Kriegszuge befanden, wie ja auch die Kinder Israel
selbst ihre Kriege bei der Eroberung des gelobten
Landes geführt hatten, während Weiber und Kinder
mit im Zuge weilten. Die Stellung des Weibes im
Orient war auch keine solche, daß sie etwa bei einem
Liebesabenteuer des Holofernes irgendwie eine Stö-
rung hätte veranlassen können. Judith bewegte sich
ziemlich frei im assyrischen Lager; schon dies deutet
darauf hin, daß die Anwesenheit von Weibern durch-
aus nicht auffiel; es würde vielmehr Aufmerksamkeit
bei den assyrischen Kriegern erregt haben, was Ju-
dith trieb, wohin sie sich wendete, sobald sie, um
zu beten, das Lager verließ, und es wäre ihr gewiß
nicht so leicht geworden, nach der Mordtat sich zu
entfernen und den Kopf des Holofernes mit sich zu
nehmen, wenn es nicht ein ziemlich gewohnter Anblick
gewesen wäre, Weiber sich im Lager bewegen zu
- 158 —
sehen. Daß die Krieger alle der Ansicht waren, es
sei eine Schande, wenn ein solches Weib unberührt
von ihnen komme, wird man wohl annehmen dürfen;
wenn aber der gewöhnliche Soldat nichts tat, diese
Schande abzuwenden, d. h. wenn nicht alle sich an
die verlockend schöne Jüdin heranwagten, so liegt dies
daran, daß sie wohl wußten, Judith gehöre dem Holo-
fernes, und dieser würde ja wohl in diesem Punkte
keinen Spaß verstanden und durchaus keine Neigung
gehabt haben, ein Weib, das ihn selbst „entzündet"
hatte, mit seinen Soldaten zu teilen. Auch Judith
würde wohl nicht auf den kühnen Plan gekommen,
sein, ins feindliche Lager zu gehen und den gefürch-
teten Feldherrn, vor dessen Stirnrunzeln ganze Völker
zitterten, zu ermorden, wenn sie nicht gewußt hätte,
daß Besuche von Weibern im Kriegslager weder et-
was Ungewöhnliches noch etwas Unerwünschtes
waren; sie muß doch ganz genau damit gerechnet
haben, daß der gestrenge Herr Holofernes, glühenden
Weiberaugen gegenüber weiches Wachs war, eine Be-
rechnung, die sich ja auch als durchaus richtig erwies.
Es ist nun im letzten Kapitel der Judith-Geschichte
auch gesagt, daß Judith während ihres langen Lebens
in Israel hochgeehrt gewesen sei, und daß, so lange
sie lebte, niemand gewagt habe, Israel anzugreifen.
Das ist freilich wohl eine ziemlich kühne Phantasie,
denn mit ihren 100 Jahren wird wohl auch Judith
nicht mehr so verführerisch schön gewesen sein, daß
es ihr etwa hätte gelingen können, die Künste, denen
Holofernes zum Opfer gefallen war, zu wiederholen,
mag auch ihr Name bei den Feinden eine Art Alp-
drücken hervorgerufen haben, „denn kein Mann, noch
— 159 —
kein Krieger hat ihn (Holofernes) umgebracht, und
kein Riese hat ihn angegriffen, sondern Judith, die
Tochter Aleroris, hat ihn niedergelegt mit ihrer Schön-
heit. Denn sie legte ihre Witwenkleider ab, und zog
ihre schönen Kleider an zur Freude den Kindern
Israel; sie bestrich sich mit köstlichem Wasser, und
flocht ihre Haare ein, ihn zu betrügen; ihre schönen
Schuhe verblendeten ihn; ihre Schönheit fing sein Herz;
abei sie hieb ihm den Kopf ab, daß sich die Perser
und Meder entsetzten vor solcher Tat."
Es ist da nochmals das Resume gegeben, die
intimere Schilderung der Umstände, durch die Holo-
fernes zu Fall gebracht wurde. Es ist das eine fast
schwülstige Liebesepisode, die zwar in der Forrn
eines Gebetes gedacht ist, aber doch die sinnliche
Siedehitze des Holofernes'schen Liebesrausches an-
schaulich genug schildert. Wer das so verständnisvoll
zu schreiben vermochte, der mußte einen tiefen Ein-
blick getan haben in das Liebesleben des Volkes, in
dem Holofernes einen so hohen Rang eingenommen
hatte.
Das Schlußkapitel enthält aber noch einen Satz,
der für mein Thema von großem Interesse ist; es
heißt da: „Er dräute, mein Land zu verbrennen, und
meine Mannschaft zu erwürgen, Kinder und Jungfrauen
wegzuführen." Das ist eine Klage, die so einfach
klingt, daß sie kaum der Erörterung zu bedürfen scheint,
und doch ist sie eine höchst beachtenswerte Andeutung
einei furchtbaren Kriegssitte, die ebenfalls beweist,
daß furchtbare Grausamkeit mit Wollust gepaart, das
Fühlen und Denken jener Völker erfüllte. Man be-
gnügte sich nicht damit, den Feind besiegt zu haben,
— 160 —
sondern ruhte nicht, ehe die Männer vernichtet waren,
die Weiber aber eine besonders begehrte Beute bil-
deten. Ich werde auf diese Kriegsbräuche noch
zurückkommen.
Die Vorliebe für Nuditäten, die uns im Orient
so vielfach entgegentritt, hat auch zur Gründung einer
besonderen Sekte geführt, die viel umstritten ist, und
auch wohl deshalb viel umstritten bleiben wird, weil
ihr Programm in sich die schärfsten Gegensätze zu
vereinen scheint. Die Sekte predigte die unglaub-
lichste Enthaltsamkeit. Während nun aber die As-
keten, die ebenfalls die völlige fleischliche Enthalt-
samkeit als das höchste sittliche und religiöse Gebot
betrachteten und selbst die von Christus selbst em-
pfohlene Ehe als eine entsetzliche sündige Unzucht be-
trachteten, dieses Gebot dadurch am besten zu be-
folgen glaubten, daß sie der Versuchung entflohen
und sich fern von dem sündigen Treiben dieser Welt
in irgend einem stillen Winkel verbargen, was ja
jedenfalls das beste und sicherste Mittel war, sündiger
Betätigung, wenn auch nicht sündiger Lust, zu ent-
gehen, suchte die sonderbare Sekte durch das Gegen-
teil zu noch größerem Ruhme zu gelangen. Sie
forderte völlige Nacktheit in den religiösen Versamm-
lungen und ließ beide Geschlechter in dieser absoluten
Kostümlosigkeit sich gemeinsam versammeln. Hier
war die Versuchung also in der allerstärksten Form
geboten. Daß es ein größeres Verdienst ist, einer
starken Versuchung mit Festigkeit zu widerstehen als
der Versuchung zu fliehen und etwas nicht zu tun,
was man eben nicht tun kann, weil es an jeder Ge-
legenheit dazu fehlt, das ist so zweifellos richtig, daß
— 161 —
man sich ohne weiteres zu dieser Sekte wenden und
ihr die Siegespalme reichen müßte. Die Sache ist
nur deshalb so viel umstritten, weil die böse Welt,
die es nun einmal liebt, das Strahlende zu schwärzen,
und das Erhabene in den Schmutz zu ziehen, zwar
den guten Willen der Sektengründer nicht bestreitet,
aber doch nicht an den Sieg der selbstlosen Tugend
glauben will, sondern annimmt, daß viele Menschen
nur deshalb Mitglieder der Sekte geworden seien,
weil sie weniger die Erlangung des Seelenheils als
vielmehr die große Versuchung gereizt habe, ohne
auch nur die Absicht zu haben, sich dieser Versuchung
widersetzen zu wollen. Es hätte eben für die Leute
nichts Anziehenderes gegeben, als nichts anzuziehen,
besonders da, wo Mann und Weib, durch das enge
Band der gleichen Sekte aneinandergekettet, in fried-
licher Gemeinschaft hausten.
Diese Sekte nannte sich Adamiten. Sie entstand
im zweiten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, und
man darf wohl annehmen, daß der Gründer dieser
Sekte, Prodicus, der ein Schüler des Carprocretes ge-
wesen sein soll, wirklich einer der überspanntesten
Menschen gewesen ist. Er war Gnostiker und ein
Schwärmgeist, wie es vielleicht keinen zweiten ge-
geben hat. Daß er fest von der Güte seines Systems
überzeugt war, daß dieses System theoretisch sich
sehr glänzend verfechten läßt, ist wohl nicht zu be-
streiten ; aber wie die Theorie sich zur Praxis ver-
halten hat, dasi ist der wunde Punkt. Es steht nur
fest, daß die Sekte wirklich ihre Versammlungen ab-
hielt. Daß in jener Zeit keine Sittenpolizei bestand,
die sich etwas energischer über diese Sekte hätte in-
11
— 162 —
formieren können, daß das Heidentum, das ja damals
noch die Macht in der Hand hatte, die Nacktheit
sicherlich garnicht beanstandet Jiat, da es selbst sitt-
lich einen Tiefstand erreicht hatte, der nicht gut über-
troffen werden konnte, das steht auch fest. Es müssen
also doch wesentlich andere Gründe gewesen sein, die
den Adamiten das Leben sauer machten und den langen
Bestand der Sekte ausschlössen. Ich denke mir die
Sache so, daß die Gründer der Sekte wirklich fromme
und eifrige Fanatiker waren, daß aber die Mitglieder
der schweren Versuchung nicht widerstanden, so daß
man schließlich statt der erhofften äußersten Reinheit
die äußerste Entsittlichung, statt der religiösen An-
dachten Orgien abhielt, so daß sich die Sittenfanatiker
arg enttäuscht sehen und erkennen mußten, daß ihr
schönes System ein verwünscht schlechtes System
war, weil man eben etwas gefordert hatte, was viel-
leicht Engel zu erfüllen vermögen, während man den
Fehler begangen hatte, den Versuch mit Menschen
anzustellen. Es ist das übrigens für unsere modernen
Nuditäts- und Schönheitsapostel ein äußerst lehrreiches
Kapitel. Die Sekte der Adamiten ist jedenfalls an
der Unzulänglichkeit des menschlichen Charakters ge-
scheitert.
Die Sekte ging unter; aber sie wurde nicht ver-
gessen, sondern sie erwachte nach mehr als tausend
Jahren zu neuem Leben, noch dazu unter dem alten
Namen. Der neue Stifter war ein Franzose namens
Picard. Daß diese neue Sekte vielleicht dieselben
Prinzipien als ihren Grundgedanken angab, nämlich
die Bekämpfung der Fleischeslust durch die stärkste
Versuchung, daß audh bei der neuen Sekte die völlige
— 163 —
Nacktheit von Mann und Weib bei den gemeinschaft-
lichen Versammlungen kultiviert wurde, steht fest,
ebenso allerdings auch, daß diese Zusammenkünfte
die wüstesten Orgien waren, die sich denken lassen.
Sie interessieren uns aber bei der Geschichte desl
orientalischen Lebens wenig oder garnicht.
Es gab noch andere Sekten als die Sekte der Ada-
miten, die den großen Hang zu Nuditäten im alten
orientalischen Liebesleben kennzeichnen. Ich will hier
nur an die altgriechischen Feste des Dionyos erinnern,
die sich weithin verbreiteten und auch im alten Rom
als Bacchanalien im schlimmsten Rufe standen. Es
ist, als werde eine Szene aus den Hexentänzen auf
dem Blocksberge geschildert. Freilich, die Hexen-
tänze bestanden in der Hauptsache nur in der Phan-
tasie abergläubiger Menschen im Mittelalter, sind aber
doch wohl eigentlich Erinnerungen an Wirkliches aus
altheidnischer Vorzeit. Die Dionysien aber und Bac-
chanalien waren Wirklichkeit. Sie waren ein reli-
giöser Brauch, der freilich menschlich, allzu mensch-
lich entartete und gerade deshalb so recht ins orien-
talische Liebesleben hineinpaßte.
Die Menschheit hat sich von jeher die Götter
geschaffen, deren sie bedurfte. Das soll keine Satire
sein. Das instinktive Empfinden, daß es höhere, unsicht-
bare Gewalten geben müsse, die den Lauf der Welt
regeln und in die Geschicke der Menschen eingreifen,
ist der Menschheit angeboren, ein sogenannter reli-
giöser Sinn, der nicht erkünstelt und nicht die Frucht
philosophischer Meditationen, sondern durchaus na-
türlich ist. Der Mensch, der als denkendes Wesen
in die Welt gestellt ist, die rings um ihn grünt und
11*
— 164 —
blüht, die angefüllt ist von geheimnisvollen Rätseln,
deren größtes, unergründliches der Mensch selbst ist,
die überall ein geheimnisvolles Walten, verborgen
schaffende Kräfte zeigt, mußte sich doch sagen, daß
das alles nicht aus sich selbst entstanden sein könne,
daß doch nicht blinder Zufall das ewige Werden und
Vergehen zeitigen könne, und die geheimnisvolle Kraft
in uns, die wir das Leben nennen, die kommt und!
geht, ohne daß sich dafür eine plausible Erklärung
finden ließe, die hätte auch dem denkenden Geiste
schon sagen müssen, daß eine höhere Gewalt exi-
stieren müsse, die schöpferisch wirke, wieviel eher
mußte sie auf den im Menschenherzen schlummernden
religiösen Sinn wirken. Es ist kein Wunder, sondern
etwas fast mit logischer Notwendigkeit sich Ergeben-
des, daß die Menschen sich die Welt mit unsichtbaren
Geistern bevölkert dachten, von denen jeder eine be-
stimmte Verrichtung zu erfüllen habe. Es konnte ja
garnidht anders sein, als daß der naive Glaube, deri
dann allerdings schon die Frucht eingehenden Denkens
war, sich gute und böse Geister vorstellen mußte,
weil eben der naive Geist der Menschheit nicht zu
begreifen vermochte, daß esi nur ein einziger Geist sein
könnte, der das Gute und zugleich das Böse tun sollte.
Die Gottheit konnte sich nicht selbst bekämpfen, sie
konnte nicht das Gute wollen und zugleich das Böse.
Gutes aber allein gibt es nicht; es steht ihm eine
gleiche Summe des Bösen gegenüber, je nach der
Auffassung vielleicht auch eine größere. So schuf der
grübelnde Geist sich gute Gottheiten und böse Dä-
monen, ein Grundgedanke, von dem ja auch unsere
christliche Religion nicht frei geblieben ist. Daß mit
— 165 —
der fortschreitenden Kultur sich auch die Götterlehre
mehr und mehr entwickelte, daß man nicht bei den
primitivsten Begriffen stehen bleiben konnte, sondern
mehr und mehr die einfachen Verstellungen auszu-
bauen und zu vervollkommnen suchte, das versteht
sich von selbst. Selbst die Vorgänge des mensch-
lichen Lebens, auch die des Liebeslebens, stellte man
unter die Wirkung der Gottheiten. Gerade die Götter
der Liebe fehlen nirgends bei den kultivierten Heiden,
und daß man sich auch eine Gottheit der ehelichen
Fruchtbarkeit vorstellte, ist durchaus natürlich, ebenso
daß man solche Gottheiten besonders verehrte und
ihnen Feste feierte. Tat man dies aber, dann war
es eben nur natürlich, daß man Anspielungen auf das
Wirken dieser Gottheiten nicht vermeiden konnte oder
wollte. Es läßt sich schon daraus ermessen, wie diese
Feste ausarten mußten bei Völkern, deren Sinnlichkeit
ohnehin so hochgradig entwickelt war, daß der Sinnen-
genuß als das höchste Glück, die wesentlichste Frage
des Menschenlebens galt. Bei den Medem, Lydern
und Phrygiern galt die Cybele als Gottheit der Frucht-
barkeit; ihr war ein lebhafter Dienst gewidmet, und
man darf wohl annehmen, daß die Dionysien, die wohl
in Mazedonien und Thracien zuerst gefeiert wurden
und sich dann über einen großen Teil des Orients
verbreiteten, weil diese Feste den Orientalen ganz be-
sonders zusagteen, mit dem Cybeledienst verschmolzen
wurden oder ganz in ihm aufgingen resp. ihnen ihren
besonderen Charakter aufprägten.
Das erscheint ja freilich auf den ersten Blick wider-
spruchsvoll und ungereimt, da natürlich die Cybele-
gottheit etwas völlig anderes ist als Dionysos oder
— 166 —
Bacchus; aber man darf eben solche Dinge nicht
äußerlich nach dem bloßen Namen, sondern stets nur
nach ihrem inneren Kern beurteilen. Im Grunde ge-
nommen kommt es immer darauf an, was gefeiert
wird, oder mit anderen Worten, an was man in
Wirklichkeit dachte, wenn man eine bestimmte Gott-
heit feierte. Da ist es dann nicht zu viel gesagt, wenn
man behauptet, daß das intensive orientalische Liebes-
leben nichts so wichtig erscheinen ließ als den Zeu-
gungsakt, daß man eben nur an diesen dachte, wenn
man die entsprechenden Gottheiten verehrte, und daß
das äußere Zeichen des Kults der Phallus war, d. h.
die riesige Nachbildung des männlichen Sexualorgans.
M>t diesem Symbol wurde ein gewaltiger Kult ge-
trieben und zwar im ganzen Orient — ich will da-
mit nicht etwa die übrige Welt ausschließen. — Von
Indien bis Ägypten bestand dieser Kult, wenn er auch
natürlich der Mythologie der betreffenden Länder an-
gepaßt wurde. So wurde dieses vergötterte Symbol
auch bei den Dionysien stets dem Festzug vorange-
tragen; es fehlte niemals bei den heiteren Festen.
Es fehlte aber auch in den übrigen Ländern nicht, so-
weit die orientalische Sinnlichkeit reichte. Dies Sym-
bol erfreute sich eben in Wirklichkeit der wahn-
sinnigsten Verehrung, gleichviel ob das Fest eine
Feier der Cybele, des Dionysos, Bacchus oder sonst
einer Gottheit sein sollte. Es läßt sich ja nun wohl
so ziemlich erraten, wie die Feste, die einem solchen
Symbol galten, in Wirklichkeit ausfielen, besonders
bei Völkern, die ja ohnehin von einer glühenden Sinn-
lichkeit beseelt waren. Es wurden stets Orgien ge-
feiert, die wohl noch erheblich schlimmer verliefen,
— 167 —
als selbst die kühnste Phantasie es sich auszumalen
vermag. Die Festteilnehmer gerieten in einen Zu-
stand jener sexuellen Ekstase, die keine Grenzen
kennt und fast nur noch in Ungewöhnlichem eine Art
Befriedigung finden kann, und in der Regel sind die
Weiber bei solchen Exzessen noch weit maßloser als
die Männer.
Die Hauptstätten im alten Griechenland, an denen
die wüstesten Dionysien gefeiert wurden, waren der
Citbäron und der Parnaß, auf deren Gipfeln sich ein
abscheuliches Treiben abspielte. Frauen und Mäd-
chen mit aufgelösten Haaren, ihre Körper mit Fellen
nur mangelhaft bedeckt, rasten dort ihre wilden Liebes-
tänze. Die Gottheit war gewöhnlich „persönlich"
vertreten, d. h. ein Stier oder ein Bock war an Stelle
des Gottes mitgeschleppt. (Auf dem Blocksberg war
ja der zottige Bock, dem die Hexen den Hintern
küssen mußten, als Satanas gedacht.) Das in sexueller
Gier geradezu wahnsinnige Volk erwies der Gott-
heit oder seiner Vertretung allerdings eine recht zweifel-
hafte Verehrung; der Stier oder der Bock wurde bei
lebendigem Leibe angebissen und in Stücke gerissen,
und die Festgenossinnen verzehrten das noch warme
und zuckende Fleisch in ihrer rasenden Wollust, als
könne es dem bis über den siedenden Wahnsinn ge-
steigerten sexuellen Triebe eine Befriedigung ge-
währen, sich in dem noch heißen Blute zu berauschen,
das rohe Fleisch hinunterzuwürgen. Das war das
Kulturvolk der Griechen; ein klassischer Beweis da-
für, wie wahnsinnige sexuelle Wollust und Grausam-
keit in Wechselwirkung stehen. Daß als Opfer auch
Menschen dienen mußten, mindestens in frühesten
— 168 —
Zeiten — die Bacchusfeste waren mindestens schon
496 v. Chr. nach Rom eingebürgert worden, — daß
diese Menschenopfer in dem wollüstig-grausamen Pa-
roxismus ebenso zerrissen und gewissermaßen noch
lebend verschlungen wurden, könnte die entsetzliche
Exaltation der griechischen Damen fast noch entsetz-
licher erscheinen lassen, wenn der Umstand, daß
Mensch statt Vieh verzehrt wurde, überhaupt als eine
Steigerung gelten dürfte.
Nimmt man diese Orgien der wollüstigen Grau-
samkeit, die im Blute wühlen mußte, um der rasenden
sexuellen Gier etwas zu bieten, was wenigstens an
eine Art sinnlicher Befriedigung erinnern konnte, frei-
lich wohl nach dem Rezept, daß der Appetit mit dem
Essen kommt, weil auch diese scheinbare Befriedigung
die geile Wut eigentlich noch mehr steigerte, unten
die kritische Lupe, dann erscheint auch die Erzählung
der Judith in einem etwas anderen Lichte, worauf
ich erst jetzt kurz eingehen will, da mir diese Er-
klärung nach dem inzwischen Gesagten plausibler
erscheint als in Anknüpfung an die Judith-Historie
direkt. Auch Judith war eine heißblütige Orientalin.
Es wird ja so breit hervorgehoben, sie habe nach
dem Tode Manasses keinen Mann mehr erwählt, daß
ein Anhalt über ihr Liebesleben aus der Erzählung
nicht gewonnen werden kann ; mindestens wäre es
eine völlig ungerechtfertigte, weil auf kein Moment
zu stützende Vermutung, daß Judith die heiße sexuelle
Leidenschaft ihres Volkes in irgend einer Weise be-
friedigt habe. Das aber ist gerade ein Moment, das
doch eine kleine Seelenmalerei rechtfertigen kann.
— 169 —
Judith hatte ja allerdings den Plan, Holofernes zu
töten, um dadurch ihr Volk zu befreien.
Nun machte ihr Holofernes an dem verhängnis-
vollsten Tage seines Lebens ein Anerbieten, von dem
Judith sagte, es ehre sie so, wiie sie noch niemals,
ihr ganzes Leben lang geehrt worden sei. Gewiß,
das war eine ^arglistige Rede, die nur den Zweck
haben sollte, Holofernes und seine Umgebung sicher
zu machen; aber ob nicht doch in einem verborgenen
Winkel ihrer Seele sich Gefühle regten, die wohl ver-
ständlich, bei einem schönen orientalischen Weibe
von heißer, sprudelnder Leidenschaft sogar selbstver-
ständlich sein mußten? Holofernes war ein gewal-
tiger Mann, stark und ein Riese, er war durchglüht
von einem leidenschaftlichen Verlangen nach dem
ebräischen Weibe. Das wußte Judith längst. Sie war
mit ihm allein in der Kammer, die der Ort wollüstiger
Liebesspiele werden sollte. Judith hatte andere Pläne;
aber andere Pläne beseitigen nicht das sexuelle Ver-
langen; sie können wohl bewirken, daß es gewaltsam
zurückgedrängt werde. Aber wie die Begierde die
griechischen Weiber zwang, im Blute zu wühlen, so
mag auch die heiße Leidenschaft Judith das Schwert
in die Hand gedrängt haben; auch bei ihr mag die
heiße sexuelle Begierde, die nicht befriedigt werden
durfte, wenn nicht der Befreiungsplan scheitern sollte,
sich bis zu dem wahnsinnigen Drange, im Blute des
Mannes zu wühlen, sich an seinen Todeszuckungen zu
weiden, gesteigert haben, so daß der furchtbare Mord,
dessen doch eigentlich ein Weib, das so gerühmt wird
wie Judith, unter normalen Verhältnissen kaum fähig
gewesen wäre, durch die Leidenschaft geradezu ge-
— 170 —
bieterisch gefordert wurde. Wir sind gewohnt, so
etwas pervers zu nennen und von Sadismus usw. zu
sprechen, und doch ist es psychologisch völlig er-
klärlich. Nicht der zu einer trostlosen Berühmtheit
gelangte Marquis de Sade hat diese Perversität „er-
funden", noch viel weniger ist er der Erste, der sie
geübt hat; das, was wir bei den alten Dionysien
Griechenlands und bei ähnlichen „Festen" des ganzen
Orients und auch im alten Rom finden, ist doch eigent-
lich dieselbe Erscheinung, die aber dort nichts Krank-
haftes hatte, sondern als das betrachtet wurde, was
sie in Wirklichkeit ist, nämlich die eruptive Entladung
einer bis zum Äußersten gesteigerten sexuellen Er-
regung, einer Erregung, die weit bis über die Grenzen
gesteigert ist, innerhalb deren eine Befriedigung auf
natürlichem Wege möglich ist. Wir finden ähnliches
im Tierreich durchaus nicht selten, ohne daß wir
berechtigt wären, von einer Perversität zu sprechen
oder an eine krankhafte Entartung zu denken. Schon
die Kämpfe brünstiger Hirsche sollten uns die Augen
öffnen, und der Umstand, daß es viele Insekten gibt,
die die Befriedigung des sexuellen Triebes mit dem
Leben zahlen und doch lieber auf dieses als auf die
Befriedigung verzichten, bestätigt das Gesagte, ohne
daß es nötig wäre, bis auf zoologische Auseinander-
setzungen von meinem Thema abzuschweifen. Ich
meine nur, die Judithgeschichte ist auch von diesem
Standpunkte aus interessant und ein Meisterstück ob-
jektiver Erzählungskunst.
Doch nun zurück zu den Bacchanalien. Im
alten Griechenland fanden die Dionysien, die übrigens
keineswegs alle denselben Charakter trugen, sondern
— 171 —
zum Teil auch seriös, traurig, wenn auch ebenfalls
wild und leidenschaftlich waren, weil man sich den
Gott teils dämonisch, teils als Sorgenbrecher vorstellte,
den größten Anklang; es bildeten sich sogar besondere
religiöse Vereinigungen, die als wesentlichsten Kult die
Verehrung des vielseitigen Gottes übten und ihn teils
in seiner heitern, teils in seiner dämonischen Bedeu-
tung auffaßten. Deshalb war auch der Kult, soweit wir
über ihn ein ungetrübtes Urteil uns zu bilden vermögen,
scheinbar voll von inneren Widersprüchen. Es wurde
sogar Enthaltsamkeit verlangt, dem Fleischgenuß sollte
entsagt werden, vielleicht in Rücksicht, daß der Gott
eigentlich ein Gott der Früchte war, und es gab ziem-
lich scharfe Sühnervorschriften. Daneben aber wurde
auch dem Gotte als Freudengott gehuldigt, und es
gab trotz der fast asketischen Vorschriften auch die
wüstesten Orgien. Geschlechtliche Ausschweifungen
schlimmster Art gehörten eben auch zum Kult, und
das Symbol war nicht umsonst der Phallus. Ich habe
schon gesagt, daß der Kult scheinbar voller Wider-
sprüche war; das ist in der Tat durchaus zutreffend,
denn die Enthaltsamkeit, die auf der einen Seite ge-
fordert wurde, widersprach keineswegs den sexuellen
Ausschweifungen nach der Auffassung des orientali-
schen Altertums. Man hätte eine cölibatartige Enthalt-
samkeit überhaupt nicht verstanden ; bei der Verehrung
des Gottes der Zeugungskraft wäre sie ja auch fak-
tisch die blanke Unvernunft gewesen.
Ich möchte hier zunächst zum besseren Verständ-
nis der damaligen Ansichten, die Mythologie des
Priapos einflechten, der nach der griechischen Mythe
der Sohn der Aphrodite und des Dionysos — nach
— 172 —
änderet Lehre auch des Adonis oder Hermes — war,
man war sich offenbar auch bei den Göttinnen über
über die Vaterschaft nicht immer völlig einig. Die
in einem früheren Kapitel besprochene Methode, den
Vater aus der Ähnlichkeit mit dem Kinde zu erraten,
würde in diesem Falle kläglich Fiasko gemacht haben,
denn Priapos sah weder seiner Mutter noch auch einem
der genannten Väter auch nur entfernt ähnlich; er war
vielmehr völlig aus der Art geschlagen und grund-
häßlich ; selbst seine Gestalt erinnerte nicht nur nicht
an die göttliche Abstammung, sondern Priapos war
entschieden mißgestaltet und einfach das, was man
ein absolutes Scheusal zu nennen wohl berechtigt ge-
wesen wäre. Nur in einem Punkte hatte ihn die Natur
mit verschwenderischer Liebe ausgestattet. Die alten
Bildwerke, die von ihm in großer Zahl existierten,
meist Hermen, heben diesen Vorzug gebührend hervor;
es war ihm ein über alle Begriffe entwickeltes Zeu-
gungsorgan verliehen worden, so gewaltig, daß seine
Mutter ihn von sich stieß und ihn als Mißgeburt be-
trachtete. Nach der Mythe soll Priapos in Lampsakus
eine Zuflucht gefunden haben, wo man ihn liebevoll
duldete und vielleicht wegen seiner eigenartigen
Körperbeschaffenheit bewunderte. Es wird nun weiter
erzählt, und das ist für die reiche Phantasie, mit der
der Orient alles ausstattete, was auf das Liebesleben
Bezug hatte, sehr lehrreich und bezeichnend, daß
Priapos verjagt worden sei, als er zum ganzen Manne
heranreifte, weil alle Ehemänner auf ihn eifersüchtig
gewesen seien. Die Damen in Lampsakus sind dem-
nach etwas anderer Ansicht gewesen als die Göttin
Aphrodite; ihnen hat besonders gefallen, was dieser
— 173 —
so stark mißfiel. Auch das Orakel soll dem jungen
Priapos günstiger gewesen sein als die lampsakischen
Ehemänner; es soll geraten haben, den Verbannten
unverzüglich zurückzurufen, und da man sich damals
den Orakelsprüchen noch unbedingt fügte, mochten sie
auch noch so Unerwünschtes fordern, so beeilte man
sich, den jungen Priapos eiligst zurückzurufen. Ob
dieser nicht besonders „übelnehmisch" veranlagt war,
ob es ihm etwa bei den lampsakischen Damen beson-
ders gut gefallen hat, oder ob er bloß dem Orakel
ebenso gehorsam war wie die Ehemänner, die doch
eigentlich eine viel größere Selbstüberwindung be-
wiesen, mag dahingestellt bleiben, die Mythe läßt sich
auf psychologische Detailmalereien ja niemals ein,
kurz und gut — Priapos kehrte zurück, und darüber
herrschte allgemeiner Jubel; wieder wird nicht erzählt,
ob mehr bei den Weibern oder auch bei den Männern,
vielleicht bei beiden, denn Priapos wurde als Gott
der Zeugungskraft verehrt, und auf Götter war da-
mals auch ein Ehemann niqht eifersüchtig, mochte er
sich den Gott auch noch so persönlich und in seinen
Begierden und Handlungen noch so menschlich, allzu-
menschlich vorstellen, das war gleich. Auch Priapos
war eben Gott, und demgegenüber verstummte die
Eifersucht, mochte Priapos auch soviel berechtigten
Grund zu dieser geben. Das hat er aber zweifelr
los getan, denn noch heute spricht man von Priapis-
mus, der sich bei Neurasthenikern öfter findet, aber
auch bei Rückenmarksleiden vorkommt und etwa das-
selbe wie Satyriasis, also ein krankhaft gesteigerter
sexueller Trieb ist.
Nach meiner Ansicht ist nichts bezeichnender für
174
das damalige Liebesleben als die Mythe des Priapos
und die bildlichen und poetischen Schilderungen dieses
göttlichen Mannes. Bei den Bildwerken kam es haupt-
sächlich darauf an, einen übergroßen Phallus darzu-
stellen, und wie die Herren Poeten diese Materie
mit Eifer und Interesse aufgegriffen haben, beweist
wohl am besten der Umstand, daß eine besondere
Sammlung von Gedichten und Epigrammen auf Priapos
herausgegeben werden konnte (1469), von der der
Kulturforscher sehr viel lernen kann, wenn diese
lateinischen Gedichte freilich auch in wörtlicher Über-
setzung nicht wiedergegeben werden dürfen, min-
destens nicht in unserer Zeit, die so prüde nach Hand-
haben sucht, an der die Herren Sittlichkeitsfexe be-
weisen können, daß sie den Schein über das Sein
stellen, daß ihnen jedes Verständnis für den Wert
kulturgeschichtlicher Forschung, sowie jedes Em-
pfinden für das wirklich Sittliche fehlt, weil sie die
Jagd nach einem etwa zweideutig erscheinenden Worte
für Sittlichkeit halten. Daneben freilich begeistert man
sich für die sexuelle Aufklärung der Kinder und geht
geht dabei ungestraft so weit, daß man teilweise ge-
radezu bemüht ist, die letzten Restchen eines durch-
aus notwendigen Schamgefühls mit rauher Hand aus-
zurotten wie ekles Unkraut aus dem Blumengarten.
Piapos war und blieb eine verehrte Gottheit,
mochte sein Bildwerk zeitweilig in Rom auch als —
Vogelscheuche benutzt werden. Was an ihm so
fesselnd war? Nichts als seine wie eine Meßbildung
erscheinende übermäßige Entwickelung des Phallus;
er war die Gottheit der Zeugungskraft, also doch der
wichtigste Faktor im Rate der Götter. Oft ist er
— 175 —
freilich mit dem Dionysos oder Bacchus selbst indenti-
fiziert worden, und das ist wohl auch der Gru.:d der
Rolle, die er bei den Bacchanalien spielte; man hul-
digte eben in erster Linie dem Ressort, das er in der
Mythologie zu vertreten hatte.
War es bei den Dionysien des alten Griechen-
lands, wie wir gesehen haben, über alle Begriffe wüst
hergegangen, so waren die römischen Bacchanalien
noch wilder und verrufener. Zunächst freilich erhitzten
sich nur die Weiber bei diesen Festen, wohl ähnlich
wie die Weiber Griechenlands. Später aber wurden
die Feste dadurch, daß man auch Männer hinzuzog,
noch schlimmere Orgien als die ursprünglichen grie-
chischen Feste, die sich allerdings auch mit der Zeit
sehr erhebliche menschliche Variationen gefallen lassen
mußten. In Rom kam man sehr bald auf den Ge-
danken, daß die Bacchanalien weit weniger in den
hellen Rahmen des Tageslichts hineinpassen wollten
als in den mitleidsvollen Schleier der verschwiegenen
Nächte. An den Ufern des Tiber kam man zusammen,
nicht mehr wie einst dreimal im Jahre, sondern fünf-
mal in jedem Monat. So sehr verehrte man den —
braven Bacchus oder vielmehr den von ihm repräsen-
tierten Kult der Geschlechtsliebe. Männer und Weiber
tobten geradezu in rasenden Tänzen, bei denen sie
das Kostüm so wenig wie nur irgend möglich be-
hinderte. Sie ergingen sich sogar in Weissagungen,
trieben allerlei Hokuspokus, aber der Kern der Sache
war und blieb die sexuelle Ausschweifung, der sich
keiner und keine entziehen konnte. Schon die be-
täubende Raserei des Kults nahm die Sinne so ge-
fangen, daß das sexuelle Moment wie eine Erlösung
— 176 —
erschien, und wer etwa doch Bedenken trug, den
letzten Schritt zu tun, den zwang man mit Gewalt.
Es soll bei solchen Festen die Notzucht etwas Selbst-
verständliches gewesen sein, wer nicht wollte, der
erlag der Gewalt. Das gehörte zum Kult und war
bei einer Feier des Bacchus oder Priapos sozusagen
das Amen in der Kirche. Daß man zu solchen Akten
besonders die frische, kräftige und noch nicht ver-
lebte Jugend heranzuziehen bestrebt war, kann nicht
auffallen. Man suchte dies dadurch zu erreichen, daß
man erklärte, es solle niemand mehr, der über 20
Jahre alt sei, in den Bund aufgenommen und in die
Mysterien des Bacchuskults eingeweiht werden. Ein-
mal eingeweiht, d. h. zu den Festen erschienen, konnte
sich, wie schon gesagt, niemand den letzten Kon-
sequenzen entziehen, da die schwerste Notzucht eben
nichts war als ein erlaubter und sogar notwendiger
Akt der Einweihung. Die Bacchanalien arteten immer
mehr aus und wurden auch schließlich von der Obrig-
keit etwas schärfer aufs Korn genommen.
Es war ja freilich weniger die entsetzliche Aus-
artung der Liebesexzesse, die den Staat so lebhaft
interessierte als vielmehr die politische Gefährlichkeit
der Bacchanalien. Die Eingeweihten beschränkten
sich nämlich nicht darauf, bei den Festen die em-
pörendsten Ausschweifungen als Sport zu betreiben,
sondern sie schlössen förmlich Bündnisse, durch die
sie sich auch außerhalb der Feiern Begehung schwerer
Verbrechen verpflichteten. Besonders wurde die Ver-
nichtung persönlicher und politischer Feinde betrieben.
Die entsetzlichste Unsittlichkeit mußte eben die allge-
meine Moral untergraben. Im Jahre 186 v. Chr.
— 177 —
folgte deshalb ein schwerer Schlag gegen die Bac-
chantengesellschaft. Die Priester und Priesterinnen
wurden verhaftet und streng bestraft; man verstand
es bekanntilich im alten Rom sehr, die Strafen auf jede
Weise zu würzen. Die Bacchanalien aber wurden ver-
boten, und damit dieses Verbot auch die genügende
Beachtung finden sollte, wurden für die Abhaltung
weiterer Bacchanalien die schwersten Strafen an-
gedroht.
Das hat sicher sehr heilsam gewirkt, aber doch
keinen dauernden Erfolg gezeitigt, denn wenn es
auch zunächst den Anhängern des Kults gewaltig in die
Glieder gefahren war und die ihnen Lust zu einer öffent-
lichen Betätigung benommen hatte, so wurden doch
heimlich Bacchanalien gefeiert, denn die Orgien hatten
den Eingeweihten doch viel zu gut gefallen, als daß
sie auf diesen schönsten Teil ihres Liebeslebens ver-
zichten mochten. Bald wagte man es in verschiedenen
Teilen Italiens auch wieder, sich etwas freier zu be-
wegen, und, wie es scheint, wurde das Verbot auch
nicht allzu streng gehandhabt. Die Feiernden werden
ja auch wohl so vorsichtig gewesen sein, sich we-
nigstens außerhalb der eigentlichen Feste nichts zu
Schulden kommen zu lassen. Jedenfalls hat auch zu
Rom selbst der alte Brauch sehr bald seine Auf-
erstehung gefeiert, denn zur Kaiserzeit bestand er
noch, und es ist dann auch dem Treiben kein so er-
hebliches Hindernis in den Weg gelegt worden.
Es läßt sich wohl nicht bestreiten, daß die Bac-
chanalien vielleicht das wichtigste und lehrreichste
Stück altertümlich orientalischen Liebeslebens bilden.
Ich darf getrost sagen, des orientalischen Altertums,
12
— 178 —
denn nicht auf Griechenland und Rom blieben diese
Feste schrankenloser Ausschweifungen beschränkt,
sondern sie teilten sich dem ganzen Orient mit, und
die Mythe berichtet ja auch vom Bacchus die selt-
samsten Dinge, auf die ich aber nur soweit eingehen
will, wie sie offenbar späteren Dichtungen entstammen.
Es wird dem Bacchus da ein gewaltiger Siegeszug
durch den Orient angedichtet. Durch Ägypten, Syrien
und quer durch den asiatischen Orient bis tief ins
Innere Indiens geht der Zug. Bacchus thront auf einem
Wagen, der von Löwen oder Panthern gezogen wird.
Eine große Schar wilder Männer und Frauen in den
fantastischesten Kostümen, wie sie bei den Bacchanalien
beliebt waren, Halbgötter usw. begleiteten den Gott,
der überall über die rohen Sitten und die rohen
Naturkräfte siegt und den Segen der Bachuskultur
verbreitet, d. h. er lehrt die Kunst des Weinbaues
und die Kunst des Lebens, also die Kunst, des
Lebens Unverstand mit Würde und Vergnügen zu
genießen. Er soll aber mit der Kunst des heiteren
Lebensgenusses auch den Segen der griechischen
Kultur gebracht haben in alle jene Länder, in denen
roher Barbarismus herrschte. Roher Barbarismus we-
nigstens nach der Auffassung der Hellenen, deren
Kultur sich ja auch in der Tat hoch über die der
meisten orientalischen Länder erhob, mochten diese
sonst auch ganz gewiß wenigstens zum großen Teile
alles andere eher sein als kulturlos. Auf der Insel
Naxos traf der Zug die schöne Ariadne, und der
Gott, der so viel Verliebtheit protegiert hatte, dem zu
Ehren so viele Liebesexesse gefeiert wurden, der fiel
— 179 —
nun dort selbst der Liebe in die Hände, er heiratete
die schöne Ariadne.
Das ist Dichtung und doch zugleich Wahrheit.
Dichtung ist die persönliche Weltreise des Bacchus,
Wahrheit ist aber, daß Bacchus die Welt bis ins
tiefste Innere Indiens erobert hat. Die griechische
Kultur, die er verbreitet hat, ist allerdings nicht
gerade geeignet gewesen, die Völker zu veredeln,
mehr vielleicht, sie zu beglücken, wenn man das als
ein Glück bezeichnen will, was doch eigentlich nichts
ist als ein Sinnentaumel, der zwar die Schale des
augenblicklichen Vergnügens bis zum Überlaufen
erfüllt, aber dann auch umso sicherer die Depression
folgen läßt. Nun ist allerdings für das orientalische
Altertum die sittliche Gefährdung durch die Ein-
führung des Bacchuskults ganz gewiß so gering
gewesen, daß sie als solche überhaupt nicht erwähnt
werden darf, denn alles das, was nach unseren heutigen
Moralanschauungen, die allerdings alles andere eher
als logisch sind, als unsittlich zu gelten hat, war so
stark kultiviert, daß selbst die griechischen und
römischen Bacchanalien höchstens noch als eine
Verfeinerung der Sitten hätten gelten können. Davon
kann kaum ein Volk ausgenommen werden, wenn auch
nicht zu bestreiten ist, daß der sittliche Wert des
Liebeslebens doch bei den verschiedenen Völkern
nicht völlig der gleiche war. Aber selbst das streng
religiöse Judentum mit seinem Gllauben an einen ein-
zigen persönlichen Gott, der als der Gesetzgeber galt,
weil von ihm alle die weltlichen, religiösen und mora-
lischen Gebote direkt herühren sollten, war sittlich
doch von Ansichten beherrscht, die wir sicher nicht
12*
— 180
mehr für sittlich halten würden, und was sonst noch
über diese offiziellen Sittlichkeitslehren hinaus ge-
trieben wuide, das ist erst recht geeignet, auch da
mit dem allgemeinen Maße zu messen. Schon Tacitus
nannte die Juden „Gens ad libidinem projectissima".
Das ist doch mindestens ein Beweis dafür, daß in
den Augen der Römer, die selbst wahrlich nicht den
Vorwurf verdienten, allzu sehr die Keuschheit als das
erstrebenswerteste Ziel zu betrachten, die Juden als
übertrieben sinnlich galten. Tacitus hat bekanntlich
in der Unsittlichkeit seiner Landsleute eine große
Gefahr gesehen, er hat in tendentiöser Weise die
Germanen in der lichten Farbe der Unschuld, die
Römer als moralisch schwarz gemalt, um ihnen den
Spiegel vor Augen zu halten und sie zur Umkehr zu
ermahnen. Wenn ein solcher Mann die Juden als
das sinnlichste Volk schilderte, so darf man wohl an-
nehmen, daß deren Sittlichkeit nicht allzukräftig war.
Und dennoch durften die Juden mit dem Gefühl des
Zöllners auf die übrigen Völker des Orients blicken
und Gott danken, daß sie nicht waren wie jene.
Der Unterschied ergibt sich aus der Verschieden-
heit der religiösen Ansichten. Wie sehr der Götzen-
dienst — nicht bloß die Verehrung des Bacchus —
die orientalischen Heiden zur Unsittlicheit geradezu
veranlaßte, darauf werde ich noch gelegentlich zurück-
kommen.
Furor sexualis im Kriegsleben.
Daß das Kriegswesen die Gemüter der Kämpfen-
den verrohen muß, besonders beim Nahkampf mit
mehr oder weniger primitiven Waffen, liegt in der
Natur der Sache. Der stete Anblick der furchtbarsten
Greuelszenen ist nicht geeignet, das Gemütsleben zu
veredeln. Besonders der Kampf Mann gegen Mann, bei
dem das Bestreben einzig und allein darauf gerichtet
ist, dem Gegner so furchtbare Verletzungen beizu-
bringen, wie nur irgend möglich ist, denn nur dadurch
kann der Feind kampfunfähig gemacht, der Sieg er-
rungen werden, wirkt durch die Unmittelbarkeit des
Blutvergießens, ich möchte sagen, durch das direkte
Wühlen im Menschenblute noch erheblich demorali-
sierender als z. B. der Kampf mit unseren modernen
Feuerwaffen, die auf gewaltige Entfernungen wirken
und nicht so unmittelbar dem Schützen die Schrecken
des Kampfes vor Augen führen. Mögen auch links
und rechts neben ihm die Freunde niedergehagelt
werden. Wenn nun auch durch das, was man unter
dem Namen Manneszucht versteht, das Verrohende des
Krieges erheblich abgeschwächt werden, so dürfen
doch die übertriebenen Lobeshymnen, die so oft dem
— 182 —
veredelnden Heldentum dargebracht werden, ins Reich
der Phrase verwiesen werden. Mag auch die Bewun-
derung und Verehrung, die man den Männern, die
Blut und Leben für das Vaterland eingesetzt und sich
mutig geschlagen haben, nicht aus Utilitätsrücksichten
entgegenbringt, noch so ehrlich, natürlich und wohl-
verdient sein. Es kommt hier aber nicht auf moderne
Kriege an, sondern auf das Kriegsleben der alten
orientalischen Völker.
Daß man im orientalischen Altertum den tapferen
Krieger ehrte, daß bei vielen Völkern die kriegerische
Tapferkeit fast das einzige war, wodurch ein Mann
sich auszeichnen konnte, das versteht sich von selbst,
denn es war schon das ganze Leben darauf zuge-
schnitten, daß das Kriegshandwerk immer blühen und
gedeihen mußte. Daß aber dieses Heldentum die
Menschen hätte veredeln können, das war schon des-
halb nicht denkbar, weil dabei jeder Edelmut ausge-
schlossen, das einzige Streben die völlige Vernichtung
der Gegner war. Selbst in der Bibel, die doch in
den Mosaischen Vorschriften so vieles enthält, was wir
auch heute noch als nachahmenswerte Forderungen
wirklicher Humanität gelten lassen dürfen, finden wir
doch entsetzliche Schilderungen des Krieges, die uns
an das Dichterwort mahnen: „Ein Schlachten wars,
nicht eine Schlacht zu nennen." Von der Ehrenpflicht
des Siegers, den Besiegten zu schonen und auch in
ihm den Helden zu ehren, war garnicht die Rede.
Wie entsetzlich mutet uns noch das furchtbare Blut-
gericht an, das der christliche Karl der Große über
die besiegten Sachsen halten, und bei dem er sie
einfach enthaupten ließ. Und doch ist das immer
— 183 —
noch christliche Sanftmut im Vergleich mit dem, was
uns die Bibel als von Oott selbst befohlen berichtet.
In der Regel werden ganze Völker ausgetilgt durch
des Schwertes Schärfe. Nicht nur die Männer, die
im Streite besiegt waren, wurden ausgelöscht, son-
dern man tötete auch nicht selten die Weiber. Ich
will hier nur an die Vertilgung der Midianiter denken;
die Israeliten besiegten dieses Volk und erwürgeten
alles, was männlich war. Damit aber nicht genug.
„Und die Kinder Israel nahmen gefangen die Weiber
der Midianiter und ihre Kinder; all ihr Vieh, alle ihre
Habe und alle ihre Güter raubten sie; und verbrannten
mit Feuer alle ihre Städte, ihre Wohnung und alle
Zeltdörfer; und nahmen allen Raub und alles, was
zu nehmen war, beides Menschen und Vieh, und
brachtens zu Mose und zu Eleasar, dem Priester, und
zu der Gemeine der Kinder Israel, nämlich die Ge-
fangenen und das genommene Vieh und das geraubte
Gut ins Lager auf der Moabiter Gefilde, das am
Jordan liegt gegen Jericho. Und Mose und Eleasar,
der Priester, und alle Fürsten der Gemeine gingen
ihnen entgegen, hinaus vor das Lager. Und Mose
ward zornig über die Hauptleute des Heeres, die
Hauptleute über tausend und über hundert waren,
die aus dem Heer und Streit kamen, und sprach zu
ihnen: Warum habt ihr alle Weiber leben lassen?
Siehe, haben nicht dieselben die Kinder Israel durch
Bileams Rat abwendig gemacht, daß sie sich ver-
sündigten am Herrn über den Peor und widerfuhr
eine Plage der Gemeine des Herrn? So erwürget
nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und
alle Weiber, die Männer erkannt und beigelegen haben;
— 184 —
aber alle Kinder, die Weibsbilder sind, und nicht
Männer erkannt haben, die laßt für euch leben."
Es ist hier also eine Grausamkeit geübt worden,
die furchtbar abstoßend wirkt, und für die es keine
Erklärung geben würde, wenn man nicht die entsetz-
lichen Anschauungen jener Zeit berücksichtigen wollte,
denn nur diese lassen die Erklärung für das überaus
blutdürstige Verhalten wehrlosen Feinden, hilflosen
Weibern und Kindern gegenüber als eine Erklärung
gelten. Es ist nämlich als Motiv für die gegen die
Midianiter begangenen Greueltaten die schwere reli-
giöse Gefährdung genannt worden, die den Kindern
Israel durch die Midianiter drohte. Moses sagt das
ja auch, daß die Midianiter die Kinder Israel abwendig
gemacht hätten, daß sie sich versündigten am Herrn
über den Peor. Deshalb sollten sie vernichtet werden,
denn nur durch ihre Ausrottung konnte diese Gefahr
abgewendet werden. Dabei entfiel auf die heidnischen
Weiber ein gerüttelt Maß der Schuld, wie man es
wenigstens im gewöhnlichen Leben zu deuten sucht,
denn wenn jemand durch seine Sinnlichkeit und seinen
Leichtsinn sich zu etwas Verbotenen hinreißen läßt,
dann gibt er nicht der eigenen Liederlichkeit die
Schuld, sondern stets wird er geneigt sein, zu be-
haupten, daß er nur das beklagenswerte Opfer fremder
Verführungskunst geworden sei. So auch das aus-
erlesene Volk, das von orientalischer Sinnlichkeit er-
füllt, begierig jede Gelegenheit sucht, mit den Weibern
der Nachbarvölker sexuellen Verkehr zu pflegen. Ich
kann hier ebenfalls aus der Bibel meine Beweise
schöpfen. „Und Israel wohnte in Sittim. Und das
Volk hub an, mit der Moabiter Töchtern, welche
— 185 -
luden das Volk zum Opfer ihrer Götter. Und das
Volk aß, und betete ihre Götter an. Und Israel
hängete sich an den Baal Peor." Das war doch nur
eine Folge der Sinnlichkeit, ein Phallusdienst. Kann
man es den heidnischen Weibern verübeln, daß sie
wünschten, die Männer, die um ihre Gunst buhlten,
sollten auch ihre Götter nicht verachten? Luft macht
eigen, hieß es im alten deutschen Rechte, und die
Gemeinschaft mit Heidinnen machte auch deren Göttern
neue Knechte. Es war doch nichts als der Sinnen-
taumel, der die Israeliten zu den Töchtern der Heiden
trieb; es war der wilde Sinnenrausch, der sie ihren
treuen Gott vergessen und dem Peor opfern ließ.
Israel ist wegen dieser Schwäche heimgesucht worden,
wie die Bibel sagt, denn über dieses Volk kam eine
große Plage, bei der 24000 getötet wurden. Mußte
die Liederlichkeit der Juden durch die Todesstrafe
gesühnt werden, so war sie gerecht über die Is-
raeliten verhängt worden. Wie aber konnte das Volk
der Midianiter die Ausrottung verdient haben? Von
dem Treiben der Israeliten noch ein Bild: Und siehe,
ein Mann aus den Kindern Israel kam, und brachte
unter seine Brüder eine Midianitin vor den Augen
Moses und der ganzen Gemeine der Kinder Israel,
die da weineten vor der Tür der Hütte des Stifts.
Da das sah Pinehas, der Sohn Eleasars, des Sohns
Aarons, des Priesters, stand er auf aus der Gemeine,
und nahm einen Spieß in seine Hand, und ging dem
israelischen Mann nach in die Kammer, und durch-
stach sie beide, den israelischen Mann, und das Weib
durch ihren Bauch." Es mag in diesem Falle wohl
eher entschuldbar erscheinen, daß der Mann, der
— 186 —
eine Heidin in die Gemeinde gebracht hatte, um mit
ihr der verbotenen Liebe zu genießen, während der
Ausübung dieses Frevels — als solcher galt er diesmal
— den Todesstreich zusammen mit seiner Mitschuldigen
erleiden mußte, und es wird dann auch berichtet, daß
nach dieser Todesstrafe die Plage in Israel aufhörte.
Es ist das sicherlich sehr wohl geeignet, bei Moses und
den Führern des sehr wankelmütigen Israelvolks den
Wunsch zu erwecken, daß in Zukunft die Versuchung
von den Männern Israels möglichst ferngehalten werde,
obwohl doch eigentlich nur die erprobte Tugend eine
Tugend ist, nicht schon die Entsagung eines Ver-
gnügens, das zu genießen, keine Gelegenheit sich
bietet. Von diesem Wunsche aber bis zur Vernich-
tung eines besiegten und dadurch unschädlich ge-
machten Volkes, besonders bis zur Ausrottung wehr-
loser Weiber oder Kinder ist es doch wahrlich noch
ein himmelweiter Schritt.
Nun fällt aber bei der Erzählung noch etwas
anderes auf. Getötet wurden nur die Kinder männ-
lichen Geschlechts und die Weiber, die Männer er-
kannt und beigelegen hatten. Man hat also doch
nicht bloß die weibliche Verführung gefürchtet, son-
dern auch die weitere Existenz der männlichen Nach-
kommen, vielleicht fürchtete man deren spätere Rache.
Das wäre nichts ungewöhnliches und steht besonders
im Orient nicht vereinzelt da. Wozu aber mußten
die Weiber sterben', die schon Männern beigelegen
hatten? Jedenfalls weil man fürchtete, daß sie männ-
lichen Nachkommen das Leben schenken könnten
und nicht Zeit und Geduld hatte, abzuwarten, ob
diese Möglichkeit sich wirklich erfüllte. Die Kinder
— 187 —
weiblichen Oeschlechts und alle, die noch keinen
Mann gehabt hatten, die durften die Sieger für sich
behalten. Hier war also erlaubt, was vordem das
todeswürdige Verbrechen gebildet hatte; hier durften
die Sieger die heidnischen Weiber behalten und an
ihnen ihre Lüste befriedigen. Das war allerdings
auch ein anderes Verhältnis. Früher, als die Israe-
liten im Nachbarlande mit den Töchtern der Heiden
gebuhlt hatten, da mußten sie sich deren Gunst er-
werben, und es war ihnen kein zu hoher Preis, selbst
den heidnischen Göttern zu opfern; als Gefangene
waren die Weiber aber das Eigentum der Sieger, sie
konnten da nicht mehr dem Glauben der Männer
gefährlich werden, sondern mußten wohl eher zu
Jehovah sich bekehren. Ich will hier nicht ausführ-
licher auf eine Stelle eingehen, die mir zu beweisen
scheint, daß auch in Israel die Gefangenen zum Teil
geopfert wurden. Es wird ja bekanntlich bestritten,
daß es bei den alten Juden Menschenopfer gegeben
habe. Ich bin vom Gegenteil überzeugt aus Gründen
die an dieser Stelle ausführlich darzulegen nicht in
den Rahmen meines Themas gehört. Ich finde aber
doch eine kurze Stelle, die sich an die Vernichtung
der Midianiter knüpft, doch der beiläufigen Erwäh-
nung würdig; es heißt da (4. Mose 31, 40): „Des-
gleichen Menschenseelen, sechszehntausend Seelen;
davon wurden dem Herrn zweiunddreißig Seelen."
Es handelt sich um die Aufzählung der Beute. Ebenso
wie es bei der Zahl der Schafe und Rinder heißt
„davon wurden dem Herrn so und soviele, was doch
garnichts anderes bedeuten kann, als daß diese Zahl
als Dankesopfer dargebracht wurde, finde ich auch
— 188 —
bei der Zahl der Menschenseelen beim besten Willen
keinen anderen Sinn, als daß diese geopfert wurden.
Das geht nicht allein aus der Zahl hervor — 32 von
16000 — , sondern, wie gesagt, auch aus dem ganzen
Zusammenhang. Auf die Zahl der im Kampfe Ge-
fallenen hat diese Zahl nicht den mindesten Bezug,
denn es waren ja außer den 5 Königen alle Männer
erwürgt, und die 16000 waren übrig gebliebene Ge-
fangene, keineswegs zu viel, wenn man bedenkt, daß
es sich um ein Volk handelte, das 5 Königreiche um-
faßte. Außerdem handelte es sich hier um die Auf-
zählung der Ausbeute. Ich erwähne diese Menschen-
opfer deshalb, weil ich sie auch bei anderen orien-
talischen Völkern des Altertums häufig finde. Selbst
in unserer Heimat kamen sie übrigens nicht
selten vor.
Es mag mit diesen biblischen Schilderungen ge-
nug sein. Die Juden waren das auserlesene Volk;
sie durften sich immerhin höher stellen als die Nach-
barvölker, die noch zum Teil Halbwilde waren, und die
doch auch, soweit sie eine entwickeltere Kultur be-
saßen, niemals aus so sittlich-religiösen Motiven han-
delten wie die an einen einzigen Gott glaubenden
Israeliten. Die zügellose und wilde Grausamkeit der
übrigen orientalischen Völker im Kriege, ja selbst im
Frieden die wilde sexuelle Leidenschaft, die wir schon
in den Dionysien und Bacchusfesten kennen gelernt
haben, obwohl ich das Abscheulichste aus ästheti-
schen Gründen kaum angedeutet habe, läßt ohne
weiteres die Vermutung gerechtfertigt erscheinen, daß
die Ausrottung der Midianiter, so abscheulich sie auch
erscheinen mag, doch noch ein milder Akt Staats-
— 189 —
männischer Klugheit — wenn man es so nennen
will — gewesen ist im Vergleich mit andern ge-
schichtlichen Vorkommnissen. Wir finden nun diese
Vermutung auch durchaus bestätigt. Trotzdem würde
meine Kapitelüberschrift nicht gerechtfertigt erscheinen,
wenn es sich lediglich um eine kriegerische Brutalität
und Blutdürstigkeit gehandelt hätte. Es ist aber bei
allen den Akten, die historisch als Kriegsgreuel er-
wiesen sind, das sexuelle Moment so stark betont,
daß man sehr wohl berechtigt ist, dabei von einem
Furor sexualis zu sprechen, nicht etwa bloß nach
dem alten Rezept, dass große sexuelle Begehrlichkeit
mit blutdürstiger Grausamkeit gepaart zu sein pflegt.
Es finden sich überall die abscheulichsten Ausschrei-
tungen gegen das weibliche Oeschecht, das oft in
viehischer Weise mißbraucht und dann, wenn die
eklen Begierden bis zum Übermaß befriedigt waren,
in unerhörtester Weise abgeschlachtet wurde. Das
war selbsverständlich eine sexuelle Wut, die eine
Schande für alles, was Menschenantlitz trägt, ist.
Es war dieser Furor sexualis aber keineswegs
immer bloß gegen die Weiber gerichtet; sondern er
machte sich auch gegen männliche Feinde geltend.
So erzählt Döpler nach Johann Hugo v. Lindenschalls
„Orient. Indien", Kap. 41, S. 123 und Hans Dietrich
und Hans Israel von Bey. „Eigentliche und wahr-
haftige Fürbildung aller fremden Völker im Orient"
(Anno 1598) folgendes: „Die Nigriten oder schwartze
Moren in der Insel Mossambique, welche man Caffres
nennet, haben einen Gebrauch, daß, wenn sie wider
ihre Feinde zu Felde ziehen, und die Schlacht ge-
winnen, derjenige, so die meisten gefangen bekömmt,
— 190 —
oder caputiret, unter ihnen vor den Vornehmsten,
Größesten und Mannhafftesten gehalten wird, und
daher vor andern in großen Ansehen ist. Damit sie nun
dessen Zeugnis haben, wenn sie vor ihren König kommen
schneiden sie allen, so sie gefangen, oder umgebracht
haben, das männliche Glied ab: Die Gefangene aber
lassen sie alsdann, nach geschehener mutilation,
wieder hinlauffen. Solches geschieht darum, damit
dieselben keine Kinder mehr zeugen möchten, welche
ihre Feinde seyn, und ihnen Schaden zufügen könnten.
Das selbige Glied lassen sie wohl dörren, damit es
sich halte und nicht stinkend werde. Wann es nun
so fein gedörret ist, kommen sie für den König mit
sonderbarer Reverenze, in Gegen warth der Vornehm-
sten und Obersten in jener Gegend, nehmen eins nach
dem andern in den Mund, spützen es wiederum aus
auf den Erdboden vor des Königs Füße, welches der
König mit einer großen Danksagung annimmt. Und
damit er ihnen ihre Mannheit und Tapferkeit wiederum
mit einer besonderen Verehrung vergelte, so lasset
er alle die ausgespeiete membra virilia wieder
von der Erden aufraffen, und giebt sie hinwiederum
dem, der sie praesentiret, für eine sonderliche Gnade
und Ehrentitel, dessen er sich zu erheben habe, und
forthin vor eine ritterliche Person zuhalten sey. Drauf
nimmet er dieselbe alle miteinander, reihet sie zu-
sammen an eine Schnur, und machet draus ein pater
n o s t e r. Wenn sie denn etwan Hochzeit, oder sonst
ein Fest haben, so kommen die Bräute, oder auch
wohl Eheweiber eines solchen Ritters hinzu, und
haben dieses Pater noster mit allen solchen
Plunder um den Hals hängen, welches bey ihnen
— 191 —
eine solche große Ehre ist, als bey uns das güldene
Fluß tragen. Und dünken sich die Bräute oder
Weiber darbey so groß, hoch und gut, als wenn sie
gar die Königin selber wären."
Ob diese Erzählung in allen ihren Einzelheiten
stimmt, lässt sich gar nicht nach prüfen ; aber da ähn-
liche Bräuche von verschiedenen Autoren gemeldet
werden, ist der Kern der Sache jedenfalls durchaus
wahr. Vorhanden ist höchstens das Beiwerk, das ja
allerdings nichts mehr ist als eine Interpretation von
Europäern, die sich die Sache nach ihrer persönlichen
Auffassung ausmalten. Schon die Beschreibung der
Nigriten ist nicht völlig korrekt. Nigritien war der
von der Sahara begrenzte und südlich etwa bis zum
Aequator reichende Teil Nordafrikas, das eigentliche
Nigerland. Es kommt darauf aber auch nicht viel
an. Die Begründung, die der Verstümmelung der ge-
fangenen Feinde gegeben wird, ist eine doppelte.
Einmal sollten sie nicht mehr in die Lage kommen,
Kinder zu zeugen, die etwa später dem Lande der
Sieger gefährlich hätte werden können. Das ist ein
echt orientalischer Brauch, den wir ja ähnlich auch bei
dem Kampfe der Kinder Israel gegen die Midianiter
kennen gelernt haben. Ferner aber sollten die abge-
schnittenen menbra virilia eine Trophäe bilden, ähnlich
wie die Indianer den besiegten Feinden den Skalp
abtrennen und als Siegeszeichen an sich nehmen. Das
scheint wohl der Hauptzweck gewesen zu sein, denn
es wird ja ausdrücklich gesagt, dass nicht nur die
gefangenen, sondern auch die erschlagenen Feinde
in dieser Weise verstümmelt worden seien. Hier
konnte also doch der erstgenannte Grund überhaupt
— 192 —
nicht mehr in Frage kommen, da die Beispiele, in
denen erschlagene Männer noch Kinder gezeugt hätten,
jedenfalls nicht allzuhäufig angetroffen werden dürften.
Es ist mir nur freilich nicht recht klar, wie dieses
Sammeln der Schamglieder gehandhabt worden ist. Ob
jeder Nigrit, der einen Feind getötet hatte, sich zu-
nächst die Zeit nahm, ihn in der geschilderten Weise
zu verstümmeln und die Trophäe sorgfältig an sich
zu nehmen, oder ob man sich die Zahl der erschlagenen
Feinde merkte und nach Beendigung der Schlacht die
„Operation" vornahm? Es kommt freilich in Betracht,
dass die Kämpfe jener Völker und Zeiten sich
wesentlich anders abspielten als die modernen Feld-
schlachten kompakter Heere. Es hat sich wohl nicht
um Massenkämpfe in geordneter Schlachtaufstellung
gehandelt, sondern mehr um Kriegszüge kleinerer
Trupps, und ich erinnere auch da wieder an die In-
dianer, die sich doch ebenfalls zum Skalpieren ihrer
besiegten Feinde ließen und nicht gern auf die Tro-
phäe verzichteten, da sie ja den Ruf und das An-
sehen des Kriegers begründete. Ich setze nun aber
in den Doppelgrund, der für die Verstümmelung an-
gegeben wird, einen Zweifel nur hinsichtlich der Art,
in der er erzählt wird. An sich ist es gewiß richtig,
daß man nur Feinde, soweit sie noch lebten, in der
geschilderten Weise verstümmelte, um die Trophäe zu
erlangen und um den Feinden das wahre Zeugen von
Kindern unmöglich zu machen. Es ist aber mehr als
naiv, daß man die Feinde nach der mutilation wieder
laufen gelassen habe. Es ist wohl schwerlich anzu-
nehmen, daß jemand eine derartige Operation, die
doch sicherlich nicht mit zarter Sorgfalt ausgeführt,
— 193 —
sondern in der Wut des Kampfes so barbarisch wie
möglich vollzogen wurde, überleben konnte. Es mußte
wohl auf jeden Fall Verblutung und infolgedessen
der Tod eintreten. Von Bakterien, die sich auf eine
so furchtbare Wunde stürzen müßten, wußte man sehr
erfreulicher Weise damals noch nichts. Es lag ja auch
durchaus im Sinne damaliger Kriegsansichten, daß
man die gefangenen Feinde geradezu abschlachtete.
Auch die Nigriten werden nicht betrübt darüber ge-
wesen sein, wenn ihre Sucht, Trophäen zu erbeuten,
die Gegner mit dem Leben büßten. Der weitere
Zweck, daß diese keine Kinder mehr zeugen konnten,
war übrigens damit sehr sicher erreicht. Wozu sich
um das Schicksal, die Todesnot eines besiegten
Feindes kümmern? Es war doch eigentlich selbst-
verständlich, daß der Besiegte von dem Sieger nichts
zu erwarten hatte als den Todesstreich, der ihn eben-
sogut im Streite hätte treffen können. Wozu ihm
diesen Streich später ersparen? Übrigens fällt eins
beim Studium alter Geschichte auf; die unglaubliche
Lebenskraft früherer Geschlechter, die so zähes Leben
besaßen, daß sie kaum tot zu machen waren. Ich
werde das noch an anderen Beispielen erläutern
können.
Mehr als eigentümlich ist die Schilderung der
Zeremonie, mit der die Trophäen dem Häuptling —
in der Geschichte Döplers wird er König genannt —
präsentiert wurden. Der Held nahm die hierzu ge-
wiß nicht hervorragend geeigneten Zeichen des Sieges
in den Mund und spie sie vor die Füße des gestrengen
Führers aus. Dieser nahm das mit großem Danke
auf, natürlich, denn wer die meisten Feinde erschlagen
13
— 194 —
oder gefangen hatte, der war doch auch an dem Siege
am stärksten beteiligt, und daß er dafür Ruhm ver-
diente, versteht sich von selbst. Er durfte die Tro-
phäen für sich behalten, und sie tragen, wie der mo-
derne Held seine Orden trägt, die er oft sicherlich
nicht so unmittelbar erworben hat wie der tapfere
Nigrit die seinen. Der Held trug aber seine Zierde
nicht selbst, sondern schenkte sie der Gattin oder der
Braut, die bei festlichen Gelegenheiten diese Auszeich-
nung um den Hals trug. Es war das eine Sitte, die
uns des Gegenstandes wegen gewiß recht eigenartig
anmutet. Man rechnet zwar wohl überall mit der Putz-
sucht der Frauen; daß diese sich aber etwas als
Schmuck auswählen, was doch unter allen Umständen
als äußerst anstößig erscheinen muß, berührt gar zu
natürlich. Es läßt aber auch dieser Schmuck auf die
von jeder Prüderie freien Anschauungen schließen.
Für die Negritendamen war die Halskette eben nur
ein Symbol großer Tapferkeit ihrer Männer. Anspie-
lungen auf die Art der Trophäe hat man wohl schon
deshalb nicht gemacht, weil man auf solche Ehren-
zeichen im allgemeinen nicht spöttelt, wenn sie so
redlich verdiente Auszeichnungen sind. Auch bei uns
wird gern der Ochsenziemer benutzt, ohne daß man
an seine Herkunft und ursprüngliche Bedeutung
denkt. Auch da wird das Natürliche ohne Nebenge-
danken hingenommen.
Der Brauch, die im Kriege Überwundenen, be-
sonders die Kriegsgefangenen in dieser Weise zu ver-
stümmeln, war übrigens keineswegs auf die Nigriten
beschränkt; er scheint vielmehr sehr oft angewendet
worden zu sein und eine sehr große Verbreitung ge-
— 195 —
habt zu haben. Es war das wohl auf die sexuelle Wut,
die nun einmal beim Kampfe ihre Rolle spielte und
durch verschiedene Psychologen als eine Folge des
Wühlens im frischen Menschenblut erklärt wird, zu-
rückzuführen und eigentlich, wenn man das sexuelle
Moment berücksichtigt, die nächtsliegende Verstümme-
lung. Es ist aber dabei sonderbarer Weise von allen
älteren Schriftstellern, die auf diesen Gebrauch hin-
weisen, die schon oben erwähnte Wendung gebracht,
daß man die Gefangenen nach der schauderhaften
Operation habe „wieder hinlaufen lassen." An sich
könnte man sich sehr wohl versucht fühlen, diese
Redensart nicht buchstäblich zu nehmen, wie ja auch
bei den meisten Todesstrafen, die selbstverständlich
nur darauf berechnet waren, das Leben zu löschen,
sehr euphemistische Redewendungen beliebt waren,
die ziemlich harmlos klingen und auch von ernsten
Schriftstellern angewendet wurden. Man kannte die
Wirkungen solcher Prozeduren zur Genüge und konnte
sich deshalb wohl den wörtlichen Effekt sparen. Daß
man die Gefangenen furchtbar verstümmelte und sie
dann wiederum hinlaufen ließ, würde danach weiter
garnichts bedeuten, als daß man sie verstümmelt und
sich dann nicht mehr um sie bekümmert habe. Ich
würde es also garnicht so sonderbar finden, wenn sich
wirklich eine Redewendung eingebürgert hätte, die
besonders deshalb, weil sie Bräuche aus vergangenen
Zeiten schilderten, die dem Schreibenden auch schon
darum sehr fernlagen, weil sie von fremden Völkern
geübt wurden, wohl scherzhafter lautete, als es die
Scheußlichkeit des Verfahrens eigentlich zulassen sollte.
Nun liegt die Sache aber doch so, daß es genug
13*
— 196 —
Mitteilungen gibt, nach denen ausdrücklich versichert
wird, daß die Prozedur wirklich nicht das Leben ge-
kostet habe. Ich will nur ein Beispiel anführen, das
mir das zur Wiedergabe geeignetste zu sein scheint,
obwohl es auch schon so beschaffen ist, daß es mich
an die Worte eines Berliner Landgerichtsdirektors er-
innert. Dieser hatte eine Schwurgerichtsverhandlung
zu leiten, die einen Sensationsfall betraf, ein Beispiel
zu Chronique scandaleuse, wie es eben in Berlin
nicht allzu selten vorkommt. In dieser Verhandlung
war nun keineswegs alles, was da erwähnt werden
mußte, für die Ohren keuscher Jungfrauen bestimmt;
aber da die Einzelheiten nicht gerade unsittlicher
Natur waren und ein Interesse bestand, diesen Fall
möglichst vor der Öffentlichkeit klarzulegen, half sich
der Vorsitzende dadurch, daß er an das meist aus
eleganten Damen bestehende, sehr zahlreiche Audi-
torium eine kurze Ansprache richtete, in der er sagte,
daß in dem zur Verhandlung anstehenden Falle viele
Einzelheiten eingehend erwähnt werden müßten, die
zwar nicht so seien, daß es notwendig erscheine, im
Interesse der Sittlichkeit die Öffentlichkeit auszuschlie-
ßen, die aber doch auch für die anständigen Damen
sehr peinlich klingen würden. Er wolle, da der Aus-
schluß der Öffentlichkeit, wie gesagt, nicht beschlossen
werde, er also auch nicht die Befugnis habe, einzelnen
Personen die Anwesenheit zu untersagen, doch den
Damen nahelegen, sich lieber zu entfernen. Nach dieser
Rede ließ er eine Pause folgen. Die Damen schlugen
die Augen schamhaft nieder, eine blickte die andere
an, aber keine wich und wankte. Da sagte der jo-
viale Vorsitzende nach einiger Zeit: „So, da ich nun
— 197 —
annehmen kann, daß alle anständigen Damen den Saal
verlassen haben, trete ich in die Verhandlung ein!"
Das war sehr deutlich; aber die Damen hat das alles
nicht sonderlich geniert, und so denke ich, wird die
nachfolgende kleine Erzählung, die ich im harmlos
altertümlichen Gewände wiedergebe, wohl meine ge-
ehrten Leserinnen ebenfalls nicht brüskieren. Die Ge-
schichte lautet: „Theobaldus, der Umbrorum
Heer-Führer wider die Griechen, welche Beneven-
tum inne hatten, ließ allen denjenigen, so er vom
Feind gefangen bekahm, die Virilia abschneiden,
und wieder hinlauffen, biß endlich ein Weib von
Benevent vor ihn trat, deren Mann auch gefangen
worden, und es bald an dem wahr, daß er gleichfals
sein Kleinod verlieren solte, und mit vielen ächtzen
und seufftzen fußfällig ihn also anredete: „O Theo-
balde, waß haben wir dir zu Leide gethan, daß
du uns den Krieg ankündigest? Wir sind keine streit-
bahre .Weiber, wie die Amazonen, sondern treiben
unsere Hand-Arbeit mit Nehen und Spinnen, und
wissen mit den Waffen nicht umzugehen. Warum
schneidestu unsern Männern das beste Kleinod weg,
und beraubest uns Weiber dadurch aller Wollust?
Unsere Männer haben ja Augen, Nasen und Hände,
die du immerhin abschneiden, nicht aber dasjenige,
welches die Natur uns Weibern zu unsern Gebrauch
gewidmet, mit unter das Kriegsrecht ziehen möchtest!
Über welch ernsthaffte Rede des Weibes Theobal-
dus sich sehr belustiget, ihr den Mann unverletzt
wiedergegeben, und mit solcher schändlicher Ver-
stümmelung innegehalten."
Es ist bei dieser Erzählung, gleichviel ob sie
— 198 —
völlig wahr ist, oder ob sie eine etwas derbe Satire
auf die weibliche Empfindung jener Zeiten sein soll,
doch zweifellos davon ausgegangen, daß die Verstüm-
melung nicht tötlich verlaufe, daß sie im Gegenteil
den Mann gesund und kräftig lasse, ihn lediglich zu
jedem Liebeswerk untauglich mache. Nicht um das
Leben der Männer bat das Weib von Benevent den
Theobaldus, auch nicht darum, daß er die gefangenen
Männer unverstümmelt lassen sollte; sie durften viel-
mehr Nase, Augen oder gar die Hände verlieren;
denn diese Verluste würden bei weitem nicht so tief
in das Liebesleben der Weiber, soll wohl heißen der
ganzen Bevölkerung eingreifen. Es ist das ja eigent-
lich auch durchaus richtig, ohne daß man etwa nötig
hätte, der Geschichte einen frivolen Nebengeschmack
zu verleihen; denn die Verstümmelung, wie sie Theo-
bald anbefohlen hatte, würde das Aussterben des
ganzen Volksstammes zur Folge gehabt haben, da
von einer Fortpflanzung keine Rede mehr hätte sein
können. Daß der Verlust des Auges oder der Nase
nicht tötlich zu verlaufen pflegt, ist bekannt, aber
auch ohne weiteres erklärlich, da ja derartige Ver-
letzungen, wenn nicht gerade Komplikationen hinzu-
treten, an sich nicht soweit eingreifen, daß die Wahr-
scheinlichkeit eines lethalen Ausganges physiologisch
erklärlich erscheinen könnte. Anders lag die Sache
allerdings beim Abhauen der Hände. Da wurde die
Pulsader durchschlagen, und es ist wohl allgemein be-
kannt, daß durch die Öffnung der Pulsader in ganz
kurzer Zeit der Tod durch Verbluten eintritt.
Aber im alten deutschen Strafrecht war das Ab-
schlagen einer Hand oder auch beider Hände durch-
— 199 —
aus gebräuchlich. Diese Strafe war jedoch keine Todes-
strafe, sollte es wenigstens absolut nicht sein, und
es gab verhältnismäßig viele Personen, die durch den
Scharfrichter einer Hand beraubt waren und doch
recht lange lebten. Wem fiele dabei nicht der Ritter
Götz von Berlichingen mit de reisernen Hand ein?
Man muß es sehr gut verstanden haben, solche Wunden
zu behandeln und den Blutverlust sofort zu stillen.
Ähnlich würde vielleicht die Sache beim Abschneiden
der V i r i 1 i a gelegen haben, wenn man annehmen
dürfte, daß die Sieger sich die große Mühe gemacht
hätten, die Feinde erst zu verstümmeln und dann alle
Kunst anzuwenden, um ihnen das Leben zu erhalten.
Es ist indes geradezu ausgeschlossen, daß eine solche
zarte Fürsorge etwa angewendet worden wäre. Man
hätte dazu wohl nicht einmal die erforderliche Zeit
bei solchen Massen-„Operationen" gehabt; auf keinen
Fall hatte man den erforderlichen guten .Willen. Ich
habe aber auch guten Grund zu der Annahme, daß
man nicht einmal die Kenntnisse besaß, bei der in
Rede stehenden Verletzung wirklich erfolgreiche Hilfe
zu leisten. Wenigstens weiß ich, daß man es da,
wo man es aus Geschäftsrücksichten gewiß gern ge-
tan hätte, nicht konnte, nämlich bei der Kastration.
Als die Kastraten noch einen gesuchten Handels-
artikel bildeten, da gab es verschiedene Qualitäten
von Kastraten — ich glaube diesen Handelsausdruck
hier wohl anwenden zu dürfen, da es sich wirklich
um einen schwunghaften Schacher mit der Ware
Mensch drehte. Kastraten, die diesen Namen in nur
sehr bescheidenem Umfange verdienten, waren nicht
allzu teuer, denn der Mensch stand nicht allzuhoch im
— 200 —
Kurse, weil es niemals an dieser Ware nicht fehlte.
Dagegen waren Kastraten, die absolut entmannt waren
und eine Operation durchmachen mußten, die wohl
der von Theobaldus angewendeten nicht sehr unähn-
lich war, sehr teuer. Nicht deshalb, weil diese Opera-
tion im eigentlichen Sinne eine hervorragende Kunst-
gewesen wäre, die mit Preisen vergütet worden wäre,
Wie sie besonders heute oft für die Kunst eines be-
rühmten Operateurs aufgewendet werden müssen, son-
dern deshalb, weil die meisten Opfer an dieser Opera-
tion zu Grunde gingen. Nur wenige von dem an
sich nicht teueren Menschenmaterial überlebten die
Mißhandlung. Die meisten starben sehr bald an den
Folgen der Verstümmelung, und natürlich mußte der
richtig kalkulierende Händler die Preise nach der
Menge des verwendeten Materials berechnen, wenn er
auf die Kosten kommen und dabei noch, was ja selbst-
verständlich das einzige Motiv des Handels war, ein
gutes Geschäft machen wollte. Es beweist diese Tat-
sache, daß es allerdings wohl manchmal möglich war,
die Verstümmelten am Leben zu erhalten, daß dies
aber nur sehr selten gelang, wenn auch, schon aus
Geschäftsrücksichten, die größte Sorgfalt angewendet
wurde. Man besaß damals eine sichere und zuver-
lässige Methode für eine derartige Verstümmelung
überhaupt offenbar nicht.
Sollte man nun etwa annehmen, daß die wüten-
den Feinde, die die Vernichtung ihrer Gegner als das
erstrebenswerteste Ziel betrachteten, mehr Geschick-
lichkeit aufgewendet hätten als der Händler, der alles
aufbot, um sich vor Verlusten zu schützen? Selbst
wenn man annehmen wollte, daß der Händler das
— 201 —
Leben seiner .Ware ebenfalls nicht allzu hoch veran-
schlagt habe, weil er sich durch die hohen Preise immer
noch reichlich decken konnte, was immerhin, soweit
es sich um den Grad der Humanität handelte, wohl
zutreffen mochte, so ist doch nicht zu übersehen, daß
gerade in Rücksicht auf die hohen Preise der Händ-
ler erst recht ein Interesse daran haben mußte, mög-
lichst viele Personen am Leben zu erhalten, denn jeder
Überlebende bedeutete für ihn ein kleines Vermögen.
Für den Kriegsmann aber bedeutete jedes erhaltene
Leben des Feindes eine Gefahr. Man wird deshalb
sehr wohl ermessen können, daß recht wenig Wahr-
scheinlichkeit für die Harmlosigkeit der Verstümme-
lung, die man fast aus den alten Berichten folgern
müßte, vorhanden war.
Theobaldus muß nun allerdings ein recht milder
und humaner Führer gewesen sein, wenn er sich durch
die Rede des Weibes von Benevent so ohne weiteres
bewegen ließ, die Scheußlichkeit sofort einzustellen.
Ein gutes Wort findet zwar sehr oft eine gute Statt;
aber im Kriege war sonst mit guten Worten nicht viel
zu erreichen, und die Bestie, die erst einmal Blut ge-
leckt hat, ist das gefährlichste Raubtier; das gilt auch
von der Bestie im Menschen. Freilich ein Moment
könnte die seltsame Wendung schon eher erklären:
Theobaldus erheiterte sich über die Rede sehr, und
in dieser Stimmung konnte er vielleicht eher einmal
Gnade für „Recht" ergehen lassen. Gnade für Recht!
Das Recht des Kriegers war es allerdings, die ge-
fangenen Feinde zu vernichten oder sie so zu ver-
stümmeln, wie es dem Sieger beliebte. Übte er dieses
Recht nicht, so übte er eben Gnade. Daß dies ge-
— 202 —
wiß nicht oft geschah, dafür bürgt die Wildheit und
Grausamkeit damaliger Zeiten. Ja, es war nicht einmal
immer in die Macht des Feldherrn gegeben, solche
Gnade walten zu lassen, denn die entfesselten Scharen
stürzten sich wie die Wilden auf Leib und Leben,
Hab und Gut der Besiegten. Daß man dabei nicht
nur die Weibe rnicht erfolgreich für ihre Männer
um Schonung bitten ließ, sondern ihnen auch diese
Schonung selbst nicht widerfahren ließ, das war ein-
fach Kriegsrecht.
Herlicius erzählt furchtbare Szenen, die sich bei
der Eroberung Konstantinopels durch die Türken, ab-
gespielt haben. Die Türken machten nieder, was ihnen
vor die Klinge kam. Die Weiber ließen sie zwar
leben, nicht aber, um sie zu schonen, sondern um ihnen
ein Los zu bereiten, gegen das die an den Männern
verübten Greueltaten noch wie ein Werk wahrer
Nächstenliebe anmuten. Daß auch dabei von einen
Furor sexualis gesprochen werden darf, wird
wohl auch der nicht zu bestreiten wagen, der einem
solchen Worte im allgemeinen skeptisch gegenüber-
steht. In der unmenschlichsten Weise wurde mit den
Weibern Notzucht getrieben. Es ist kaum glaublich,
daß Menschen sich so tief unter das Vieh herabwürdi-
gen können, wie es dort geschah. Als diese Lust bis
zum Übermaß getrieben war, wurden die Weiber ge-
knebelt, völlig nackt ausgezogen und an die Bäume
gebunden. Sie mußten dann als lebende Scheiben für
die Bogenschützen dienen, die sich bemühten, ihre
Opfer an Stellen zu treffen, die zu verhüllen meist der
primitivste Kulturzustand gebietet. Als dieser Frevel
so lange gewährt hatte, daß der Reiz der Neuheit
— 203 —
nicht mehr wirkte, wurden die Körper der unglück-
lichen Opfer in Stücke zerhauen, so daß sie endlich
von den entsetzlichen Martern durch den Tod, der
oft trotz seiner Unerbittlichkeit viel milder und wohl-
tätiger ist als die entarteten, vertierten Menschen, er-
löst wurden. Die rasenden Horden schnitten die noch
zuckenden Herzen aus den zerstückelten Körpern und
trieben damit ihren Unfug; sie sollen die Herzen so-
gar wie die wilden Bestien gefressen haben. Die
Kinder, die dem Treiben erst hatten zusehen müssen,
wurden auf die Lanzen gespießt und im Triumph
herumgetragen. Wer eine Schilderung dieses un-
menschlichen Wütens liest, muß sich fragen, ob es
denn wirklich möglich sein könne, daß Menschen so
furchtbar entarteten ; aber dennoch ist diese Schilderung
leider nur ein einzelnes Beispiel zahlreicher gleicher
Fälle.
Was ist an den Christen in den Zeiten der
Christenverfolgung gefrevelt worden! Wie hat man
sich gegen die Christinnen vergangen! Es ist auch
da der Furor sexualis als eine ewige Krankheit in
die Erscheinung getreten, denn die Martern der ab-
scheulichsten Art lassen immer eine Beziehung auf
das Sexualleben erkennen. Ich weiß nicht, ob es für
alle Fälle berechtigt ist, unmenschliche Grausamkeit
mit dem Sexualleben in Verbindung zu bringen; daß
aber da, wo der Zusammenhang vorhanden ist, die
Grausamkeit stets viel abscheulicher und brutaler auf-
tritt, das ist unverkennbar.
Das darf natürlich nicht auf das orientalische
Liebesleben beschränkt werden, sondern es gilt all-
gemein, und leider ist es auch geschichtlich festge-
- 204 —
stellt, daß im Abendlande, wenn die Kriegsleidenschaft
entfacht war, ebensolche Entsetzenstaten verübt worden
sind wie im Orient. Man braucht nicht einmal bis
ins Altertum zurückzugehen, um das Furchtbare, die
menschliche Bestie, nachzuweisen. Was ist gegen die
Wiedertäufer, gegen die Katharer, gegen die Huge-
notten, ja selbst in der französischen Revolution an
Schandtaten verübt worden. Und ist denn unsere heu-
tige Zeit schon ganz frei von Unmenschlichkeiten?
Kann man denn heute den Furor sexualis nicht
mehr entdecken, wenn man sich die Mühe gibt, den
Erscheinungen auf den Grund zu gehen und psycho-
logisch zu analysieren? Doch lassen wir das Abend-
land und die neuere Zeit aus dem Spiele.
Von Alexander dem Großen wird erzählt, daß
er bei einem Siegeszug gegen die Seythen und Thra-
zier eine eigene Art von Denkmälern habe errichten
lassen. Nicht überall erregte das Erscheinen seines
gewaltigen Heeres die gleiche Wirkung. An manchen
Orten unterwarf man sich ihm willig, da man ohne
weiteres einen Widerstand gegen die gewaltige Macht
des sieggewohnten Feldherrn für völlig aussichtslos
hielt. An anderen Orten dagegen hatten die Be-
wohner beschlossen, bis zum Tode sich zu wehren,
so daß auch Alexander sich der Anerkennung solcher
tollkühnen Tapferkeit nicht entziehen konnte, obwohl
es sonst eigentlich nicht gerade üblich war, die Tapfer-
keit des Feindes zu ehren, sondern vielmehr, sie als
ein Verbrechen zu strafen. Alexander ließ nun über-
all, wo er im heißen Kampfe oder durch freiwillige
Unterwerfung der Feinde Sieger blieb, steinerne Denk-
jmäler errichten, aus denen sofort zu ersehen war,
— 205 —
ob ihm der Sieg leicht oder schwer geworden war.
Hatte man ihm Widerstand geleistet, so wurde auf
steinerner Säule das steinerne Bild des Phallus er-
richtet; da aber, wo feige Unterwerfung erfolgt war,
da trug die steinerne Säule die Abbildung der weib-
lichen Reize. Es war damit gesagt, daß einmal männ-
liche Tapferkeit, das andere Mal weibische Feigheit
die Bewohner charakterisiert habe. Das war an sich
eine Ehrung der Kühnheit und ein Hohn auf die
Feigheit; aber doch läßt sich auch hieraus unschwer
der Furorsexualis erkennen. Der Gedanke, durch
solche Denkmäler die Gegend zu zeichnen, konnte
ohne diesen psychischen Hintergrund garnicht ent-
stehen. Es ist aber doch das ganze Leben des großen
Alexander eigentlich nicht so beschaffen, daß man ge-
rade bei ihm eine derartige Gedankenassoziation als
natürlich ansehen müßte. Es soll damit nicht etwa
gesagt sein, daß Alexander absolut frei von Ausschwei-
fungen gewesen wäre, wie sie bei den Großen seiner
Zeit selbstverständlich waren, oder daß ihn die Ge-
schichte über Gebühr rühme. Er war nicht allein der
größte Feldherr seiner Zeit, sondern er besaß auch
rein menschlich gedacht eine Größe, durch die er
weit, Unendlich weit über seine Zeitgenossen hinaus-
ragte. Man könnte vielleicht sagen wollen, daß da-
zu nicht sonderlich viel gehört habe, da doch die
Zeitgenossen Alexanders des Großen auf einen sehr
niedrigen Niveau gestanden hätten. Ich erwähne dies
ausdrücklich, weil ich tatsächlich einen solchen Ein-
wand einmal gelesen habe; er betraf allerdings nicht
Alexander. Das macht aber den Unsinn nicht zur
Weisheit. Unsinn ist nämlich ein solcher Einwand stets,
— 206 —
denn es ist doch wohl auf alle Fälle ein Verdienst,
über seine Zeitgenossen hinauszuragen. Befinden diese
sich auf einen tiefen Niveau, dann ist der, der sie
überragt, natürlich eine ebenso rühmenswerte Aus-
nahme wie der, der auf höchstem Allgemeinniveau
seine Zeitgenossen überragt, denn diese können immer
allein den Maßstab für die Größe oder für den Min-
derwert des Einzelnen abgeben. Der Bildungsgrad und
die Moral eines Volkes während einer bestimmten
Zeitepoche ist das Entscheidende. Es wäre kindisch,
wollte sich heutigen Tages ein Mensch für ein be-
sonderes Licht halten, weil er die Kunst des Lesens
und Schreibens beherrscht, die vor verschiedenen Jahr-
hunderten — man braucht nicht einmal so sehr tief
in unsere Vergangenheit zurückzublicken, noch den
besten Gesellschaftskreisen Hecuba war.
Nun ist die Sache aber mit Alexander noch nicht
einmal von diesem falschen Standpunkt aus berechtigt,
denn der große Macedonier, der 336 v. Chr. den
Thron bestieg, war keineswegs bloß im Vergleich zu
tiefstehenden Männern groß, sondern er überragte auch
die Größten seiner Zeit und würde wohl auch einen
Vergleich mit den Großen späterer Zeiten nicht zu
fürchten gehabt haben, wenn es nicht eine vergebliche
und in der Regel sehr mißliche Sache wäre, solche
Vergleiche anzustellen. An sich leidenschaftlich veran-
lagt, aufgewachsen in einem Milieu sittenloser Genuß-
sucht und sinnlicher Ausschweifung, hielt er sich
doch rein von den schwersten sinnlichen Ausschwei-
fungen jener Zeit. Wie weit er diese Selbstbeherr-
schung seinen trefflichen Lehrer Aristoteles zu danken
hatte, wie weit sie etwa darauf zurückzuführen war,
— 207 —
daß die Seele des jungen Alexander von heißer Be-
gierde nach Ruhm verzehrt war, so daß die sonst üb-
lichen Zerstreuungen ihn weniger fesselten, mag dahin-
gestellt bleiben. Jedenfalls war Alexander sehr zu
seinem Vorteil von seinen Zeitgenossen unterschieden,
das zeigt auch der Umstand, daß er im Feinde den
Mannesmut zu ehren wußte, das zeigt ferner sein Edel-
mut, den er so oft dem besiegten Feinde angedeihen
ließ. Trotzdem war Alexander wie der große Caesar
auch dem weiblichen Geschlecht gegenüber der Held,
der kam, sah und siegte. Und daß selbst Alexander
so wunderbare Denkmäler auf seinen Siegeszügen er-
richtete, das läßt doppelt und dreifach erkennen, wie
der Geist jener Zeiten von erotischen Gedanken be-
herrscht war.
Die Weiber hatten stets bei den Kriegszügen des
alten Orients zu leiden. Sie waren im Falle des Sieges
eine willenlose Beute des Siegers, der so viele von
ihnen mit fortschleppte, wie er nur irgend erbeuten
konnte. Und es war ein Glück, wenn sie bloß den
feindlichen Harem vermehren durften, denn nicht sel-
ten wurden sie, wie ja schon in dem obigen Beispiel
gezeigt ist, in der fürchterlichsten Weise mißbraucht
und dann dahingeschlachtet. Es kam auch vor, daß
die Weiber völlig nackt den Göttern geopfert wurden,
jedenfalls auch nachdem sie vorher den geilen Lüsten
der Männer hatten dienen müssen.
Man mag die Sache ansehen, wie man will, stets
wird es sich nachweisen lassen, daß mit vollstem
Rechte von einem Furor sexualis der Kriegs-
völker gesprochen werden darf. Daß dieser Ausdruck
auch im Frieden seine Berechtigung hat, daß das
— 208 —
meiste von dem, was wir modernen Menschen als
Perversität bezeichnen, auch nichts anderes ist als.
Furor sexualis, versteht sich von selbst. Wenn
wir aber uns daran gewöhnt haben, in der Perversität
etwas Krankhaftes zu sehen, so war man von dieser
Anschauung im Altertum völlig frei; man glaubte in
dem, was ich Furor sexualis nenne, viel eher
den Ausbruch überfließender Lebenskraft und Gesund-
heit zu erblicken, und das scheint mir, wenigstens
bei der Mehrzahl der Fälle, auch weit berechtigter
zu sein.
Der Bilderzauber.
Wenn man die letzten Kapitel liest, dann sollte
man sich eigentlich mit Entsetzen abwenden von dem
Treiben eines Landes, in dem Milch und Honig fließt,
und in dem das menschliche Gemüt doch so leer war
von dem milden Zauber einer gottgesegneten Natur.
Trifft das Letztere aber auch wirklich so ganz be-
dingungslos zu? Was in wilden Kriegszeiten im
Menschenherzen sich abspielt, das bleibt doch ver-
borgen, wenn der holde Friede sein saftes Szepter
schwingt; mindestens ist das Gemüt in einem Zu-
stand latenter Wildheit eingewiegt. Man könnte wohl
von einem eigentlichen Liebesleben überhaupt nicht
sprechen, wenn immer nur eine wüste Sinnlichkeit
ihre brutalen Orgien gefeiert hätte. Ich habe aber
schon früher gesagt, daß in dem Zauberlande des
Orients die schroffsten Gegensätze sich berühren,
wilde Raserei des Sinnlichen, neben poetischem Dufte,
Roheit, neben tiefster Sentimentalität. Auch im Liebes-
leben war das nicht anders. Die ausschweifende Sinn-
lichkeit soll die Quelle blutdürstiger Grausamkeit sein;
aber die Sinnlichkeit weckt auch die zarteste Schwär-
merei. Was ist denn Liebe? Sie muß mit allen
ihren Symptomen betrachtet und geprüft werden, und
läßt sich schlechterdings nicht nach Backfischidealen
14
— 210 —
beurteilen. Sie ist allerdings für orientalische Begriffe
nicht vom Sinnlichen loszulösen, und selbst die fromme
Inbrunst des Heiligenkults läßt unter dem psycho-
logischen Seziermesser nicht selten eine starke sinn-
liche Tendenz erkennen. Wie sollte in der Seele
eines Orientalen eine Liebe, die völlig losgelöst wäre
von aller Sinnlichkeit, vorstellbar sein? Selbst die zarte
Romantik, die über die Liebe des jungen Seleuciden
zu seiner jugendlichen Stiefmutter Stratonike gebreitet
ist, war erfüllt von dem heißen Dunste sinnlichen
Verlangens. Dieser Roman ist echt orientalisches Em-
pfinden, das so blumenduftig anmutet und doch an das
Bild erinnert, auf dem unter dem berauschenden Blüten-
duft üppiger Vegetation die giftgeschwollene Schlange
auf ihre Beute lauert. Liebe ist so oft nichts als
Eigenliebe ; sie ist es stets, wenn sie von einer starken
Sinnlichkeit diktiert ist, denn sie ist dann weiter nichts,
als das heiße Verlangen, eine Person, die das leb-
hafteste Wohlgefallen erregt hat, zu besitzen, an ihr
die sexuellen Begierden zu befriedigen. Es ist der
letzte Zweck also dem vergleichbar, den der Fein-
schmecker einer Lieblingsspeise gegenüber empfindet,
die er leidenschaftlich begeht, um an ihr seine sinn-
liche Begierde, die nicht Hunger ist, sondern, wenn
man so sagen will, ein idealisiertes Nahrungsbedürf-
nis, zu befriedigen. Man wird diese Vorliebe für ein
bestimmtes Gericht nicht allzu poetisch nennen dürfen ;
man wird aber auch bei der Liebe eines stark sinn-
lich veranlagten Menschen nicht alles Poesie nennen
dürfen, was nach dem Maßstabe einer Backfischseele
von weitem wie Poesie aussieht. Wie bald ist dann
auch eine solche leidenschaftliche Liebe verflogen?
— 211 —
Sie erhält sich und wächst ständig bis zu übernatürlicher
Gewalt, so lange sie auf Widerstand stößt, so lange
ihre Befriedigung unmöglich gemacht wird. Auch
darin ist der stark prosaische Vergleich mit dem Ver-
langen des Feinschmeckers durchaus zutreffend, denn
auch dieses Verlangen steigert sich bis ins Uferlose,
so lange es die begehrte Befriedigung nicht findet.
Ist dies aber geschehen, dann kann der gehabte Ge-
nuß wohl eine Weile, vielleicht sogar eine ganze Zeit
— das ist ungeheuer individuell — in der Erinnerung
ein gewisses Wohlbehagen erwecken; aber der Ge-
nuß ist doch stets das sicherste Heilmittel der Be-
gierde, wobei es ganz dahingestellt bleiben mag, wie
lange dieses Heilmittel in seiner Wirkung vorhält.
Recidive sind ja auch bei andern abnormen Erschei-
nungen, gegen die man Heilmittel anzuwenden pflegt,
nicht selten. Erwacht die Begierde wieder, so ist sie
durchaus nicht notwendig stets auf denselben Gegen-
stand gerichtet, weder beim Feinschmecker, noch in
der Liebe, und es wiederholt sich lediglich dieselbe
Geschichte mit demselben Verlauf. Das mag vielleicht
verletzend realistisch erscheinen; aber das Realistische
verletzt ja stets da, wo wir glaubten, poetischen Idea-
lismus zu finden, und das, wogegen sich das bessere
Empfinden so energisch sträubt, ist deshalb nicht
minder richtig und zutreffend.
Dem wesentlich Analogen zwischen den einzelnen
Trieben wie dem sexuellen Triebe — ich will ihn hier
nicht Liebe nennen — einerseits und dem Hunger,
dem Durste, der Müdigkeit usw. andererseits, stehen
allerdings auch wesentliche Divergenzen entgegen.
Das Analoge ist, daß dem Triebe von Natur das Be-
14'
— 212 —
dürfnis nach Befriedigung innewohnt, daß die Befrie-
digung dem Triebe ein Ende macht, bis die physio-
logischen Grundbedingungen, aus denen in letzter
Linie die Naturtriebe hervorgehen, sie von neuem er-
wachen lassen. Ich stelle hier tatsächlich die physio-
logischen Grundbedingungen erheblich über die psy-
chischen, und glaube, damit der Erkenntnis weit
sicherer nahezukommen als auf dem umgekehrten
Wege, der trotzdem in der Regel selbst da einge-
schlagen wird, wo das Streben nach realistischer Wahr-
heit deutlich erkennbar ist. Das psychische Moment
tritt zu dem physiologischen nur hinzu. Anima und
Soma. Das psychische Moment ist dabei weit kom-
plizierter, weit weniger analysierbar und vor allen
Dingen weit individueller. Alle die großen Rätsel und
Probleme, die uns auf Schritt und Tritt, sofern wir
nur gelernt haben, um uns zu schauen, aufstoßen, sind
nur zum sehr geringen Teile auf physische Anomalien
— hier eigentlich ein schauderhaft unpassender Aus-
druck — zurückzuführen, sondern unendlich überwie-
gend auf psychische Eigenartigkeiten des Individuums.
Man hat nun bereits wiederholt die Theorie aufge-
stellt, daß rein körperliche Eigentümlichkeiten sichere
Schlüsse auf die Charakterveranlagung gestalteten.
Man könnte aber dabei sehr wohl sagen, daß nicht
etwa das sinnlich wahrnehmbare körperliche Symp-
tom diese besondere Charakterveranlagung hervorrufe,
sondern daß es erst eine Folge dieser sei, daß also
das Seelische dem Körper ein bestimmtes Gepräge
verleihe, nicht umgekehrt die Körperbeschaffenheit den
Charakter beeinflusse. Das wäre dann natürlich ein
Drehen im Kreise und ein Jongleurspiel mit Begriffen.
— 213 —
Für unseren Fall kommt es aber auf derartige
Grübeleien garnicht an, denn hier ist es nicht zu
leugnen, daß alles das, was unser Liebesleben zu
einem Thema allgemeinster Erörterungen macht, in
erster Linie auf den sexuellen Trieb zurückzuführen
ist Die Begierde nach Sinnengenuß ist es, die zu-
nächst nach Betätigung oder meinetwegen nach Be-
friedigung verlangt, und die immer und immer wieder
die höchsten Wonnen verschafft, aber auch in so
furchtbarer Tragik Glück und Existenzen vernichtet.
Der .Wahn ist kurz, die Reue lang! Was paßte besser
auf die Mehrzahl jener Romane, die die Chronique
skandaleuse anfüllen?
Die Lust zum Fabulieren ist jedem Sterblichen
in die Seele gelegt, nicht in so hohem Maße wie dem
Altmeister Goethe und nicht in dem Sinne, daß etwa
Lust und Fähigkeit für identisch gehalten werden
dürften. Nicht nur die Kulturvölker, sondern auch
diejenigen, die wir mit ziemlicher Selbstüberhebung
als „Wilde" bezeichnen, sind von dieser Lust beseelt.
Auch die Religionslehren aller Völker — Ausnahmen,
die sonst die Regel bestätigen, möchte ich hierin nicht
einmal gelten lassen — zeigt diesen Hang und zu-
gleich den Hang zum Idealisieren. Der letztere ist
sehr beachtenswert; er ist nur scheinbar bei den Kultur-
völkern größer als bei den von Europas übertünchter
Höflichkeit noch nicht angekränkelten Stämmen, von
denen Seume deshalb seinen Canadier sagen läßt, daß
die Wilden doch bessere Menschen seien. Der Hang
zum Fabulieren und Idealisieren tritt nur je nach der
Kulturstufe anders in die Erscheinung. Gerade für das
Liebesleben der einzelnen Völker ist das ungeheuer
— 214 —
wichtig, weil der Forscher, der stets in erster Linie auf
die äußeren Erscheinungen angewiesen ist, zu ganz
falschen Schlüssen gelangen muß, wenn er diese Er-
scheinungen nicht zu deuten weiß, weil er den Kern
nach der Schale beurteilt.
Im Liebesleben ist die Lust zum Fabulieren und
besonders zum Idealisieren außerordentlich kräftig aus-
geprägt, so stark, daß nicht nur der unbeteiligte Be-
obachter ständig getäuscht wird, sondern daß sich auch
die unmittelbar Beteiligten selbst in eine Täuschung
hineinleben, die man wohl als ein geistiges Labyrinth
bezeichnen darf. Was wird an dem Worte Liebe allein
schon herumidealisiert! Es ist doch fast humoristisch,
wenn man die bramabarsierenden Kommentare eines
Begriffs über sich ergehen lassen muß, der unendlich
oft allein durch das alte „lucus a non lucendo" ge-
rechtfertigt werden könnte. Der sinnliche Trieb, der
in der Regel das einzige wirklich vorhandene Moment
ist, das zwei Leute zusammenführt, wird in der geisti-
gen Knetmaschine so lange bearbeitet, bis ihn nie-
mand mehr zu erkennen vermag, und selbst die, die
es in letzter Linie allein angeht, von tiefster Hochach-
tung vor der Reinheit und Tiefe ihres „edelsten Em-
pfindens" erfüllt sind. Es wäre unsagbar komisch
dieses Versteckenspielen ä la Vogel Strauß, wenn es
nicht so jammervoll betrübend wäre, wie dies wohl
eigentlich jede Selbsttäuschung ist, die auf dem unge-
sunden Boden der Phrase lustig wuchert.
Das ist es aber, was einen wesentlichen Unter-
schied zwischen dem sexuellen Triebe und anderen
Naturtrieben ausmacht. Bei den anderen fabuliert und
idealisiert man weniger oder überhaupt nicht; man
— 215 —
gibt sich keinen Täuschungen über die Natur des
eigenen Bedürfnisses und Empfindens hin und sucht
auch andere nicht zu täuschen. Wer Hunger hat,
der hält es nicht für notwendig, eine poetische und
auf Edelmut gestimmte Hymne zu singen; wer müde
ist, der sagt dies sich und anderen ohne Schönfärberei
usw. Diese anderen Triebe dienen zur Erhaltung des
Individuums, der sexuelle Trieb dient der Erhaltung
der Art; er will ihr wenigstens dienen, dient aber
in Wirklichkeit sehr, sehr oft nur dem individuellen
Vergnügen. Schon hieraus muß die Lust zum Fabu-
lieren resultieren.
Ein noch viel wesentlicherer Unterschied liegt aber
in den Moral- und Sittlichkeitsanschauungen, die be-
kanntlich nicht überall die gleichen sind, und die auch
am gleichen Orte doch mit den Zeiten wechseln. Wir
leben nun einmal in der traditionellen Anschauung,
daß alles, was auf das sexuelle Gebiet im engeren
Sinne gehört, als unsittlich zu betrachten sei oder doch,
ohne unsittlich zu sein, das Schamgefühl verletze. Der
Tausend, da kann es ohne Fabulieren, ohne Ideali-
sieren, aber auch ohne Kontradiktionen nicht ab-
gehen. Mit Recht nennen wir die Mutterschaft etwas
Heiliges. Das Mysterium der Menschen werdung ist
das höchste und heiligste Naturwunder, denn die Häu-
figkeit eines Wunders lehrt uns doch nur, das Wunder
als etwas Alltägliches, nicht mehr als ein Wunder an-
staunen, hebt aber das Wunder als solches deshalb
für den denkenden Menschen — mag dieser auch so
selten vorkommen, wie das Wunder häufig auftritt —
nicht auf. So sind wir also schon in dem prinzipiellen
Widerspruch verfallen, daß die Mutterschaft etwas
— 216
Heiliges, alles, was sie verursacht, aber etwas Un-
sittliches, oder mindestens doch etwas, ohne unsitt-
lich zu sein, Schamverletzendes sei. Der Unterschied
ist dabei nur in der Form der stattgehabten oder unter-
bliebenen Eheschließung begründet. Ich will mich
hier, um nicht allzuweit vom Wege abzuirren, an
dieser Stelle nicht auf eine Kritik, ob dieser Wider-
spruch notwendig oder auch nur nützlich ist, ein-
lassen; er besteht und ist eigentlich die Kehrseite der
Medaille: „Zweck heiligt das Mittel!"
So hat die — ich will es zugeben — unter den
obwaltenden Zuständen notwendige Lust zum Fabu-
lieren das eigentlich recht alberne Märchen vom
Klapperstorch geschaffen und damit bewirkt, daß in
der Großstadt die Kinder — II n'y a plus d'enfants,
überhaupt nicht mehr recht daran glauben wollen,
daß es wirklich Störche gibt. Ob dieses Märchen die
Wahrheitsliebe der Kinder besonders kräftigt, ob es
das Ansehen der Eltern bei ihren Kindern hebt, wenn
diese wissen, daß ihre Eltern ihnen mit handgreiflichen
Lügen aufwarten müssen, um sich — die kindliche
Phantasie arbeitet äußerst lebhaft — wenigstens for-
mell zu den anständigen Menschen rechnen zu dürfen,
das sind Fragen, die wohl auch der Erörterung wert
sind, zumal es eine pädagogische Weisheit ist, den
Kindern zu sagen, daß von allen Lastern die Lüge das
größte sei. Wir belügen unsere Kinder; wir tun es
mit dem Bewußtsein, daß sie wissen, es sei eine Lüge,
die wir ihnen kaltlächelnd servieren, und wir haben
dennoch den Mut, sie zu bestrafen, wenn auch sie
uns gegenüber den Pfad der Tugend verlassen und
uns eine Unwahrheit sagen. Das ist eine sehr schlimme,
— 217 —
eine sehr peinliche Tatsache, die eingehend zu er-
wägen, kein Mensch sich ersparen dürfte, dem es
mit der Erziehung seiner Kinder ernst ist. Man hat
das wohl eingesehen und sucht durch die sexuelle
Aufklärung dem Übel zu steuern. Es ist dies aber,
wie der Jurist sagt, ein Versuch mit untauglichen
Mitteln, der so wenig zum Ziele führen wird, als
wollte ein Baumeister das Haus beim Dache anfangen,
statt beim Fundament. Nein, die sexuelle Aufklärung
ist wohl insofern wertvoll, als sie verhüten kann, daß
unwissende Mädchen mehr das Opfer ihrer Dummheit
und Unerfahrenheit als das ihrer Lüste werden —
ich gebe auch zu, daß dies wertvoll ist — ; aber daß
die allgemeine Moral gehoben werden könnte durch
die sexuelle Aufklärung, besonders die, die für Schulen
usw. geplant ist, das halte ich für absolut ausge-
schlossen. Lehrt doch die tägliche Erfahrung, daß
„sexuelle Aufklärung" nicht vor den schwersten Ex-
zessen in ludo Veneris schützt. Es fehlt den
liederlichsten Männern und Weibern ganz gewiß nicht
an „sexueller Aufklärung"; sie sind vielmehr „alle
Schulen durch", und das Resultat? Ich hülle mich
in Schweigen, möchte aber, obwohl ich mir nicht an-
maße, ein Prophet zu sein, der sicheren — Vermu-
tung Ausdruck geben, daß die sexuelle Aufklärung
in den Schulen für die öffentliche Sittlichkeit nicht
günstiger wirken wird als die sexuelle Aufklärung, die
leider den jugendlichen Geschöpfen noch immer im
Beichtstuhl geboten wird.
So lange man über sexuelle Dinge in der Öffent-
lichkeit den geheimnisvollen Schleier wie über das
Bild zu Sais breitet, Märchen erzählt und das Heiligste
— 218 —
mit dem Gemeinsten in einen Topf wirft und ge-
radezu durch dicke Bretter die Erkenntnis dessen, was
auf sexuellem Gebiete gut und böse ist, abzuschließen
bemüht ist; so lange man heuchlersich sich den An-
schein gibt, als entrüste man sich moralisch über die
natürlichsten und berechtigsten Dinge, während man
die pikanten zotigen Abenteuer eines Wüstlings mit
breitem Behagen und innigstem Vergnügen erzählen
hört, so lange man über die Mysterien der Liebe ge-
heimnisvoll lächelt, über das wirklich Gemeine den
Mantel der Duldsamkeit und den idealisierenden
Glorienschein echter Liebe zu breiten sucht, dagegen
selbst ganz harmlose und wohlgemeinste Ausführungen
in Büchern als Sittlichkeitsdelikte mit bewunderns-
werter Interpretationskunst zu brandmarken sucht, so
lange wird die sexuelle Aufklärung viel mehr schaden
als nützen. Man sollte auch hier beim Fundament
und nicht beim Dache beginnen.
Betrachten wir also die Sache so objektiv, wie
sie sich überhaupt von uns Menschen, die wir doch
alle auf diesem Gebiete Partei sind, betrachten läßt,
d. h. geben wir dem Sinnlichen, was des Sinnlichen
ist, und dem Psychischen, was dessen ist. Nur so
läßt sich das Liebesleben, und besonders das orienta-
lische, prüfen und verstehen. Ich habe nun schon
gesagt, daß gerade im Zauberlande des Morgens die
schroffsten Gegensätze sich berühren. Diese schroff-
sten Gegensätze sind aber sehr oft nur scheinbare
Gegensätze, wie Körper und Geist eigentlich an sich
Gegensätze sind und doch in uns eine Einheit bilden,
mag auch der Geist willig, das Fleisch aber schwach
sein. Wir können nicht Geist und Körper trennen,
— 219 —
wenn wir eine konkrete Handlung bewerten sollen;
d. h. wir können nicht sagen, der Geist des N. war
willig und gut, aber sein Fleisch war schwach, und
deshalb ist eine Handlung entstanden, die uns sehr
mißfällt; sondern wir werden stets sagen, das, was
N. getan hat, war verdammenswert. N. ist die Person,
an die wir uns halten für alles, was diese Person
tut. Anders liegt die Sache aber, wenn wir eine Tat
prüfen und erklären wollen; dabei werden wir nicht
bloß mit der nackten Tatsache rechnen dürfen, daß
etwas geschehen ist, was uns nicht behagt, sondern
wir werden auch zu prüfen haben, warum die Tat
begangen wurde, welche Motive für den Täter vor-
lagen, und ob es etwa nur ein Versagen der Hem-
mungsenergie war, die ihn einer augenblicklichen Re-
gung oder Begierde erliegen ließ. Es wäre zu wün-
schen, daß auch die Gerichte etwas weniger nach der
toten Schablone und etwas mehr nach dem soge-
nannten psychologischen Moment urteilten. Wenn's
auch bedeutend schwieriger ist, so bietet es doch die
einzige Möglichkeit, daß die irdische Gerechtigkeit
Garantien, wirklich eine Gerechtigkeit zu sein, geben
kann.
Das orientalische Liebesleben zeigt nun als schroffe
Gegensätze auf der einen Seite die brutalste Sinn-
lichkeit, auf der anderen den zartesten poetischen
Duft. Der Orientale kann in einer einzigen Person
der Asra sein, der stirbt, wenn er liebt, d. h. vergeb-
lich liebt, und der wilde Tiger, der sein Opfer zer-
fleischt. Ich wiederhole, das ist nur ein scheinbarer
Gegensatz, denn die Grundbedingungen für beide Ex-
treme liegen in seiner Natur. Schlummern doch Haß
— 220 —
und Liebe in nächster Nachbarschaft im Menschen-
herzen, wie viel inniger sind erst die Liebe und die
sexuelle Begierde gepaart, die doch so oft überhaupt
nur eine einzige Empfindung sind, über die man sich
selbst täuscht, weil man gewohnt ist, sie zu ideali-
sieren. Sexuelle Begierde, die beim Anblick des be-
gehrten Individuums das Herz stocken läßt, die plötz-
liche Röte der Erregung auf die Wangen zaubert
und den Atem hemmt, die erscheint uns so viel
wunderbarer und herrlicher, wenn wir sie im Strahlen-
glanze einer idealen Liebe erblicken, als wenn wir
uns sagen; es ist nur eine Begierde, nicht viel von
der unterschieden, die auch das Tier empfindet, wenn
es zur Paarung den Genossen lockt.
Es ist nun sehr wohl zu unterscheiden, ob der
sexuelle Trieb ganz allgemein vorhanden ist, also auf
irgend ein beliebiges, gleichviel welches, Individuum
des anderen Geschlechts gerichtet ist, was ganz un-
geheuer häufig der Fall ist, oder ob er einem allein
bestimmten Individuum gilt. Nur im letzteren Falle
kann man das Wort Liebe allenfalls noch gelten lassen.
Nehmen wir also den letzteren Fall hier an.
Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, daß
gerade im orientalischen Liebesleben, mögen dort, wie
dies wohl auch anderwärts nicht so überaus selten vor-
kommt, die Ehen sehr oft geschlossen worden sein
oder auch noch geschlossen werden, ohne daß die
jungen Leute, die ihr Schicksal für immer aneinander
ketten sollen, sich auch nur jemals gesehen hatten.
Das wirkliche Liebesleben ist nicht an die Ehe ge-
bunden, die auch im besten Falle nur die Konsequenz
der Liebe ist. Es hat zu allen Zeiten der göttliche
— 221 —
Funke, wie man es in der Lust zum Idealisieren so
gern nennt, die Herzen der Menschen getroffen; erst
recht im Orient, wo es viel leichter war, ein Mäd-
chen, nach dem das Herz verlangte, zu gewinnen,
selbst dann noch, wenn der Liebende bereits in Ehe-
fesseln schmachtete. Hat es doch zu allen Zeiten
Männer gegeben, die sich sterblich auch in solche
weibliche Wesen verliebten, die ihnen nicht leicht oder
überhaupt nicht erreichbar waren. Gerade dann pflegt
die Glut der Liebe bis zur Raserei sich zu steigern,
und es ist eigentlich sehr naheliegend, daß der hoff-
nungslos Liebende sich nach Mitteln umsieht, mit
deren Hilfe er doch noch sein Ziel zu erreichen
trachtet, so daß er eigentlich in letzter Linie faktisch
nicht hoffnungslos ist.
Da ist man denn auf ein recht sonderbares Mittel
verfallen. Man hat sich sehr einfach von der Person,
die man begehrte, ein Bild verschafft und glaubte,
durch dieses Bild auf die Person, die es darstellen
sollte, direkt einwirken zu können. Nun wird es aller-
dings wohl mit der Porträtähnlichkeit, an die wir
bei der heutigen Technik der Photographie die weitest-
gehenden Ansprüche zu stellen gewohnt sind, nicht
weit hergewesen sein. Man schuf sich ein Gebilde,
in dem wohl nur die ausschweifendste Phantasie eine
Ähnlichkeit mit dem Original zu erkennen vermochte;
aber das hinderte nicht, daß man felsenfest davon über-
zeugt war, alle die Bezeugungen von Haß oder Liebe,
die man diesem Gebilde angedeihen ließ, müßte die
Person direkt empfinden. Wenn man sich vorstellt,
daß man im Altertum in einem Bilde nicht bloß ein
Stück Papier sah, auf das durch Kunst eine Dar-
— 222 —
Stellung gemalt oder gezeichnet oder auf sonst eine
Methode übertragen ist, also auf alle Fälle nur ein
lebloses Machwerk, sondern daß man wirklich glaubte,
das Bild sei ein etwas der dargestellten Person selbst,
dann ist schon die Idee, daß es möglich sein müsse,
durch dieses Bild die Person zu beeinflussen — sei
es in gutem oder bösem Sinne — , ziemlich naheliegend.
Für den heutigen Kulturmenschen erscheint es
so selbstverständlich, die Züge jeder beliebigen Person
im Bilde wiederzugeben, daß man sich wohl selten
die Mühe gibt, darüber nachzudenken, ob dies wohl
zu allen Zeiten und für alle Völker ebenso gewesen
sei. Das ist es nun allerdings auf keinen Fall. Man
hat über die Erfindung der Malerei verschiedene Er-
klärungen und nimmt an, das erste Bild eines Men-
schen sei dadurch entstanden, daß ein besonders fin-
diger Kopf auf den Gedanken gekommen sei, die Um-
risse eines Schattenbildes nachzuziehen, so daß, wenn
der Schatten verschwunden war, die Umrisse des
Bildes doch noch auf der Erde oder an der Wand
vorhanden gewesen seien. Das soll das erste Porträt
gewesen sein, das dann allerdings eine gewisse Ähn-
lichkeit gehabt haben könnte, freilich noch nicht ein-
mal ganz die unserer Silhouetten. Es würde durch
diese Entstehungsgeschichte der Bilderkunst wohl auch
der alte Glaube, daß das Bild wirklich ein Stück
Person sei, erklärt werden können. Chamisso hat in
seinem „Peter Schlemihl" diese Schattenidee trefflich
verwertet. Es besteht deshalb heute noch bei vielen
Völkern eine starke Scheu, sich abbilden zu lassen,
und wir finden, daß sogar der religiöse Kult dieses
Abbilden von Personen verbietet.
— 223 —
Der religiöse Kult ist übrigens im allgemeinen
wohl als die Quelle des Bilderaberglaubens, denn
anders darf man den Bilderzauber wohl nicht nennen,
anzusehen. Schon im hohen Altertum begnügte sich
die Menschheit nicht damit, sich nach Bedarf ihre
Götter zu schaffen. Ich habe schon wiederholt darauf
hingewiesen, daß dies eine instinktive Notwendigkeit
war. Es wurden vielmehr den Göttern, die man sich
ganz mit menschlichen Eigenschaften, menschlichen
Leidenschaften und Schwächen vorstellte, schließlich
auch menschliche Körper angedichtet, weil der Men-
schen-Verstand eine rein geistige Gottheit sich nicht
vorzustellen vermochte und sie wohl auch niemals
ganz begreifen wird. Daß die Körperlichkeit der Gott-
heit deren Unendlichkeit in Raum und Zeit ohne
weiteres widersprechen muß, das störte die Gläubigen
nicht und stört sie auch bei den kultiviertesten Völkern
nicht, weil der Glaube Sache des Gefühls und Em-
pfindens, nicht aber eine Frucht des philosophischen
Grübelns ist, und das philosophierende Grübeln über
den Glauben nur einer sehr geringen Anzahl von
Menschen geläufig oder auch nur möglich ist. „Credo,
quia absurdum." Die Bilder, die sich die alten Völker
von ihren Göttern schufen, waren in ihren Augen
nicht mehr leblose Bildwerke, sondern wirklich die
lebendigen Götter selbst, zu denen man betete, und
denen man opferte. Wer ein solches Bildwerk be-
schädigte, hatte nicht gegen eine von Menschenhand
gefertigte Sache ein Verbrechen begangen, sondern
die Gottheit selbst angegriffen und mußte des Todes
sterben. Wieder zeigt sich hier, daß der blinde Glaube
oder, wenn man es richtiger bezeichnen will, Aber-
— 224 —
glaube das logische Denken ausschaltet. Man flehte
die allmächtigen Götter bei jedem Vorhaben um ihren
Beistand an, glaubte sogar, daß nur diese im Kriege
den Sieg verleihen könnten, und doch fand man es
begreiflich und selbstverständlich, daß diese allmäch-
tigen Götter nicht sich gegen das erbärmlichste Sub-
jekt selbst verteidigen oder den, der ihr Bild, alias
sie selbst, zerstört hatte, strafen könnten. Kein Wunder,
wenn zwei Auguren, die sich auf der Straße be-
gegneten, sich verstohlen aber verständnisinnig anzu-
lächeln pflegten, wie alle Leute, die „die große Masse"
in ihrer Dummheit bestärken, diese ausnützen und
sich wohl dabei fühlen.
Völker, die ihre Gottheiten in Weltkörpern z. B.
der Sonne erblickten und darin insofern auch eine
berechtigte Idee verfolgten, weil die Sonne als Licht
und Wärme spendender Faktor in der Tat eine leben-
erweckende und schöpferische Einwirkung ausübt, oder
die Feuer, Wasser usw. anbeteten, hatten es aller-
dings nicht nötig, sich ihre Gottheiten mit mensch-
lichen Körpern vorzustellen, weil für sie das, was sie
verehrten, schon sinnlich wahrnehmbar vorhanden
war. Dennoch ist der Gedanke, auch solche Dinge
gewissermaßen durch Inkarnation der Vorstellungs-
kraft noch näher zu bringen, damit man sie sich auch
als bewußt wollende Persönlichkeiten denken konnte,
überall erkennbar und insofern auch verständlich. Es
ist aber nicht zu verkennen, daß auch das Altertum,
besonders das orientalische, das zunächst hier für uns
allein in Frage kommen kann, auch schon stellenweise
reifer und reiner dachte, sich die Gottheiten als viel
zu groß und erhaben für eine bildliche Darstellung
— 225 —
ausmalte und höchstens symbolische Abbildungen und
Gegenstände duldete, die nicht die große Gottheit selbst
darstellen sollten, also auch nicht angebetet werden
durften, sondern nur die Erhabenheit oder fleckenlose
Reinheit des höchsten geistigen Wesens versinnbild-
lichen konnten. So in der ältesten Religion der Inder
und Perser, so in der Shintoreligion in Japan. Auch
die Vorstellungen des weisen Sokrates von einem
allweisen Urwesen ließ die bildliche Darstellung nicht
zu. Wir sehen aber auch in unserer christlichen Re-
ligion, daß eine reine und klare Vorstellung in reli-
giösen Dingen sich niemals lange rein und klar er-
halten kann ; stets wird Menschenwitz selbst über gött-
liche Offenbarungen oder über das, was für solche
gehalten, für solche erklärt wird, gesetzt, das reine
religiöse Empfinden, das niemals an eine bestimmte
Form, an bestimmte Formeln und Sätze gebunden
sein kann, verkümmert unter dem Drucke reiner
Äußerlichkeiten, die beobachtet, paradoxer Lehrsätze,
die als unfehlbar befolgt und nachgeplappert werden
sollen, und an Stelle der dem gläubigen Herzen un-
mittelbar entspringenden Andacht haben wir die —
Idololatrie, den Götzendienst oder den Bilderdienst.
Die Lust zum Fabulieren offenbart sich in allen Reli-
gionen.
Ich sage „allen Religionen" und meine damit
eigentlich nur alle Religionslehren. Es gäbe vielleicht
nur eine Religion, wenn die Dogmatik nicht mit so
regem Eifer alles heraussuchte, was trennt, sondern
sich die gleiche Mühe gäbe, zu entdecken, was ver-
eint. Die vergleichende Religionswissenschaft, die
Licht und Schatten über alle Systeme auszubreiten
15
— 226 —
bemüht ist — ich will nicht sagen, daß ihr das schon
in allen Punkten gelungen wäre — wird vielleicht er-
sprießlicher wirken und feststellen, daß der religiöse
Grundgedanke überall der gleiche ist. Die soge-
nannten religiösen Urkunden, die von den verschie-
densten Religionen als direkte göttliche Inspirationen
betrachtet und gepriesen werden, ändern hieran nicht
das Mindeste, denn vor dem kritischen Auge der
historischen Forschung fällt der geheimnisvolle Nim-
bus wie die Hülle vom Denkmal bei der Einweihung.
Es bleibt nur der religiöse Grundgedanke, der allein
wirkliche Religion, wenn man will, wirkliche Offen-
barungsreligion ist. Stets ist aber eine Verbindung
zwischen der Magie und der Religion vorhanden, ent-
weder — wenn man es so nennen will, — eine posi-
tive oder eine negative, d. h. entweder gilt die Magie
direkt für eine religiöse Handlung, oder sie wird als
Teufelswerk betrachtet; es gibt danach eine weiße
und eine schwarze Magie, je nachdem gute oder böse
Geister von den Magiern um ihre gefl. Mitwirkung
ersucht werden. Der Übergang ist nicht immer leicht
zu finden, und es muß berücksichtigt werden, daß die
guten Götter alter Völker von eifrigen Streitern des
Christentums einfach zu bösen Dämonen degradiert
wurden, so daß je nach dem Glaubensbekenntnis des
Beurteilers dieselbe Magie die Farbe wechseln und
dieselbe Metamorphose durchmachen kann, zu der
man den Göttern des Altertums verholfen hat.
Kehren wir ad medias res dieses Kapitels, also
zu den Bildnissen, zurück, so dürfen wir wohl sagen,
daß der Glaube, oder wenn man es richtiger be-
nennen will, Aberglaube, daß das Bild einer Person
— 227 —
schon ein Stück dieser Person selbst sei, direkt reli-
giösen Ursprungs ist, weil man vergessen hatte, daß
die Bildwerke, die man in den Tempeln verehrte und
anbete, nicht wirklich die Gottheiten selbst, sondern
nur Gebilde aus Menschenhand waren. Man hielt
wirklich die Bildnisse der Götter für lebendige Götter,
und die Priester solcher Götzenbilder waren ebenso
klug wie die Auguren, die sich verstohlen anlächelten,
wenn sie sich begegneten. Sie unterhielten das gläu-
bige Volk in seiner Dummheit und taten alles, es in
dieser Eigenschaft, die die Götter nicht immer ver-
geblich bekämpfen würden, wenn sie nicht außer gegen
die Dummheit auch noch gegen den Eigennutz deren
zu kämpfen hätten, die sich von der Dummheit der
Menge behaglich mästen, zu belassen. Die Priester,
die als Diener ihrer Götzen auftraten, dienten in Wirk-
lichkeit sich selbst und standen sich recht gut dabei.
Selbst die Bibel, die gewiß über religiöse Dinge nicht
spottet, auch sehr wenig Grund hat, über Lug und
Trug der Priester — gleichviel ob heidnischer — ohne
Grund zu spötteln, liefert eine ganze Anzahl von kür-
zeren oder längeren Belegen für den bewußten Betrug
von Priestern. Ich will hier nur das Interessanteste
etwas eingehender behandeln, das Buch vom Bei zu
Babel, das zwar zu den Apokryphischen Schriften ge-
hört, also kein Lehrbuch im eigentlichen Sinne ist, aber
historisch gerade deshalb durchaus als viel einwands-
freier für die gelten darf, die nun einmal gegen alle
biblischen Überlieferungen ein schier unbegrenztes
Mißtrauen nicht zu überwinden vermögen.
Es ist da erzählt, daß nach dem Todes des Königs
Astyages Babel an den König Cyrus aus Persien ge-
15«
— 228 —
fallen sei, und daß der strenggläubige Daniel bei
Cyrus eine sehr geschätzte Person gewesen wäre. In
Babel wurde der Gott Bei verehrt und für einen gar
mächtigen und gewaltigen Gott gehalten, dessen Bild-
werk nicht nur von den Babyloniern, sondern auch
von Cyrus selbst mit großer Andacht angebetet wurde,
eine Frömmigkeit, die nicht einmal billig war, denn
Bei hatte einen vorzüglichen Appetit; es mußten ihm
täglich zwölf Malter Weizen, vierzig Schafe und drei
Eimer Wein geopfert werden. Für eine Person, selbst
wenn sie eine Gottheit von der Größe des Bei zu
Babel wäre, ist das sicherlich eine sehr reichliche
Nahrung; aber die 70 Priester des Gottes, die mit
ihren Weibern und Kindern schon eine kleine Völker-
schaft für sich bildeten, schwuren hoch und heilig,
daß der unbewegliche Bei das alles wirklich verzehre,
und das war es gerade, was dem guten Cyrus so
gewaltig imponierte. Nun erzählt die Bibel ein recht
interessantes Gespräch zwischen Cyrus und Daniel,
das ich im Wortlaut wiedergebe: „Und der König
sprach zu ihm: Warum betest du nicht auch den
Bei an? Er aber sprach: Ich diene nicht den Götzen,
die mit Händen gemacht sind, sondern dem leben-
digen Gotte, der Himmel und Erde gemacht hat, und
ein Herr ist über alles, was da lebet. Da sprach der
König zu ihm: Halst du denn den Bei nicht für einen
lebendigen Gott? Siehest du nicht, wieviel er täglich
isset und trinket? Aber Daniel lachte und sprach:
Herr König, laß dich nicht verführen; denn dieser
Bei ist inwendig nichts denn Lehm und auswendig
ehern, und hat noch nie nichts gegessen. Da ward
der König zornig, und ließ alle seine Priester rufen,
— 229 —
und sprach zu ihnen: Werdet ihr mir nicht sagen,
wer dies Opfer verzehret, so müsset ihr sterben. Könnet
ihr aber beweisen, daß der Bei solches verzehre, so
muß Daniel sterben, denn er hat den Bei gelästert.
Und Daniel sprach: Ja, Herr Konig, es geschehe also,
wie du geredet hast."
Daß Cyrus sehr zornig wurde, das kann man
ihm eigentlich nicht verdenken. Einen felsenfesten
und unerschütterlichen Glauben scheint er nicht be-
sessen zu haben, denn er war ja ein kluger Mann,
und deshalb mußten wohl sehr leicht Zweifel in seiner
vielleicht nicht einmal kindlich reinen Seele aufsteigen.
Nun liegt es aber in der Natur des Menschen, daß
er nicht gern vor sich selbst und noch viel weniger
gern in den Augen seiner Mitmenschen als ein leicht-
gläubiger Narr dastehen will, der sich in der plumpsten
und albernsten Weise übertölpeln läßt. War der Bei,
was doch eigentlich schon der Augenschein lehrte,
wirklich nicht lebendig, sondern innen nichts denn
Lehm und außen ehern, dann konnte er in der Tat
nicht jeden Tag eine so stattliche Mahlzeit zu sich
nehmen, wie sie ihm doch gespendet werden mußte.
Vielleicht war auch dem guten Cyrus schon die enorme
Schüchternheit aufgefallen, die es dem großen Bei
nicht gestattete, jemals in Gegenwart von Menschen
etwas von den dargebotenen Schätzen zu berühren.
Man kann es dem Cyrus wirklich nicht verdenken,
wenn ihn der Gedanke, er könne sehr wohl ein ge-
waltiger Schafskopf gewesen sein, weil er nicht merkte,
was doch eigentlich jeder vernünftige Mensch auf den
ersten Blick erkennen mußte, zornig stimmte. Die
Priester aber waren, wie sich dies für richtige und
— 230 —
würdige Priester eines thönernen Götzen ziemt, schlaue
Füchse, die für solche Fälle bestens vorbereitet waren
und glaubten, sich auf ihren Humbug bestens ver-
lassen zu können. Da Bei natürlich nicht in Gegen-
wart Sterblicher, auch nicht in der eines Königs, essen
durfte, war es ihnen verhältnismäßig leicht gemacht,
den verlangten Beweis zu liefern. Sie sagten des-
halb dem König, er möge selbst die Opfer in dem
Tempel niederlegen, allein in dem Räume bleiben und
als letzter hinausgehen, so daß er sich überzeugen
könne, daß bei seinem Fortgange noch alle Opfer
vorhanden und absolut keine Personen mehr zugegen
seien, die etwas hätten fortnehmen können. Er solle
dann selbst die einzige Türe zum Tempel verschließen
und auf die Türe resp. das Schloß sein Siegel drücken,
so daß also auf keinen Fall noch ein Mensch in den
Tempel hinein oder heraus könne, ohne das Siegel zu
verletzen. Das leuchtete dem Cyrus ein und war auch
eigentlich durchaus plausibel. Cyrus war befriedigt,
nahm den Vorschlag an, und die Priester freuten sich
schon darauf, daß Daniel, der doch ein ganz gefähr-
licher und ekelhafter Bursche sei, auf alle Fälle am
nächsten Tage sein Leben aushauchen müsse. Es ist
immer gut, wenn solch ein Mensch unschädlich ge-
macht wird; das Ansehen des gewaltigen Bei mußte
dadurch sehr gewinnen, Leute, die von der gütigen
Natur mit klaren Augen ausgestattet waren, verloren
durch dieses Beispiel die Lust und den Mut, etwaige
Bedenken gegen die Lebendigkeit und den guten
Appetit des Bei laut werden zu lassen, und mit dem
Ansehen des Bei mußte auch das seiner Priester
wachsen. Die Priester konnten ihrer Sache übrigens
— 231 —
wirklich sicher sein, denn sie hatten einen geheimen
unterirdischen Gang, der von außen in den Tempel
führte und unter dem Tische mündete, auf den die
Opfer gelegt werden mußten. Sie hatten also nie-
mals nötig, die Türe zu öffnen, wenn sie in den
Tempel wollten, denn es war ihnen von vornherein
klar, daß es leicht einmal hätte Bedenken erregen
können, wenn die Herrschaften mit Weibern und
Kindern täglich den Tempel aufgesucht hätten, oder
wenn sie etwa so unvorsichtig gewesen wären, die
Opfer durch den offiziellen Eingang fortzuschaffen.
Später konnte es viel leichter gehen.
Die Bibel erzählt den weiteren Verlauf der Sache
wörtlich: „Da nun die Priester hinaus (aus dem
Tempel) waren, ließ der König dem Bei die Speise
vorsetzen. Aber Daniel befahl seinen Knechten, daß
sie Asche holeten, und ließ dieselbige streuen durch
den ganzen Tempel vor dem Könige. Danach gingen
sie hinaus, und schlössen die Tür zu, und versiegelten
sie mit des Königs Ringe, und gingen davon. Die
Priester aber gingen des Nachts hinein nach ihrer
Gewohnheit mit ihren Weibern und Kindern, fraßen
und soffen alles, was da war. Und des Morgens
sehr frühe war der König auf, und Daniel mit ihm.
Und der König sprach: Ist das Siegel unversehrt?
Er aber antwortete: Ja, Herr König. Und sobald die
Tür aufgetan war, sah der König auf den Tisch, und
rief mit lauter Stimme: Bei, du bist ein großer
Gott, und ist nicht Betrug mit dir! Aber Daniel
lachte, und hielt den König, daß er nicht hinein ging,
und sprach: Siehe auf den Boden, und merke, wes
sind diese Fußtapfen? Der König sprach: Ich sehe
— 232 —
wohl Fußtapfen von Männern und Weibern und
Kindern. Da ward der König zornig, und ließ die
Priester holen mit ihren Weibern und Kindern. Und
sie mußten ihm zeigen die heimlichen Gänge, da-
durch sie waren ein- und ausgegangen, und ver-
zehret hatten, was auf dem Tische war. Und der
König ließ sie töten, und gab Daniel den Bei in seine
Gewalt; derselbe zerstörte ihn und seinen Tempel."
So weit die einfache Erzählung der Bibel, die fast
an einen modernen Detektiv-Roman erinnert, denn
der List, die schlauen Priester durch das Streuen von
Asche auf den Fußboden, auf dem sich dadurch jeder
Schritt deutlich ausprägen mußte, würde sich auch
ein Sherlock Holmes nicht zu schämen brauchen. Was
würde aus manchem Kult geworden sein, wenn es
stets einen Daniel mit der nötigen Asche und dem
nötigen Salz — ich meine attisches — gegeben hätte,
so daß die „geheimen" Gänge hätten entdeckt werden
können !
Die Geschichte lehrt aber klipp und klar, daß
selbst die Götter eines Cyrus nur Gebilde von
Menschenhand — innen Lehm, außen Erz — waren,
oder, mit anderen Worten, daß man immer bloße Bild-
werke für lebendige, mächtige Götter hielt. Ist es
da ein so weiter Schritt bis zu dem Gedanken, daß
es dem schwachen Menschengeschlecht ebenso gehen
müsse wie den mächtigen Göttern, daß also auch das
Bildnis eines Menschen schließlich selbst fühlender
und lebender Mensch sei? Es kann wohl kaum etwas
Näherliegendes geben.
Als das Christentum in seinen Vorstellungen noch
ziemlich rein, ich meine frei von dem dogmatischen
— 233 —
Nebenkram kluger Köpfe und blinder Fanatiker war
— ganz rein ist es ja wohl niemals gewesen, ebenso
wenig wie das klarste Gesetz frei von entstellenden
Interpretationen bleiben kann — war die Verehrung
oder gar Anbetung von heiligen Bildern, die doch in
der Tat der christlichen Lehre geradezu einen Faust-
schlag ins Gesicht versetzen, absolut ausgeschlossen.
Ich will nicht an die Bilderkriege denken, die der
byzantinische Kaiser Leo der Isauricus (716 — 741) er-
öffnete; es ist aber auch da das Heilige mit dem
Profanen verquickt und nicht die Materie von Gottes-
bildern, sondern auch jede Materie einer Person, ja
schließlich jeder Landschaft als Teufelswerk verboten
worden. So hat die Kirche oder auch die heidnische
Hierarchie stets dafür gesorgt, daß der Bilderaber-
glaube — sei es im guten, sei es im bösen Sinne —
niemals aussterben konnte. Selbst im spätesten
Christentum, bis auf unsere Tage hat sich die Meinung
erhalten, daß die toten Bilder doch lebendige Kraft
besäßen, daß bemalte Leinwand angebetet werden
müsse, daß sie Wunder tun, Kranke heilen und den
Naturkräften gebieten könne.
Nahm man aber einmal an, daß ein Bild schon
mit dem Gotte oder dem Menschen, den es dar-
stellen sollte, so weit eins sei, um fühlen und handeln
zu können wie das Original, dann verstand es sich
fast mit logischer Selbstverständlichkeit, daß dies Bild
den Menschen, den es darstellte, auch in die Gewalt
dessen, der das Bild besaß, bringen mußte, oder daß
der Mensch selbst alles das fühlen müsse, was man
seinem Bilde antue. Das ist, wenn man so sagen
will, der logische Grundgedanke des ganzen Bilder-
234 —
zaubers. Magie oder Zauberei nahm man trotz aller
Vernunftsdeduktionen doch an, wenn es sich um die
Einwirkung durch Behandlung eines Bildes handelte.
Es war und blieb doch eine wunderbare Zauber-
wirkung in die Ferne, wenn man einem Menschen
Freude oder Leid bloß dadurch zuzufügen vermochte,
daß man seinem Bildnisse irgend etwas antat. So
war es zunächst auch nicht jedem beliebigen Menschen
in die Hand gegeben, eine derartige Fernwirkung
hervorzubringen, sondern man glaubte, daß nur den
Magiern eine solche Leistung gelingen könnte.
Die Magie stand nun aber im orientalischen Alter-
tum keineswegs so auf dem Index wie in den Zeiten
des christlichen Mittelalters bei uns im lieben Deutsch-
land, wo die Zauberer oder die, die man dafür halten
zu dürfen glaubte, gehaßt waren wie der Gottseibeiuns,
und wo die qualmenden Scheiterhaufen doch wohl
die ebenso intensiv gehaßten wie gefürchteten Zauberer
abhielten, das Wort des Caligula: „Oderint dum
metuant" zur Richtschnur ihres Erdenwallens zu
machen. Im alten Orient, den man als die Heimat
der Magie zu betrachten hat, waren die Herren Magier
sehr angesehene Leute. Man mochte sie vielleicht
auch fürchten, wie der Mensch sich ja stets am meisten
vor dem fürchtet, was ihm ein unverständliches Ge-
heimnis ist. Bei den Medern und Persern gehörten
die Magier der Priesterkaste an; sie gingen nur aus
einem bestimmten Volksstamme hervor, der die Kennt-
nisse der geheimen .Wissenschaften und die der Zoro-
astrischen Religion als geistiges Eigentum wohl zu
behüten und zu bewahren wußte. Auch eine Art
Theologenkaste! Die Magie dieser alten Priester-
— 235 —
käste war übrigens etwas wesentlich anderes als die
Magie, die später, wohl zuerst bei den Chaldäern,
schon ein erheblich bedenklicheres Handwerk bildete.
Ich will damit aber nicht etwa gesagt haben, daß
die medischen Magier Menschen gewesen wären, vor
denen man mit unbedingter Hochachtung hätte den
Hut abziehen müssen. Sie waren sehr kluge Leute,
die ihre Künste behüteten, weil sie wußten, daß sie
ihnen für alle Zeiten eine ungeheure Macht und einen
gewaltigen Einfluß sicherten, die sie beide sehr wenig
zum Nutzen ihrer Mitmenschen, dafür besser zum
eigenen Vorteil verwerteten. Wehe dem, dem diese
Leute nicht gewogen waren. Wo hätte wohl jemals
die herrschende und herrschsüchtige Priesterschaft das
eigene Wohl hinter das der Allgemeinheit gestellt?
Die Priester des Bei zu Babel waren mit ihrem sträf-
lichen Eigennutz immer noch ganz harmlose Leut-
chen im Vergleich mit mächtigen Priestern, auch mit
den priesterlichen Magieren der Meder, und doch
kostete sie ihr Betrug schließlich das Leben, das sie
erst mit seiner Hilfe so behaglich gefristet hatten. Ich
habe keinen Anhalt dafür, ob auch die medischen
Magier schon den Bilderzauber anwendeten; in der
Regel hatten sie ihn nicht nötig, denn die Personen,
denen sie ein Übel zufügen, oder die sie mit der Zähig-
keit des haßerfüllten Orientalen verfolgen wollten,
konnten sie in persona ipsissima haben. Wozu da in
die Ferne wirken?
Es ist bekannt, daß die alten medischen Magier
auch die Traumdeuterei bis zur Virtuosität verstanden ;
ob sie aber ihre heilige Kunst auch in den Dienst
von Privatpersonen stellten, erscheint doch recht zwei-
— 236 —
felhaft; jedenfalls haben sie sich aber nicht dazu her-
gegeben, die Liebesaffären von Hinz und Kunz zu
ebnen. Das taten spätere Magier, als die Magie schon
etwas in Verruf gekommen war, und diese Leute
werden zuerst den Bilderzauber als ein für ihre be-
scheideneren Verhältnisse immerhin lohnenderes Ge-
schäft eifriger kultiviert haben.
Benutzt wurden zu diesem anmutigen Zauber in
der Regel Bildwerke, die aus Wachs geformt wurden.
Es mögen nicht immer Kunstwerke ersten Ranges
gewesen sein ; aber man war damals in dieser Hinsicht
nicht übermäßig verwöhnt, und die .Wachsgebilde ver-
richteten ihren Zweck vorzüglich, wenigstens hat es
gewiß nicht an der künstlerischen Qualität des Bild-
werks gelegen, wenn der Zauber nicht glückte, son-
dern von helleren Köpfen sofort als ein „fauler Zauber"
erkannt werden konnte. Über das Versagen solcher
Künste verlautet aber natürlich nichts, und das er-
scheint gewiß nicht so übertrieben wunderbar. Wo
man glaubte, daß eine Lehmfigur 40 Schafe, 12 Malter
Weizen und drei Eimer Wein täglich vertilge, da konnte
man doch schließlich auch davon überzeugt sein, daß
alles, was sich mit einer geliebten Person ereignete,
die Tat des Magiers sei. Der Magier hatte also alle
Chancen, und es ist durchaus verständlich, daß er sie
auszunützen verstand. Blieb seine Kunst ohne Er-
folg, so gab es sicherlich tausend Gründe, aus denen
dieses Mißlingen erklärt werden konnte. Gründe sind
im allgemeinen wohlfeil wie die Brombeeren. Selbst
in unserem sogenannten Zeitalter der Aufklärung findet
man, wenn man sich nur die Mühe gibt, etwas ge-
nauer zu beobachten, eine Leichtgläubigkeit und
— 237 —
Geistesverblödung, sofern es sich um Wunderdinge
handelt, die geradezu besorgniserregend sind. Man
denke doch an den groben Schwindel, den Spiritisten,
oder meinetwegen Pseudospiritisten so oft schon in
Szene gesetzt haben. Man versteht es schon nicht,
daß ernste Männer an die fliegenden Schinkenknochen,
Kartoffeln, Töpfe und den übrigen Spuk des Knaben
von Resau hineinfallen konnten. Daß aber nach der
Entlarvung und Bestrafung des Spukschwindlers immer
und immer wieder alle möglichen Leute auf denselben
Schwindel hineinfallen, daß den Taten einer Valeska
Töpfer oder einer Bertha Rothe immer wieder neue
Medien folgen konnten, die in noch plumperer Weise
ihre andächtige Gemeinde betrogen, das ist ein Be-
weis dafür, daß auch Menschen, die durch reichere
Erfahrungen und durch eine reifere Erziehung doch
eigentlich kritisch genug veranlagt sein sollten, um
einigermaßen die Spreu von Weizen sondern zu können.
Ich will mich auf die „Tatsachen des Spiritismus"
nicht ausführlich einlassen, ich will insbesondere nicht
in Abrede stellen, daß es wirklich Dinge zwischen
Himmel und Erde gibt, von denen sich unsere Schul-
weisheit nichts träumen läßt. Ich bin von einem
Weiterleben der Seele nach dem leiblichen Tode aus
Vernunftsgründen überzeugt; ich bin aber — eben-
falls aus Vernunftsgründen — überzeugt, daß dieses
Weiterleben der Seele denn doch unter sehr wesent-
lich anderen Daseinsbedingungen erfolgt als denen für
unser körperliches Leben, und daß die weiterlebenden
Seelen wahrlich nicht durch jeden x-beliebigen Char-
latan und Schwindler gezwungen werden können, sich
zu manifestieren oder mit kindischem Gehorsam alle
— 238 —
die unglaublichen Albernheiten und Dummheiten zu
vollführen, die der Herr Geisterbeschwörer befiehlt.
Vor allen Dingen sollte doch jeder die Absicht merken
und verstimmt werden, wenn das Medium ungeheure
Geldopfer verlangt, die in erster Linie ihm persönlich
zu gute kommen. Denken, denken und wieder denken
sollte die Menschheit lernen, sie sollte lernen, die Um-
gebung und alle ihre Erscheinungen kritisch zu durch-
denken, dann würde es wohl gelingen, was die ernsten
Spiritisten, — darunter verstehe ich solche, die den
Problemen ihrer Lehre mit wissenschaftlichem For-
schungseifer nachgehen wollen — stets verlangen, näm-
lich Klarheit und Gewißheit über manches zu schaffen,
was in der Tat als noch nicht festgestellt und noch
nicht ergründet gelten darf. Fanatische Sekten aber,
die meist aus ungebildeten und unwissenden Leuten
bestehen, gefallen sich in erster Linie darin, gegen
die Wissenschaft zu eifern, die nach ihrer Ansicht nur
die eine Garantie bietet, daß ihre Vertreter weder
etwas leisten, noch etwas entdecken können. Fragt
man solche Leute, welche Disziplin der Wissenschaft
sie eigentlich meinen, dann sperren sie Maul und Nase
auf, denn von einer Disziplin der Wissenschaft oder
von dem, was die Wissenschaft in ihren einzelnen
Zweigen lehrt und leistet, haben sie noch niemals ein
Sterbenswörtchen gehört. Diese Leute, die auf Staat
und Kirche schimpfen und in ihrer Selbstüberlebung
nur sich selbst anerkennen, bilden eine große Gefahr,
für ihre nächsten Anhänger schon deshalb, weil sie
die christliche Nächstenliebe, die sie predigen, meist
nur dahin verstehen, daß sie ihre Anhänger aussaugen
bis auf den letzten Blutstropfen. Es läßt sich leider
— 239 —
auch das als christliche Nächstenliebe deduzieren, denn
umso viel mehr der Hang nach irdischem Gute be-
kämpft und unterdrückt wird, um so viel mehr ist
für das Seelenheil gesorgt, und man muß über die
Selbstlosigkeit der führenden Geister staunen, die das
eigene Seelenheil so wenig fördern und sich für ihre
Brüder aufopfern. Für die Allgemeinheit sind solche
Sekten eine Gefahr, weil sie in den Kreisen un-
wissender und urteilsunfähiger Menschen Verirrungen
anrichten, gesunde Existenzen vernichten und den be-
dauernswerten Opfern den Größenwahn einimpfen, daß
auch sie auserlesen seien, die Welt zu reformieren,
die heutige Staatsordnung und die Wissenschaft (dieses
Karnickel) zu stürzen und das Reich der — Sekte
zu errichten und auszubreiten. Es ist ein Jammer,
daß so etwas geduldet, und wie es scheint, an einigen
Orten sogar liebevoll gehegt wird, was wohl nur daran
liegen kann, daß die zuständigen amtlichen Stellen
über den wahren Charakter solcher Sekten sich täu-
schen lassen, obwohl ihnen doch die erforderliche Auf-
klärung gegeben worden ist. Auch das ist Magie.
Wir haben gesehen, daß Religion und Magie
keineswegs immer als Gegensätze betrachtet worden
sind, so wenig, daß die ersten Magier die berufenen
Religionsdiener sein konnten. Es ist dies natürlich
ein Widerspruch, sofern es sich um eine Religion,
die diesen Namen wirklich verdient, handelt. Ich will
mich dabei auf eine wörtliche Übersetzung des Wortes,
das aus dem Verb relego-ere abgeleitet ist und
eine sehr verschiedene Deutung zuläßt, im römischen
Sprachgebrauch auch tatsächlich eine sehr verschiedene
Bedeutung hatte, nicht einlassen, sondern mich nur
— 240 —
an das klammern, was wir unter Religion oder Re-
ligiosität verstehen. Immer wird sich der Religiöse
von der Gottheit abhängig fühlen müssen, weil eben
nur der Glaube an eine allmächtige Gottheit, von
deren Willen und Gesetzen die Menschen, jeder
einzelne Mensch, abhängig sind, Religion sein kann,
denn wollte man ein Schemen anbeten, das nicht
existierte, keine Macht auf das Menschenschicksal
hätte und den Lebenspfad oder das Geschick des
Einzelnen nicht leiten könnte, so wäre diese Anbetung
ein heller Wahnsinn.
Die Magie wieder würde Wahnsinn sein, wenn
sie nicht völlig einen umgekehrten Standpunkt ein-
nähme. Die Magier glaubten an die Gottheiten —
sonst hätten sie nicht zugleich Priester sein können;
sie glaubten aber auch, daß sie durch Zauberei auf
die Gottheit zu wirken vermöchten, daß sie also die
Gottheit sich dienstbar machen, ja sie zu ihren Dien-
sten zwingen könnten. Das ist also das Sonderbare
und Vernunftwidrige an der ganzen Sache, daß die
Diener der Gottheit zugleich Herren der Gottheit sein
wollten oder sogar zu sein glaubten. Das war ein un-
lösbarer Widerspruch, der wohl nur deshalb als solcher
nicht besonders auffiel, weil, wie schon gesagt, die
Menschen in der Kunst, logisch zu denken, mindestens
da ein erschreckendes Manko aufzuweisen hatten und,
wie es scheint, immer aufzuweisen haben werden, wo
der Glaube oder der wüste Aberglaube ins Spiel kommt.
Es ist das auch an unseren heutigen Dogmen noch so
klar nachweisbar, daß es sich erübrigt, längere Aus-
führungen darüber zu machen. Im Altertum hat man
natürlich in diesen Dingen das X für ein U ange-
— 241 —
sehen, und als der Widerspruch so handgreiflich er-
schien, daß man die Zauberer als Feinde Gottes und
Werkzeuge des Teufels verbrannte, da wurde der alte
Widerspruch in Wirklichkeit nicht etwa beseitigt, son-
dern nur in eine andere Form umgegossen, die den
Herren kirchlichen Teufels-, Hexen- und Zauberer-
Verfolgern besser in den Kram paßte, in Wirklich-
keit aber eigentlich noch dümmer war. Die alte Re-
ligion der Meder und Perser nahm eine Gottheit an,
die die Schicksale der Menschen lenkte, selbst aber
unter den Naturgesetzen stand, also auch durch Natur-
gesetze zu zwingen waren. Die Magier waren nach
ihrer Meinung zwar immer noch mächtiger als die
Götter, wenn sie glaubten, daß sie die Naturkräfte
auch gegen diese ausspielen könnten. Das Christen-
tum aber, daß doch an einen allmächtigen Gott, der
Sturm und Wellen gebieten, Berge versetzen und die
Naturgesetze beherrschen konnte, statt ihnen zu unter-
stehen, glaubte, räumte dennoch dem Teufel eine
höhere Macht als Gott ein und nahm an, daß die
Zauberer zwar Diener aber doch auch zugleich Herren
des Teufels seien, und daß sie dadurch Gottes Rat-
schlüsse zum großen Teile umstoßen könnten. Hätte
man allein dem Teufel die Gewalt zugemessen, dann
wäre es ein Widerspruch gewesen, anzunehmen, daß
der Teufel auf die Tätigkeit seiner menschlichen
Knechte angewiesen sei. Es wäre der zweite noch
fatalere Widerspruch gewesen, die Leute, die doch
den Künsten und der Macht des Teufels gegenüber
wehrlos waren, so furchtbar zu bestrafen, denn wer
die Macht des Teufels, gegen die selbst Gott nichts
vermochte, weil es doch Gottes Wille nicht sein konnte,
16
— 242 —
daß der Teufel seine Gebote und Gesetze verletzte
und Menschen, die Gottes Kinder waren, für sich
selbst beanspruchen dürfte, verfiel, der konnte doch
in Wirklichkeit nur als ein Opfer des Teufels, das
man hatte beklagen müssen, nicht aber selbst als ein
Schuldiger angesehen werden. Nahm man aber an,
daß die Zauberer durch ihre Kunst, die sie allerdings
wieder erst von dem Teufel erhalten haben mußten,
dem Teufel gebieten könnten und deshalb schuldiger
als der Teufel selbst seien, dann stellte man sie wieder
über Gott und Teufel; aber dann war es ein Blöd-
sinn, zu glauben, daß diese Menschen von Menschen-
gewalt so einfach besiegt und vernichtet werden
konnten. Also auch hier ist ein unentwirrbarer Knäuel
von Irrungen, Wirrungen und blödestem Unsinn.
Ich hätte mir diese in gedrängter Kürze gehaltene
Ausführung gänzlich ersparen können, wenn es mir
nicht auf den psychologischen Nachweis angekommen
wäre, daß in Sachen des Aberglaubens nichts auf der
Welt so dumm und widersinnig sein kann, daß es
nicht doch in ein Dogma gebracht werden könnte,
auf das die Welt schwört, bis das Morgenrot einer
besseren Erkenntnis nach langer, furchtbar langer Nacht
endlich, meist sehr, sehr langsam am Horizont herauf-
dämmert. Im Orient geht ja die Sonne eher auf;
auch die Sonne der klaren Menschenvernunft? Ich
möchte das bestreiten.
Wir haben aus dem fernen Osten die Magie als
ein Danaergeschenk erhalten, das wir mit schwerer
Mühe überwinden mußten; aber der Orient ist heute
noch das Land, in dem die Magie üppig in Blüte
steht. Man denke nur an die indischen Magier und
— 243 —
Gaukler, über die wir überlegen lächeln, und die doch
auch uns noch unlösbare Rätsel aufgeben. Am grünen
Tisch läßt sich's gemütlich docieren; aber in der
sonnigen Wirklichkeit des indischen Morgenlandes da
sieht die Sache schon recht anders aus, da haben auch
Leute die Köpfe geschüttelt und eingestanden, daß sie
das Wunderbare nicht zu fassen und nicht zu erklären
vermöchten, Leute, die daheim am grünen Tische
ebenso überlegen, ebenso überzeugt das große Wort
ausgesprochen hatten, daß vielleicht ein blöder Hindu
den plumpen Schwindel solcher Gaukler anstaunen
könne, daß aber der gebildete Europäer dem Gaukler
sofort seine Taschenspielerkunststücke als solche nach-
weisen könne. Und doch — auch in Indien gibt es
für den gebildeten und sogar für den gelehrten Euro-
päer, der weiß, daß es keine Zauberer geben kann,
daß alles mit natürlichen Dingen zugeht, und daß es
sich höchstens darum handeln kann, Naturkräfte und
Fähigkeit in bisher unbekannter Weise zu verwerten,
Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich
selbst die europäische, hoch entwickelte Schulweisheit
nichts träumen läßt. Es ist, als sollte da jeder Skep-
tiker aus einem Saulus zum Paulus gemacht werden,
denn wer das sieht, was die indischen Magier,
Schlangenbeschwörer und ähnliche Künstler leisten,
der muß schon sehr fest davon überzeugt sein, daß
alles mit natürlichen Dingen zugehe, wenn er nicht
durch den Anblick in seiner Zuversicht wankend
werden will.
Diese kunstfertigen Indier sind aber kein Produkt
der neuesten Zeit oder einer neuen Kultur; ihre Künste
haben sich von Generation zu Generation vererbt und
16«
— 244 —
reichen in Zeiten zurück, um die die ältesten Ahnen-
geschlechter, die so gern ihren geheiligten Stamm-
baum bis auf Adam zurückleiten möchten, in blassen
Neid verfallen könnten. Ich meine nun, man hat im
Orient schon im grauen Altertum die Kunst der Magie
trefflich verstanden, und es ist dieser Tatsache gegen-
über durchaus verständlich, daß man Leuten, die in
der Tat „ohne alle Apparate" vor den Augen der
Menge Dinge vollbrachten, die als vollendete Wunder
erscheinen mußten, wohl das ungetrübteste Vertrauen
entgegenbrachte und sie auch für fähig hielt, in Herzens-
angelegenheiten eine heißersehnte Wendung herbei-
zuführen, die noch dazu an sich nicht einmal wunder-
bar, sondern ganz natürlich war.
Wie man auf den Gedanken kam, ja geradezu
kommen mußte, daß man durch eine bloße Behand-
lung eines Bildes aus Wachs die Person, die das Bild
darstellen sollte, direkt beeinflussen könne, habe ich
schon ausführlich auseinandergesetzt. Der Bilderglaube
hat sich dann ebenfalls bis ins Abendland verpflanzt,
und ist vielleicht der Redensart, daß Jemand in den
Händen eines Anderen Wachs sei, zu Grunde zu legen.
Die Herren Magier mögen wohl von der Wirkung ihrer
Kunst selbst felsenfest überzeugt gewesen sein; viel-
leicht haben sie auch der Idee gehuldigt, daß doppelt
besser halte, und sich nicht immer so sicher auf ihre
Wachsgebilde verlassen, sondern sich wohl nebenbei
auch an die Person selbst gewendet, die ihren Ab-
sichten geneigt zu machen, ihrem großen Ansehen
gewiß nicht allzuschwer gefallen sein dürfte. Haben
sie diese weise Vorsicht walten lassen, dann wird
ihnen wohl sehr oft ihre „Magie" glänzend gelungen
— 245 —
sein, und dem Auftraggeber, dem es doch sicher-
lich ganz gleichgültig war, auf welchem Wege sein
Helfer zum Ziele kam, der einfach zufrieden war und
sein konnte, wenn dieses Ziel überhaupt erreicht
wurde, war geholfen. Auch dem Magier, der in
immer besseren Ruf kam. Wäre der Erfolg immer
ausgeblieben, dann hätte sich das Märchen vom Bilder-
zauber unmöglich behaupten, geschweige denn sein
Ruf sich bis ins Abendland ausbreiten können.
Wenn man nun aber bedenkt, daß es Leute gab,
die zur Magie ihre Zuflucht nahmen, um ihrem Liebes-
sehnen Trost und Befriedigung zu verschaffen, dann
darf man daraus doch mindestens den Schluß ziehen,
daß das Liebesleben durchaus nicht bloß den rohen
Sinnenrausch in seiner ganzen und abstoßenden Bru-
talität kannte, sondern daß es auf keinen Fall an
romantischen und sinnigen Episoden und Affären ge-
fehlt haben kann. Mag die Sinnlichkeit das bewegende
Agens gewesen sein; wer will denn von Fall zu Fall
feststellen können, wie weit eine Herzensneigung von
der Sinnlichkeit diktiert oder doch wenigstens beein-
flußt ist?
Nicht allein für die verliebten Leute bildete die
Bildermagie eine Zuflucht, durch die sie zum Ziele
zu gelangen hofften, sondern auch für Haß und Rache
war diese Magie die einzige Möglichkeit Befriedigung
zu finden, wenn einer gehaßten Person auf direktem
Wege nicht beizukommen war. Haß und Liebe wohnen
sehr dicht beieinander und entspringen nicht selten dem
gleichen Grunde, ja es kommt nicht nur vereinzelt
vor, daß Liebe sich in Haß verwandelt So war denn
auch dabei der Magier eine geschätzte und gesuchte
— 246 —
Person. Als erst einmal bekannt war, wie riesig leicht
diese Liebes- und Haß-Magie ausführbar war, da be-
durfte man nicht einmal des Magiers mehr, um zum
Ziele zu gelangen. Das einzige Mittel, das unentbehr-
lich blieb, war das Bild. Dieses herzustellen, erforderte
weder eine besondere Übung noch hervorragende Ge-
schicklichkeit. Wachs ist leicht zu haben und, wenn
man es hat, leicht zu bearbeiten. Die Masse wird
durch das Kneten weich und biegsam, läßt sich in
jede Form bringen, und ein Bildwerk herstellen, das
eine nicht allzu verwöhnte Phantasie allenfalls für
ein menschenähnliches Bild halten kann, das bringt
doch schließlich auch der Ungeübteste fertig. Zudem,
— Liebe macht erfinderisch, Haß nicht minder.
Ich bin mir nun allerdings nicht darüber klar,
was man mit einem solchen „Kunstwerk" vorzunehmen
hatte, um dadurch zu erreichen, daß die Person, die
man damit meinte, sich zur Liebe bewege, denn et-
waige Liebkosungen, die man dem Wachsbild zuteil
werden ließ, können wohl keinen Zweifel gelassen
haben, daß der der Magie Beflissene selbst liebte;
was aber soll die andere Person bewogen haben, den
Liebenden nun auch ihrerseits zu lieben? Darauf kam
es aber doch gerade an. Was soll einer geliebten
Person, die vielleicht wiederliebte, aber durch äußere
Verhältnisse verhindert war, zu dem Geliebten zu ge-
langen, die Möglichkeit gewährt haben, dies zu er-
reichen? So groß konnte doch selbst der wirklich
vorhandene Zauber nicht wirken, daß er feste Türen
und Schlösser öffnete oder den Durchgang durch ver-
gitterte Fenster ermöglichte. Lassen wir also dieses
Rätsel ein Rätsel bleiben. Die Liebe macht erfinderisch ;
— 247 —
deshalb will ich es meinen sehr geehrten Lesern über-
lassen, die geeignete Methode selbst zu erfinden, falls
sie von der Vortrefflichkeit des Bilderzaubers sich
überzeugt haben, was ich keineswegs für ausge-
schlossen halte. Der Versuch bringt kein Risiko, da
man ja jetzt die Zauberer nicht mehr verbrennt. Auch
die Beschaffung eines Bildes ist nicht mehr mit allzu-
großen Schwierigkeiten verknüpft, und man hat außer-
dem noch den großen Vorteil, daß man an die Phan-
tasie keine allzuhohen Anforderungen zu stellen
braucht, um in dem Bilde wirklich die Person, die
man meint, zu erkennen.
Mit dem Haß war die Sache schon erheblich
leichter. ,Wer haßt, braucht keine Erwiderung seiner
Gefühle zu erwecken ; es wird ihm im Gegenteil in
der Regel ziemlich gleichgültig sein, ob sein Haß er-
widert, oder ob ihm gar nach dem am wenigsten be-
folgten christlichen Gebot sein Haß mit Liebe ver-
golten wird. Der Haß verlangt nur Rache und fragt
nicht danach, ob der Gegner etwa einverstanden ist
oder nicht, ja er wird sogar viel sicherer zum Ziele
gelangen, wenn das Übel, das er zufügen will, un-
erwartet, überraschend kommt. Die Liebe ist, wenn
es gestattet ist, durch nicht völlig passende Bezeich-
nungen, Begriffe verständlicher zu machen, mehr re-
lativ, der Haß mehr abstrakt, d. h. die Liebe will ge-
winnen, sie ist ja eigentlich nichts weiter als das in-
tensiven Sehnen nach einer dauernden oder wenig-
stens nur zeitlich begrenzten, sonst absoluten Vereini-
gung. Ich habe sie deshalb mehr egoistisch genannt.
Der Haß verlangt keine Vereinigung, er ist ein von
anderen Gedanken völlig losgelöster Begriff, der weiter
— 248 —
nichts will, als den Gegner schädigen oder ihn ver-
nichten, dabei aber nicht davon ausgeht, für sich
selbst einen Vorteil oder einen Genuß zu schaffen,
wenn auch durch die Befriedigung des Hasses ein
Vorteil entstehen, in der Befriedigung ein Genuß
liegen kann. Wenn ich diesen Gegensatz nenne, so
meine ich natürlich nicht die Liebe, von der der
Apostel Paulus sagt, daß sie alles dulde, alles ertrage,
alles verzeihe, sondern die für mein Thema allein
in Frage kommende Geschlechtsliebe.
Der Haß, der soweit gediehen war, daß sich der
Hassende des Magiers oder wenigstens der Magie
bediente, um seiner rasenden Leidenschaft ein Ge-
nüge zu tun, war natürlich ebenfalls über das Sta-
dium, in dem man ihn noch als etwas Abstraktes be-
zeichnen dürfte, hinaus entwickelt. Er suchte und ver-
langte gebieterisch eine Handlung, die dem Gehaßten
verderblich werden mußte. Das nächstliegende Übel,
das einer Person zugefügt werden kann, ist stets ein
direktes, also ein körperliches. Wer einem Menschen,
den er erlangen kann, ein Übel zufügen will, wird
dies am besten und sichersten erreichen, wenn er ihm
körperliche Schmerzen bereitet. Deshalb artet so
leicht ein erregter Streit in Tätlichkeiten aus, deshalb
die Prügeleien in allen ihren Abarten und Abstufungen.
Ich will nicht darauf eingehen, ob diese rohe Gewalt,
die doch nur beim hinterlistigen Überfall quasi als
Produkt heimtückisch boshafter Überlegung, sonst stets
im plötzlichen Effekt angewendet wird, etwa lobens-
werter als das geheime Wirken aus dem Hinterhalte
sein müsse. Denn das, was jemand mit Hilfe der
Magie tut oder auch nur zu tun meint, vereinigt in
— 249 —
der Regel Gewalttat und Heimtücke, wenn es auch
hierbei stets das Nächstliegende sein und bleiben wird,
dem Gehaßten einen körperlichen Schaden zuzufügen,
wenigstens da, wo das Wachsbild benutzt und ange-
nommen wurde, daß die Person dasselbe „fühle" und
leide wie ihr Bild. Mit dem „Fühlen" trifft dieser
Aberglaube auch wohl zweifellos das Richtige, denn
wenn man ein Gebilde aus Wachs noch so brutal
mißhandelt, so wird es doch von dieser Behandlung
nichts „fühlen", und dasselbe wird mit der Person,
deren Bild mißhandelt wurde, der Fall sein. Auch sie
wird nichts gefühlt haben, so daß in Wirklichkeit nur
der Magier, oder falls dieser nicht in „eigener Sache"
sondern nur im Auftrage eines Andern „arbeitete",
dessen Auftraggeber den Genuß hatte. Ein Genuß
mag das wirklich gewesen sein, denn ein wütender
Mensch kennt kaum einen größeren Genuß als den,
seinem gehaßten Gegner Schmerzen zu bereiten.
Glaubte er, dies auf so einfache und bequeme Weise
erreichen zu können, noch dazu ohne daß ihm auch
nur der geringste Vorwurf gemacht werden konnte,
so war die Freude subjektiv berechtigt; objektiv frei-
lich unsinnig, weil immer der Gehaßte gewiß über das
heiße Bemühen seines Gegners nur gelächelt haben
würde, wenn er es gewußt hätte, und wenn er ge-
nügend Philosoph gewesen wäre. Im Zeitalter des
blinden Zauberglaubens freilich hätte sich ein solcher
Philosoph wohl mit der brennenden Laterne auf dem
tagshellen Markte ebensowenig finden lassen wie ein
Mensch im Sinne des großen und satirisch veran-
lagten griechischen Philosophen. Es wird aber wohl
selten jemand gewußt haben, daß ein anderer Mensch
— 250 —
sein Wachsbild prügelte, und da der Prügelnde wohl
felsenfest glaubte, daß sein Gegner die Prügel em-
pfindlich fühlen müsse, sich doch aber nicht davon
überzeugen konnte, ob dies wirklich der Fall war,
so wird es ja wohl nicht so leicht möglich gewesen
sein, den Zauber zuverlässig auf seine Wirksamkeit zu
prüfen, und der Glaube konnte nicht leicht als falsch
erwiesen werden. Es wäre deshalb wohl begreiflich
gewesen, daß der Aberglaube köstlich grünte und
blühte, und alle die Racheakte, die man sich mittels
eines Wachsbildes erlaubte, wären im Grunde ge-
nommen recht harmlose Spaße der rachsüchtigen
Magier gewesen.
Aber ganz so einfach lag die Sache doch nicht,
denn die haßerfüllten Leute begnügten sich keines-
wegs damit, ihre Mitmenschen hin und wieder in-
direkt durchzuprügeln, sondern sie taten ihnen auch
viel schwereres Leid an. Sehr beliebt war das Aus-
stechen der Augen, das Abtrennen eines oder auch
verschiedener Glieder, und selbst der gefährliche Stich
durchs Herz war eirie höchst beliebte Manipulation.
Es kann da nun sehr wohl vorgekommen sein, daß
ein Mensch, dessen Wachsbild man aus Rache in der
schwersten Weise versehrt hatte, ebenfalls ein ähn-
liches Unglück an seinem Körper erlitt. Daß dies
in einer Zeit, in der das Menschenleben einen so
furchtbar geringen Wert hatte, vorkommen, verhältnis-
mäßig leicht vorkommen konnte, ist einleuchtend. Es
ist außerdem bekannt, daß auch umgekehrt in Fällen,
in denen Jemand ein besonderes Unglück erlebt und
an seinem Körper Schaden genommen hatte, ohne
weiteres angenommen wurde, daß eine Hexerei im
— 251 —
Spiele sei, daß also irgend Jemand dieses Unglück
durch Zauberei verursacht haben müsse. Über die
Person des Täters brauchte man sich keine großen
Kopfschmerzen zu machen. Irgend ein Individuum,
das mit den Unglücklichen besonders stark verfeindet
war, gab es wohl überall, denn Menschen, die gar
keine Feinde haben, sind bis auf den heutigen Tag
weiße Raben. So nahm man denn einfach einen
Menschen, der hinreichend verdächtig erschien, den
Zauber begangen zu haben, am Kragen und ließ ihn
seine Schandtat furchtbar büßen. Hatte er geleugnet,
was wollte das wohl sagen? Konnte man von einem
Menschen, der so verdorben war, daß er durch eine
hinterlistige Zauberei seine Mitmenschen ins Unglück
stürzte, erwarten, daß er den Mut besitzen würde,
seine Scheußlichkeit auch noch offen einzugestehen?
Da wurde einfach kurzer Prozeß gemacht, oder viel-
mehr, man ließ sich auf einen Prozeß erst garnicht
ein, sondern bestrafte den Unhold so schwer wie
möglich, in der Regel am Leben, und alle Welt war
davon überzeugt, daß dem Manne nur sein Recht ge-
worden war. Durch alle solche Ereignisse mußte
aber der Aberglaube, daß es wirklich eine Magie gäbe,
die so einfach durchzuführen war, neue Nahrung er-
halten. Das ist wohl die beste Erklärung dafür, daß
sich ein, objektiv betrachtet, so alberner Aberglaube
so lange halten konnte wie der von dem Bilderzauber,
der — mochte seine Entstehung, wie ich nachge-
wiesen zu haben, wohl annehmen darf, auch eine
logische Konsequenz alles dessen sein, was man im
allgemeinen über Bildwerke von Personen und Göttern
dachte und schließlich bei dem Entwicklungsgänge
— 252 —
religiöser Dogmen auch denken mußte, — in Wirk-
lichkeit doch jeder realen Grundlage entbehrt. Was
man jetzt durch Suggestion, Telepathie und ähnliche
Dinge zu erklären sucht, trifft auf den Bilderwahn
garnicht oder doch nur im allerbescheidensten Um-
fange zu.
Man soll aber nicht denken, daß der Bilderzauber
etwa nur im orientalischen Altertum bekannt und in
Übung gewesen sei. Auch bei uns im Abendland
hat er seinen Siegeszug gehalten und sich einer außer-
ordentlichen Lebensfähigkeit erfreut. Ich will nicht
darauf eingehen, wie unendlich oft „Zauberer" ver-
urteilt worden sind, weil sie durch Ausstechen der
Augen eines Bildes oder durch Stiche durch das Bild
ihren Mitmenschen nach dem Leben getrachtet haben
sollten.
Selbst die mittelalterliche Justiz pflegte, wenn der
Delinquent glücklich entwischt war, das Todesurteil
an dessen Bilde zu vollstrecken, und dieser Gebrauch
hat das Mittelalter lange, lange überlebt und selbst
noch im 18. Jahrhundert bestanden. Es ist richtig,
daß derartige Exekutionen an einem Bilde oder einer
Strohpuppe auch der Abschreckungstheorie dienen
und zeigen sollten, wie die Obrigkeit mit einem Men-
schen, der das in Frage kommende Verbrechen be-
gehe, umzuspringen pflege. Das mag dann ein bei
aller Lächerlichkeit eines solchen Verfahrens immer-
hin noch ganz leidlich vernünftiger Gedanke gewesen
sein. Das ursprüngliche Motiv war aber doch das,
daß man glaubte, der entwichene Verbrecher müsse
das wirklich körperlich empfinden, was man seiner
Puppe oder seinem Bilde antue. Mindestens wurde
— 253 —
dieser zweifellos allgemein gehegte Glaube durch die
öffentlichen Hinrichtungen von Strohpuppen usw. leb-
haft genährt.
Wenn man aber annimmt, dieser Aberglaube habe
nur im sogenannten finsteren Mittelalter bestanden, so
irrt man sich gewaltig; es ist nicht zu viel gesagt, wenn
man behauptet, daß es sich bis in unsere Tage er-
halten hat. Freilich nicht so allgemein wie einst, wo
alle Kreise ihm zuneigten, denn jetzt dürfte wohl ein
gebildeter Mensch über derartige Magierkünste kaum
noch ein mitleidsvolles Lächeln übrig haben. Noch
im Jahre 1897 hat sich in Rom eine Zauberer-Tragi-
komödie abgespielt. Die Zauberin war eine 47 jährige
Frau Adele Fabi, die in Rom Via Santi 4 ihre Hexen-
küche aufgeschlagen hatte und sich offenbar bei der
Bevölkerung eines großen Ansehens erfreute. Der
Polizei fiel diese Magierin wegen einer Affäre in die
Hände, die ziemliches Aufsehen erregte. Eine Frau
Hermelinde Scaccia scheint die eheliche Treue, die
sie ihrem Gatten gelobt hatte, nicht allzu peinlich ge-
halten zu haben, wenigstens wollte ihr Mann gern
auf das ihm sehr zweifelhaft erscheinende Glück, sie
weiter eine Genossin nennen zu dürfen, verzichten.
Er hatte die Scheidung beantragt und sich dadurch
den Zorn der edlen Hermelinde in so hohem Maße
zugezogen, daß diese beschloß, es dem sauberen
Herrn Gemahl gründlich anzustreichen. Sie selbst
konnte allerdings ihren Rachedurst nicht direkt be-
friedigen, denn zu einer Gattenmörderin hatte sie er-
freulicherweise wenig Talent, und zu einer Züchtigung
des Herrn Gemahls wollte sie sich nicht aufraffen,
da sie bei einem Angriff, wie sie wohl selbst ein-
— 254 —
sehen mochte, jedenfalls sehr schlecht weggekommen
sein würde. So wendete sie sich denn Hilfe erbittend
an die berühmte Zauberin der Via Santi, Adele Fabi.
Diese erklärte sich sofort bereit, die erbetene
Hilfe zu leisten, jedenfalls nachdem die rachsüchtige
Gattin bewiesen hatte, daß sie die Mittel besitze,
sich solche Extravaganzen „leisten" zu können. Zu-
nächst erhielt die Scaccia von der Hexe ein Paket
mit irgend einem Zauberpulver, das sie dem Herrn
Gemahl in die Suppe streuen sollte. Jedenfalls war
dieses Pulver, wenn auch gerade keine angenehme
Suppenwürze, so doch auch kein gefährliches Gift.
Geschadet hat es Herrn Scaccia wenigstens nichts,
obwohl es wirklich vorschriftsmäßig in die Suppe ge-
mischt worden war. Die Hexe hat auch selbst dem
Pulver keine besondere Wirkung zugetraut, es wohl
nur als Hokuspokus gegeben, um ihrer Kundin den
regen Eifer, mit dem sie dieser helfen wollte, zu be-
weisen. Die eigentliche Hexerei sollte erst später
vorgenommen werden; zu dieser Tätigkeit erbat sich
die Hexe ein Bildnis des Herrn Scaccia, das sie natür-
lich auch erhielt, denn der schönen Hermelinde war
die Rache bitterer, grimmiger Ernst. Es ist nun zur
Ausführung des Zaubers in diesem Falle nur zum
Teile gekommen. Die Welt, in der man sich nicht
langweilen will, hat eine kräftige Akustik, und so
war denn auch die Verbindung der Frau Hermelinde
Scaccia mit der wundertätigen Zauberin nicht unbe-
merkt geblieben. Vielleicht hat Hermelinde, die weise
Vorsicht, daß man beim Zaubern nicht sprechen dürfe,
wenn man die Wirkung nicht stören wolle, außer
Acht gelassen und selbst nicht reinen Mund gehalten;
— 255 —
jedenfalls wußten verschiedene Personen, daß die Tage
des Herrn Scaccia gezählt seien, da ihn die Fabi durch
ihre Zauberkünste auslöschen wolle wie eine Un-
schlittkerze.
Das wußte schließlich auch Herr Scaccia selbst,
denn ein gefälliger Freund hatte ihm die interessante
Neuigkeit brühwarm mitgeteilt, und man kann es ihm
nicht so sehr verübeln, daß er seinerseits das Komplott
wieder der Polizei berichtete, denn ein Vergnügen ist
es sicherlich nicht, sich von seiner Frau und einer
gefährlichen alten Hexe nach dem Leben trachten zu
lassen. Man kann ja niemals wissen, was bei so
einer Verschwörung herauskommt, und schließlich war
Herr Scaccia nicht minder abergläubisch als seine
bessere Hälfte, die er allerdings für die schlechtere hielt.
Um so eher aber war seine Furcht berechtigt.
Die Polizei nahm diese Sache durchaus ernst, und
sofort begab sich ein Kommissar in die Wohnung der
Magierin. Er hatte sogar zu seinem Schutze mehrere
Schutzleute mitgenommen, denn ob man in die Höhle
des Löwen oder in die Hexenküche einer berüchtigten
Zauberin geht, — man kann niemals wissen! Das
Bild, das sich dort den Vertretern der irdischen Ge-
rechtigkeit bot, war einigermaßen überraschend. Ein
Tisch vertrat die Stelle des Hexenaltars. Auf diesem
standen zwei brennende Kerzen und zwischen diesen
das Bild des Herrn Scaccia, das mit einem feuerroten
Bande umschürt war — die rote Farbe spielt immer
eine besondere Rolle. Vor dem Tisch-Altar kniete
die Hexe, rang die Hände und murmelte ihre Formeln.
Sie war nicht allein. Die schöne Hermelinde hatte
sich offenbar nicht überwinden können, der Zauber-
— 256 —
Sitzung beizuwohnen, da sie aber doch wissen wollte,
„Wieso und wie", hatte sie ihre Freundin Maria Cres-
centia entsendet, die aufpassen sollte, ob die Zauberin
auch wirklich ihre Pflicht tue und ihr Handwerk
verstehe. Maria war tief ergriffen. Aber auch die
Fabi war bald ergriffen, allerdings nicht vom frommen
Schauder, sondern vom weltlichen Arme der Gerechtig-
keit. Es stellte sich heraus, daß auf dem Bilde des
Herrn Scaccia die Augen ausgestochen waren, und
außerdem waren dem Bilde noch einige Nadeln in
die Seiten gesteckt. Es hatte also eine sehr böse
Rache werden sollen. Ob nun das Ausstechen der
Augen und das Durchlochen des Bildes mit Nadel
seine Wirkung nicht erfüllen konnte, weil die Hexe
bei ihren Zauberformeln gestört worden war, mag
dahingestellt bleiben; jedenfalls aber hat diese Pro-
zedur Herrn Scaccia nicht das Mindeste geschadet.
Man sollte es aber nicht für möglich halten, daß noch
im Zeitalter der Aufklärung solche Dinge passieren!
Als ob nicht heutigen Tages noch Schlimmeres an
Dummheit geleistet würde.
Ich will mich, wie gesagt, nicht darauf einlassen,
hier festzustellen, wie unendlich oft „Zauberer" ver-
urteilt worden sind, die durch Ausstechen der Augen
eines Wachsbildes usw. ihre Kunst geübt hatten oder
doch wenigstens geübt haben sollten; ich glaube aber,
doch mindestens soweit auf diese im höchsten Grade
kulturhistorisch interessante Sache eingehen zu müssen,
um beweisen zu können, daß dieser Aberwitz ge-
radezu zu einem Kirchendogma erhoben wurde, so
daß es hieraus doppelt und dreifach erklärt, wenn
die Menschheit kritiklos den Unsinn glaubte und, wie
— 257 —
wir aus dem letzten Beispiel ersehen haben, auch
jetzt noch glaubt, mindestens in Gegenden, in denen
die Kirche und ihr Oberhaupt noch höher gestellt wird
als Gott selbst und der Erlöser, auf dessen Namen
sich das Christentum gründet. Das Oberhaupt der
Kirche ist Meister, und auf des Meisters Worte schwört
man bekanntlich.
Es versteht sich von selbst, daß die alten, von
der Kirche anerkannten und weiter erzählten Beispiele
die Wirklichkeit und Gefährlichkeit des Zaubers, für
den die Franzosen das schöne Wort „Envoutement"
erfunden haben, beweisen sollten, daß also in diesen
Beispielen, von denen ich natürlich nur einen sehr
bescheidenen Teil wiedergebe, die Wirkung des Zau-
bers als eine erwiesene Tatsache geschildert wird.
Das ist etwa dasselbe, was wir bei allen Judenver-
folgungen finden. Geschah irgend ein Unglück, brach
ein Krieg oder eine Seuche oder selbst eine Ueber-
schwemmung usw. aus, so war es einwandsfrei er-
wiesen, daß die Juden durch Vergiftung der Brunnen,
Wiesen oder sonst einen heimtückischen Akt das Uebel
verschuldet hatten. Das war eben „bewiesen". Wo-
durch? Ja, man glaubte es einfach oder behauptete es,
und was ein Christmensch gegen einen Juden be-
hauptete, das war einfach hinreichend bewiesen und ge-
nügte, über die Juden herzufallen. Nebenbei ein recht
gutes Geschäft, denn die Judenverfolgungen waren
stets mit einer großen Plünderung verbunden, die in
der Regel reiche Beute brachte, da die Juden, die
das Wucherprivilegium besaßen und schließlich auch
besitzen mußten, weil man ihnen die ehrlichen Er-
werbszweige sperrte, trotz allem äußeren Elend doch
17
— 258 —
es trefflich verstanden, Schätze zu sammeln, die die
Motten fressen und die der Rost verzehrt — falls
man den chemisch-wissenschaftlich widerlegbaren Glau-
ben, das Gold und Silber rosten, einmal nicht so
gründlich auf seine Berechtigung prüfen will. Jeden-
falls gab es bei den Juden immer so viel zu holen,
daß auch die Herrscher sich nicht genierten, diese
geduldeten und wenig beliebten Untertanen gelegent-
lich gründlich zu erleichtern. Ja, es fällt nicht ein-
mal schwer, wenigstens für einen Teil der bekannten
Judenmassakres den historischen Nachweis zu er-
bringen, daß das urspringliche Motiv des Judenmordens
lediglich das schon von Vergil angewendete „A u r i
sacra fames" war. Durch die kühn aufgestellte An-
schuldigung, daß die Juden durch irgend eine schier un-
mögliche Schandtat den Christen den Untergang hätten
bereiten wollen, dann wurde der brutale Raubmord
zu einer heiligen Handlung.
Mitten hinein in diese Materie führt uns ein kirch-
lich anerkanntes Beispiel, das ich deshalb nicht über-
gehen will, weil es ganz besonders lehrreich ist. Im
Jahre 1067 hatte der Erzbischof von Trier sich die
Bekehrung der Juden zum Christentum ganz be-
sonders angelegen sein lassen. Er verlangte einfach,
daß innerhalb einer bestimmten Frist alle Juden
Christen werden müßten; wer sich weigerte, diesem
Befehl zu folgen, der sollte aus der Stadt fortgejagt
oder, was in damaliger Zeit bei solchen Gelegen-
heiten so ziemlich dasselbe war, totgeschlagen werden.
Wenn nun die Christen stets ihre Märtyrer als Heilige
verhert haben, weil sie weder durch Drohungen, noch
durch Gewalt zu bewegen waren, ihren Glauben zu
— 259 —
wechseln, so wurde es mit derselben Inkonsequenz,
die auch sonst das Dogma „ausgezeichnet", den
Juden als ein todeswürdiges Verbrechen angerechnet,
daß sie ihrem Glauben treu bleiben wollten. Jeden-
falls dachten auch 1067 in Trier die Rabbiner garnicht
daran, sich dem unberechtigten Gebot zu fügen, und
auch die strenggläubigen Juden, die dort ihres Juden-
tums wegen schon soviel zu leiden hatten und doch
ihren Glauben nicht ablegten, waren fest entschlossen,
alles zu dulden, alles zu leiden aber — Juden zu
bleiben, und wenn es schon nicht anders sein könne,
als Juden zu sterben. Der Erzbischof, der ein sehr
eifriger und jedenfalls auch ein leicht erregbarer Herr
war, hatte an einem Sabbath eine Taufe zu vollziehen,
und wie die Geschichte behauptet, starb er an einem
Schlaganfall, während er diese amtliche Handlung
ausführte. Das war, wie gesagt, an einem Sabbath,
also an dem Feiertag der Juden, die wohl zu der-
selben Stunde bei ihrem Gottesdienst versammelt sein
mochten. Der Tod des Bischofs erfolgte zu einer Zeit,
zu der die den Juden gewährte Frist fast abgelaufen
war. Das mußten also doch Indizien sein, die nicht
den leisesten Zweifel daran aufkommen ließen, daß
nur die Juden den Tod des Erzbischofs verschuldet
haben konnten. Es war gerade eine Art Notwehr,
die natürlich nur insoweit als eine Notwehr gelten
durfte, wie dieser Begriff als Beweismaterial verwendet
werden konnte, d. h. das Motiv ergab, aus dem die
Juden ihre Verbrechen beschlossen hatten.
Es wird nun, wohl als wahrheitsgemäßer Bericht
der damaligen Vorgänge, weiter erzählt, die Rabbiner
hätten in ihrer Verzweiflung über die nahebevor-
17*
— 260 —
stehende Ausweisung resp. Niedermetzelung, die sie
nicht durch eine erheuchelte Bekehrung abwenden
mochten, sich an einen Zauberer gewendet, der auch
ein Wachsbild angefertigt und auf den Namen des
Erzbischofs Eberhard feierlich getauft habe. Dieses
Wachsbild hätten die Juden am Sabbath verbrannt,
um dadurch den gefährlichen Erzbischof zu vernichten^
dem doch natürlich das geschehen mußte, was seinem
Bilde widerfuhr, wenn auch nicht gerade auf die
gleiche Weise die Vernichtung herbeigeführt wurde.
Die Wirkung sei nicht ausgeblieben, denn der plötz-
liche Tod nach einem kurzen Unwohlsein, das eben-
falls erst entstand, als die Juden das Bild anzündeten,
konnte keine andere Ursache haben als die Zauberei
der Juden, die als eine erwiesene Tatsache betrachtet
wurde und den hochwillkommenen Vorwand zu einer
Metzelei gab, die zwar ohnehin nicht ausgblieben
wäre, auf diese Weise aber noch viel gerechtfertigter
erscheinen mußte.
Man hatte diesmal also die Tätigkeit des Zauberers
bloß auf das Anfertigen und Taufen des Wachsbildes
beschränkt, jedenfalls um die Aktivität der Juden zu
steigern. Ob diese nun wirklich ein solches Wachs-
bild besessen und verbrannt haben? Wer sollte das
sagen! Die Beweisführung machte man sich außer-
ordentlich leicht; der Tod des Erzbischofs unter immer-
hin nicht alltäglichen Erscheinungen stand fest, daß
er den Juden gelegen kommen mußte, konnte nicht
bezweifelt werden, folglich hatten sie ihn herbeigeführt.
Da sie der heiligen Handlung des Erzbischofs weder
beigewohnt, noch sonst irgend eine Gelegenheit ge-
funden hatten, dem kirchlichen Würdenträger ein Gift
— 261 —
oder dergleichen direkt beizubringen, konnten sie na-
türlich nur duch Zauberei den Tod verursacht haben.
Und da gab es wieder kein bekannteres Mittel als
das Wachsbild; ergo war diese Art des Zaubers er-
wiesen. Das wäre dann wohl der übliche Verlauf
reiner solchen Sache gewesen. Möglich wäre es nun
freilich, daß die Juden, denen das Wachsbilzaubern
wohl ebenso gut bekannt war wie den Christen, sich
wirklich ein Wachsbild verschafft und es auf den
Namen des Erzbischofs hätten taufen lassen, es wäre
ferner denkbar, daß sie es verbrannt hätten, als der
Erzbischof dem Herzschlag erlag. Das wäre dann
ein Zusammentreffen gewesen, wie es im Menschen-
leben nicht allzu selten vorkommt, ohne das deshalb
ein Zauber wirksam wäre. Es ist aber, wie gesagt,
absolut nicht die Spur von einem solchen Zusammen-
treffen der einzelnen Ergebnisse erwiesen, und daß
die Juden das Bild verbrannt haben sollten, das war
auch wieder eine hübsch erfundene Auslegung, die
es den Anklägern ersparte, das Wachsbild als C o r p u s
delicti zur Stelle zu schaffen; es war eben ver-
brannt! Wie schön hätte man sonst vorgehen und
den Beweis für alle Zeiten aufbewahren können!
Etwa ein mit Nadel durchstochenes Wachsbild, das
bei den Juden gefunden worden wäre, als der Erz-
bischof eben verschieden war. Eigentlich schade, daß
das Wachsbild verbrannt war. Oder auch nicht schade,
denn daß die Juden wirklich die feigen Mörder waren,
die den von ihnen ebenso gefürchteten wie gehaßten
Erzbischof durch Zauberei ums Leben gebracht hatten,
daran zweifelte doch auch so kein „vernünftiger"
Mensch, mindestens wäre es unvernünftig gewesen,
— 262 —
die Anschuldigung nicht zu glauben, die den wunder-
vollen Grund zu blutiger Rache bot. Was man von
ganzem Herzen wünscht, das glaubt man ja stets so
gern und überredet sich so gern mit einer Eloquenz, die
einem Demosthenes zur Ehre gereicht haben würde,
es zu glauben, wenn der Verstand sich gegen diesen
Glauben sträuben will. Das letztere war aber 1067 zu
Trier wohl ebensowenig der Fall wie an allen anderen
Orten ; die Menschen waren Fanatiker, besonders wenn
die Kirche, die nicht bloß einen guten Magen, son-
dern auch ein ebenso widerstandsfähiges Gewissen
besaß, es wünschte und für vorteilhaft fand.
Daß hohe Geistliche häufig unter dem Bilder-
zauber zu leiden hatten oder doch wenigstens zu
leiden behaupteten, versteht sich von selbst. So ein
kleines Attentätchen zur rechten Zeit kann ja auch
die Popularität weltlicher Herrscher gewaltig heben
und wird, wie böse Menschen behaupten, auch zu-
weilen zur Hebung der Popularität, für die sich sonst
beim besten Willen kein Grund entdecken ließe, ver-
wendet, wie wohl auch Bühnengrößen zuweilen die
Geschichte eines bei ihnen verübten Einbruchs oder
sonst eines Unfalles ausposaunen lassen, damit die Welt
wieder einmal darauf hingewiesen wird, daß wirklich
die Berühmtheit noch lebt und beileibe nicht in Ver-
gessenheit geraten möchte. Selbst die Päpste haben
derartige Reklamen nicht verschmäht, sie sogar zu-
weilen offenbar für ganz unerläßlich notwendig ge-
halten, um ihr Ansehen, das zuweilen gefährdet war,
zu erhöhen.
Der Papst Johann XXII., nach anderer Bezeichnung
wird erst sein Nachfolger, der wegen 70 gemeiner
— 263 —
Verbrechen, wie Mord, Raub, Unzucht, Blutschande
usw. abgesetzt, dann aber begnadigt und zum Kar-
dinalbischof von Tuskoli ernannt wurde, als Jo-
hann XXII. bezeichnet, residierte zu Avignon, wurde
von den berühmtesten Ratslehrern wegen seiner völlig
unberechtigten Übergriffe in weltliche Angelegenheiten
hart bekämpft, von den Mönchen der Ketzerei be-
schuldigt und war wegen beispiellosester Gelderpres-
sungen verrufen. Dieser Edele behauptete ebenfalls,
daß ihm böse Zauberer nach dem Leben getrachtet
und von ihm Wachsbilder gefertigt hätten. Er be-
zeichnete als Übeltäter die bösen Zauberer Brabancon
und Jean d'Amant. Der letztere war ein bekannter
Arzt, und beide mögen wohl Ursache gehabt haben,
den Papst — Johann hatte 1316 den päpstlichen Stuhl
bestiegen — nicht gerade mit wohlwollenden Augen
anzusehen ; vielleicht hatte auch der Papst gegen beide
eine private Abneigung. Kurz und gut, — Johann XXII.
beschuldigte diese beiden Männer, ihm und seiner
ganzen Umgebung nach dem Leben getrachtet zu
haben. Sie sollten zunächst giftige Tränke zubereitet
und versucht haben, diese dem Papste beizubringen.
Da ihnen die schlimme Absicht aber auf keine Weise
gelungen sei, hätten sie Wachsbilder angefertigt, die
sie bezaubern wollten, um auf diese Weise dem
Papste den Garaus zu machen. In dem päpstlichen
Bericht über diese angebliche Schandtat ist sehr
salbungsvoll betont, daß Gott den Papst behütet und
drei der teuflischen Bilder in seine Hände geliefert
habe. Diese Bilder sollen schon durchbohrt gewesen
sein, so daß der Papst also schon mausetot gewesen
sein müßte, wenn es einem solchen Zauberer faktisch
- 264 —
gegeben hätte. In Wirklichkeit hat aber der Papst
das Alter von 90 Jahren erreicht, so daß man wohl
schon hieraus erkennen muß, wie wenig nachteilig
der Zauber auf ihn gewirkt hat.
Der Papst hat, vielleicht ohne es zu wissen, in
seinem Schreiben ein großes Wort gelassen, nieder-
geschrieben; er hätte damit, wenn er selbst oder die
Menschen, die es zu Gesicht bekamen, logisch zu
denken vermocht hätten, dem ganzen Zauberaber-
glauben den Todesstoß versetzen müssen. Er sagte,
daß Gott ihn behütet und die teuflischen Zauber-
bilder in seine Hände geliefert habe; er hat damit
doch klipp und klar gesagt, daß der Zauberer nicht
mächtiger sein könne als Gott, der im Gegenteil all-
mächtig und deshalb auch in der Lage sei, die Zauber-
künste eines Menschen unschädlich zu machen, mit
anderen Worten, daß ohne Gottes Willen ein Zauber
überhaupt nicht existieren, mindestens doch nicht ge-
lingen könne. Das ist doch aber gerade das strikte
Gegenteil von dem, was die Kirche — auch die pro-
testantische — bei ihren Hexenverfolgungen lehrte.
Danach wäre doch der große Gott, auf den die Kirche
schwört, in Wirklichkeit nicht mehr der Lenker und
Leiter der Welt und der Menschenschicksale, sondern
nur ein machtloser Schemen gewesen, der nicht einen
einzigen Menschen vor der Tücke eines gemeinen
und verkommenen Subjekts hätte retten können, der
erst recht machtlos zusehen mußte, wenn ein schlechter
Mensch beliebte, durch irgend einen Zauber ganze
Völker oder deren Wohlstand, den doch Gott gewollt
haben mußte, weil er ihn ihnen sonst nicht gewährt
hätte, zu vernichten. Das ist ein Moment, das an
— 265 —
sich klar beweisen muß, daß eigentlich viel weniger
der Zauber selbst eine Gotteslästerung war, als der
Glaube an den Zauber. Es ist aber das auch wieder
ein Beweis dafür, daß nichts auf der Welt so schwer
gegen die wirkliche Gottesreligion verstoßen kann als
das Nachbeten all des Blödsinns, den im Laufe der
Jahrhunderte für die wahre und wirkliche Religion
auszugeben, hirnverbrannte Menschen den traurigen
Mut besessen haben.
Was soll ich weiter eingehen auf alle die öden
Historien, in denen berichtet wird, daß Päpste die
Opfer des Bilderzaubers werden sollten oder wirklich
geworden seien? Ich will aber noch einige Große
erwähnen, die dem Bilderzauber zum Opfer gefallen
sein sollen. Katharina von Medizi wird nachgesagt,
daß sie Carl X. nach dem Leben getrachtet habe.
Sie soll sich nach dem Orient gewendet haben, dem
Heimatlande des Zaubers, um dort Hilfe zu finden,
und es soll ihr auch gelungen sein, von einem Orien-
talen ein Wachsbild Carls X. zu erhalten, mit dem
sie den Zauber ausführen konnte. Katharina ist aller-
dings historisch als eine der ränkesüchtigsten Per-
sonen bekannt; in der Erzählung ist aber doch wohl
hinsichtlich Carls X. ein historischer Schnitzer ent-
halten, auf den ich hier aber nicht ausführlicher ein-
zugehen brauche, da ich nur die Erzählung so wieder-
geben will, wie ich sie aufgezeichnet finde. Man hat
es damals offenbar nicht gewagt, gegen die ränke-
süchtige Katharina vorzugehen, sondern nur deren be-
vorzugten Günstling Cosmus Ruggieri ergriffen. Das
war im Jahre 1574. Ruggieri leugnete jede ver-
brecherische Absicht, da er aber der versuchten zauberi-
— 266 —
sehen Mordtat hinreichend verdächtig erschien, machte
man nicht viel Umstände mit ihm, schleppte ihn in
die Folterkammer und „redete" ihm dort so nach-
drücklich zu, daß er sich zu dem Geständnis be-
quemte, er habe wirklich und wahrhaftig die Zauberei
angewendet, um Carl nach dem Leben zu trachten.
Wieder kann diese Erzählung nur beweisen, daß
einmal der Aberglaube des Bilderzaubers bestand und
allgemein gehegt wurde, ferner aber auch, daß diese
Zauberkunst in Wirklichkeit eine recht harmlose und
ungefährliche Spielerei war, ungefährlich allerdings nur
für den, dem sie schaden sollte, denn für den, der
einem anderen schaden wollte oder auch nur in den
Verdacht kam, dies gewollt zu haben, war sie sehr
gefährlich. Freilich dem bekannten Jesuiten Delrio
paßte das sehr wenig. Zweck heiligt das Mittel!
Der Zauber mußte auf alle Fälle rehabilitiert werden,
denn was hätte sich wohl mit einer Zauberei großes
verrichten und anfangen lassen, die dem Fluche der
Lächerlichkeit verfallen mußte, weil sie stets wir-
kungslos blieb? Nach Delrio ist Carl lediglich ge-
storben infolge des Zaubers; gestorben ist ja aller-
dings Carl auch wirklich, aber dem braven Delrio
kam es auf den Zauber an, ergo mußte Carl ein Opfer
der Zauberei werden, und da es recht vorteilhaft
ist, gleich zwei Fliegen auf einen Schlag zu erlegen,
ließ Delrio als Täter protestantische Zauberer auf-
treten, die aus Rache für die Bartholomäusnacht die
Wachsbilder Carls geschmolzen und diesen dadurch
vernichtet haben sollten.
Nicht alle Schriftsteller besitzen den Mut und die
Unverfrorenheit eines Delrio. Wo es durchaus nicht
- 267 —
gehen will, daß der gefährdete Herrscher wirklich als
Opfer der Zauberei bezeichnet wird, da findet sich zur
Not auch ein anderer Ausweg, der das Ansehen der
Zauberkunst nicht so schwer gefährdet, den Bedrohten
aber am Leben lassen darf. So wird von dem alten
schottischen Könige Duffo berichtet, daß er einst sehr
krank gewesen sei. Man habe sich aber über die Natur
des Leidens zunächst den Kopf zerbrochen, dann aber
entdeckt, daß einige Zauberer ihr Wesen getrieben
hatten. Diese böse Herren wollten das Lebenslicht
des Königs durchaus verlöschen und hatten deshalb
ihre behexten Wachsbilder bei einer Feuersbrunst mit
verbrennen lassen. Sie wurden ergriffen und legten
das Geständnis ab — man wird wohl genügend nach-
geholfen haben, — daß sie durch ihre Zauberei das
Leiden des Königs herbeigeführt hätten, und daß dieser
Erfolg von ihnen auch beabsichtigt gewesen sei.
Die Festnahme der Zauberer war in diesem Falle
das Radikalmittel für die Herstellung des Königs, der
von Stund an wieder gesund wurde. Demnach müßte
also der Zauber, der doch längst vollendet war und
auch schon so wunderbar wirkte, durch die nach-
trägliche Festnahme der Übeltäter wieder aufgehoben
worden sein. Das wäre dann bei der Geschichte eigent-
lich das Wunderbarste gewesen; es zeigt aber, auf
welche Auswege der menschliche Geist verfiel, wenn
es galt, die Ehre der Zauberei, die man bekämpfen
wollte, wiederherzustellen.
Auch gegen Ludwig X. war ein Envoutement be-
gangen worden. Der Schatzmeister Enguerrando de
Marigny war beschuldigt, die Ermordung des Königs
durch Zauberei betrieben zu haben und gestand auch
— 268 —
zu, daß er das Bildnis des Königs hergestellt und die
Zauberei begangen habe. Er wurde zum Tode ver-
urteilt und auch hingerichtet. Wieder ein Fall, in dem
nur der Zauberer selbst den Schaden von seiner Kunst
hatte. Dem König hat die Sache nichts geschadet,
was freilich nicht dazu führte, daß man Zweifel in
die Wirksamkeit der Zauberei gesetzt hätte.
Verhältnismäßig günstiger schnitt ein anderer
Zauberer ab, der 1331 nur aus dem Lande gewiesen
wurde, allerdings nachdem man alle seine Güter an-
nektiert hatte. Dieser Frevler sollte den König, die
Königin und außerdem noch den Herzog von der Nor-
mandie verzaubert haben, erfreulicherweise wieder
ohne den mindesten Schaden anzurichten.
Ich will es mit dieser Reihe von Beispielen be-
wenden lassen und nur noch des armen Hyacinthus
Continus gedenken, der den Feuertod erleiden mußte,
weil er beschuldigt war, den Papst durch den Bilder-
zauber haben töten zu wollen, damit sein Onkel, der
es bis zur Würde eines Kardinals gebracht hatte, auch
noch die höchste Stufe der Oottähnlichkeit erklimmen
und den Stuhl Petri besteigen könnte. Daß dieser Weg
nur über einen Mord führen konnte, das änderte ja
glücklicherweise an der Heiligkeit des Amtes nichts.
Auch in diesem Falle hat dem Papste die Zauberei
nichts geschadet. Der Onkel des Hyacinthus Continus
blieb Kardinal; aber Continus wurde verbrannt. Das
Märchen vom Bilderzauber aber lebte weiter und hat
eine Lebensfähigkeit bewiesen, die nichts umzubringen
vermochte; ja, man müßte das Märchen sogar für eine
wirkliche und unumstößliche Wahrheit halten, wenn es
richtig wäre, daß ein Glaube, der sich Jahrhunderte
— 269 —
oder vielleicht Jahrtausende zu erhalten vermag, schon
durch dieses Alter seine völlige Berechtigung zu er-
weisen vermöge.
Gerade das letztere Argument ist in der Tat von
sonst recht vernünftigen Leuten zu gunsten des Mär-
chens angeführt worden. Man hat immer wieder ge-
sagt, es sei doch unmöglich, daß die Menschheit solche
Ewigkeit in einem Wahne befangen bleibe, wenn nicht
doch an der Sache etwas Wahres sei. So dumm, etwas
weiterzuglauben, was sich in jedem einzelnen Falle
als ein lächerlicher Humbug entlarvt habe, sei die
Menschheit denn doch nicht.
Nun, ich habe mir große Mühe gegeben, an den
von mir gewählten Beispielen zu zeigen, ob dieses
Argument begründet ist. Ich würde es gern dem alten
Abraham gleichtun, der zum Herrn sagte, als Sodoms
Untergang beschlossen war: „Man möchte vielleicht
zehn Gerechte drinnen (in Sodom) finden!" Ich
würde noch weiter gehen und sagen: „Finde ich nur
einen einzigen erwiesenen Fall des Bildzaubers; ich
will diesen Wahn nicht verwerfen um des einzigen
Falles!" Es ist mir aber leider nicht gelungen, auch
nur einen einzigen Fall zu entdecken, in dem der
Zauber als wirksam wirklich bewiesen worden wäre.
Nicht einen unter tausenden! Und da muß man sich
trotz alledem immer wieder fragen, wie es möglich
sei, daß dieser Aberglaube nicht allein den Jahr-
tausenden getrotzt, sondern sich auch über die ganze
Welt verbreitet haben konnte. Ovid und Horaz
schreiben über den Bilderzauber, nicht gerade als
überzeugte Gläubige, Horaz sogar in Satyre, aber das
Wunder ist, daß selbst bei der Entdeckung Amerikas
— 270 —
dort auch der Bilderzauber bereits entdeckt und ge-
funden worden sein soll. Wenn man annimmt, daß
der Orient die eigentliche Heimat dieses sonderbaren
Zaubers ist, so kann man wohl ohne weiteres verstehen,
daß bei dem nun einmal bestehenden Hang zum
Mystizismus, bei der Neigung, überall geheimnisvolle
Kräfte wirkend zu wähnen und an die übernatürliche
Gewalt einzelnen Personen zu glauben, dieser Aber-
glaube sich schnell ins Abendland fortpflanzte. Wie
aber konnte der Wahn sich bis nach Amerika über-
tragen? Es ist eine direkte Übertragung von der
alten Welt nach der neuen völlig ausgeschlossen, da
man die neue ja zum ersten Male betrat, und eine
Gedankenübertragung über das Weltmeer in unbe-
kannte Welten, deren Dasein niemand ahnte, wird
wohl selbst denen als eine gewagte Erklärung er-
scheinen, die an sich Gedankenübertragungen als eine
über jeden Zweifel festgestellte wissenschaftliche Tat-
sache betrachten. Es müßten denn schon die Ge-
danken ähnlich wie bei der drahtlosen Telegraphie
die elektrischen Wellen überall frei in den Welten-
raum ausstrahlen. Selbst wenn man ein solches
geistiges Fluidum aber auch annehmen wollte, so würde
das noch nichts beweisen. Auch die drahtlose Tele-
graphie, die wirklich frei ausstrahlenden elektrischen
Wellen, haben nur dann einen Wert, wenn sie von
einem dem Abgabeapparat äquivalent abgestimmten
Empfangsapparat aufgefangen werden. Ich meine, daß
— um voll im Bilde zu bleiben — dieser äquivalent
abgestimmte Empfangsapparat jenseits des großen
Wassers nicht vorhanden war, und daß, wäre er vor-
handen gewesen, — sich doch wahrhaftig nicht nur
— 271 —
diese eine Idee den Weg bis zu unseren Antipoden ge-
bahnt haben würde, sondern, daß auf der bequemen
und einmal entdeckten Gedankenstraße doch wohl erst
recht die bedeutenderen und großartigeren Ideen ver-
breitet sein würden, Ideen, die weltbewegende Be-
deutungen gehabt haben, nicht die eine Idee, daß man
durch Mißhandlung eines Wachsbildes eine lebende
Person schädigen oder vernichten könne. Die Einge-
borenen Amerikas haben aber keine Ahnung von den
großen Gedanken gehabt, die die alte Welt bewegten;
sie haben nicht einmal das Schießpulver und die Feuer-
waffen gekannt und deshalb die Europäer, die Blitz
und Donner gebieten konnten, für Götter gehalten.
Wahrlich schöne Götter, die sich benahmen, daß der
leibhaftige Teufel sich bis in die tiefste Tiefe seiner
schwarzen Seele hinein geschämt hätte, wenn das
seine offiziellen Diener gewesen wären.
Sehr richtig, sagen vielleicht einige Spiritisten, es
ist keine Gedankenübertragung im Spiele, sondern es
handelt sich um Inspirationen inferiorer Intelligenzen.
Das klingt bedeutungsvoll. Die auf einer niedrigen
Stufe stehenden Geister, die quasi zum Schabernack
der Menschheit die Idee des Bilderzaubers eingeblasen
haben, sind eine vortreffliche Erklärung, wenn man
einmal die spiritischen oder meinetwegen die spiritua-
listischen Gedanken als Wahrheiten gelten läßt, auch
in ihren weitesten Ausdehnungen, wobei man sich dann
freilich wieder darüber wundern müßte, daß weder
gute noch böse Geister der Menschheit Dinge ein-
blasen, die offenbar ganz bedeutend wichtiger wären
als ein Unsinn, der doch wahrlich weder im guten,
noch im schlechten Sinne eine erhebliche Bedeutung
- 272 —
haben kann. Es ist übrigens auch eine den logisch
Denkenden peinlichst verletzende Willkür, die jedes
Streben nach Wahrheit und Erkenntnis ersticken müßte,
anzunehmen, daß der menschliche Geist nach Be-
lieben quasi ausgeschaltet, statt dessen aber im Men-
schen irgend ein „Geist" spuken und seine Ideen unter
falscher Flagge der Menschheit aufoktroieren sollte.
Was sind denn alle Erfinder, wenn sie sich bloß mit
fremden Federn schmücken, d. h. sich der Ideen irgend
einer unbekannten Intelligenz rühmen sollten, die in
ihnen tätig war, während sie selbst schliefen? Lassen
wir das also.
Viel einfacher würde die Erklärung sein, daß ganz
unabhängig von einander die Bewohner zweier Welt-
teile auf den gleichen Gedanken gekommen seien, wie
dies absolut nicht so selten vorkommt, auch ohne
daß fremde „Intelligenzen" die Welt beglücken, auch
ohne daß von einer Gedankenübertragung die Rede
sein könnte. Man müßte dann natürlich einen in-
stinktiven Hang zum Mysteriösen als bei allen Men-
schen vorhanden annehmen. Tut man dies, so be-
geht man keinen Irrtum, denn dieser Hang ist tat-
sächlich tief in eines jedem Menschen Herzen aus-
geprägt, weil sich nach den sinnlichen Wahrnehmungen
die Erkenntnis aufdrängt, daß es doch noch eine große
Anzahl geheimnisvoll waltender Naturkräfte rings um
uns gibt, für die wir keine Erklärung finden können,
die wir als aufgeklärte Menschen selbstverständlich
nicht für übernatürlich halten dürfen, die wir aber
noch nicht ergründet haben, und die uns, selbst wenn
wir einen Schritt vorwärts tun in der Erkenntnis, wie
bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen, des Radiums,
— 273 —
der drahtlosen Telegraphie usw., doch als Wunder
anmuten. Wir sehen eine Kraft, wir sehen eine Wir-
kung und wissen doch nicht „von wannen sie kommen,
wohin sie gehen." Warum soll der gleiche Hang
zum Mysteriösen nicht zu dem gleichen Gedanken
führen können, wenn der Weg über die Götterbilder,
die man statt der Gottheit verehrt — übrigens eben-
falls eine unabhängig von allen Völkern entwickelte
Institution — so nahe liegt?
Nun läßt sich wohl nicht bestreiten, daß diese
Erklärung sehr einfach und ungezwungen ist; es gibt
aber gleichwohl eine noch bedeutend einfachere. Als
Amerika entdeckt wurde, stand der Bilderaberglaube
in der ganzen alten Welt bereits in der üppigsten
Blüte, ja er hatte sozusagen längst die kirchliche Weihe
erhalten und galt deshalb natürlich auch bei den „sehr
frommen" Eroberern als eine Art Dogma. Ist es da
nicht außerordentlich naheliegend, daß die Europäer
den Bilderzauber im neuentdeckten Wunderlande tat-
sächlich überhaupt nicht vorgefunden, sondern ihn
lediglich vermutet haben, da sie die Gebräuche des
Landes nicht kannten und das, was sie erblickten,
deshalb ganz falsch auslegten, weil sie es einfach nach
ihren eigenen Gebräuchen und Ansichten bewerteten?
Das erscheint mir in der Tat als die einfachste Lö-
sung der Frage. Es ist bekannt, daß die Einwohner
des neuen Weltteils, soweit sie zuerst mit den Euro-
päern in Berührung kamen und dabei einen sehr
sonderbaren Eindruck „höherer Kultur" erhielten,
selbst auf einer sehr hohen Kulturstufe standen, daß
sie besonders in der Baukunst und nicht minder in
der Goldschmiedekunst erfahren waren. Sie stellten
18
— 274 —
sich nicht bloß ihre großen Götterbilder aus edlen
Metallen her, sondern fertigten auch kleine Gott-
heiten aus Gold usw. an, die dem Hausgebrauch
dienten. Da ist es wohl sehr naheliegend, daß diese
Götterbilder nicht als das, was sie wirklich waren,
sondern als Zauberbilder angesehen wurden. Dazu
kam noch, daß es die „frommen Eroberer" recht
günstig fanden, die Eingeborenen als eine Art Teufels-
knechte bezeichnen zu dürfen. Die Zauberei, besonders
die Bilderzauberei war ihnen als wüste Ketzerei ver-
schrieen, sie war ein todeswürdiges Verbrechen; da
kam es doch den Eroberern eigentlich ganz gelegen,
wenn sie die Eingeborenen auch nach dieser Richtung
hin etwas anschwärzen konnten. Das entschuldigte
vielleicht eher das gemeine und perfide Niedermetzeln
der friedfertigen und gegen die Waffen der Europäer
geradezu wehrlosen Bevölkerung.
Man könnte hier vielleicht den Einwand erheben,
daß ich mir die Sache gar zu leicht mache und bloße
Vermutungen als Widerlegung hinstellen möchte, oder
daß einfache Zweifel schon als Widerlegung von Be-
richten gelten sollten. Ich möchte aber darauf hin-
weisen, daß die Sache gerade umgekehrt liegt. Es
wird doch so oft die Realität des Bilderzaubers daraus
geschlossen, daß dieser über die ganze Welt verbreitet
gewesen sei. Dieses Argument stützt sich auf eine
Annahme, die in keiner Weise erwiesen ist Ich meine
deshalb, daß es doch wohl lohnt, die Quellen, aus
denen das angebliche Beweismaterial fließt, etwas ge-
nauer zu prüfen, und daß, wenn man dies tut, auch
nicht der geringste Beweis dafür vorliegt, daß wirk-
lich den Eingeborenen Amerikas auch nur das ge-
— 275 —
ringste Detail eines Bilderzaubers bekannt gewesen sei.
Wenn man sagt, es stehe fest, daß im alten
Ägypten und in Assyrien dieser Zauber bekannt und
verbreitet gewesen sei, so ist damit lediglich das be-
stätigt, was ohnehin schon feststeht, daß nämlich die
Magie mit Bildwerken aus dem alten Orient stammt.
Nun hat auch der Oberst de Rochas, Direktor der
technischen Hochschule in Paris, sich vielfach mit dem
Phänomen beschäftigt und zunächst berichtet, daß auch
in China und bei den Eingeborenen der französischen
Antillen der Zauber mit den Bildnissen bekannt sei.
Vorausgesetzt, daß diese Mitteilung buchstäblich wahr
ist, daß sie nicht auf einer falschen Deutung irgend
eines Brauches beruht, ist auch damit nicht viel ge-
sagt, denn der Weg der Ausbreitung dieser Magie
des Orients schimmert hier klar erkennbar hindurch.
Abgesehen davon, ist es aber noch sehr die Frage,
ob gerade de Rochas der objektive Beobachter ist,
■der berufen erscheinen könnte, eine solche psycho-
logisch doch immerhin hochinteressante Frage zu
lösen. Mir erscheint der Mann viel eher als Partei,
d. h. als ein Mann, der nicht über der Sache steht,
sondern der unmittelbar für das Wunder eintritt, es
freilich nicht als Zauberei gelten lassen will, dafür
aber eine andere Erklärung gibt, über die sich nicht
weniger streiten läßt. De Rochas meint nämlich, daß
es möglich und ihm tatsächlich gelungen sei, die Sen-
sibilität bei gewissen hypnotisierten Personen exteriori-
sieren zu können. Er will mit anderen Worten die
Sensibilität einer Person aus dieser herauslocken und
in einen andern Gegenstand laden können. Nimmt
er als solchen Gegenstand z. B. ein Bild der betreffen-
18*
— 276 —
den Person, so würde diese genau an derselben Stelle,
an der er das Bild berühre, die Berührung fühlen.
Selbst wenn de Rochas das mit der Sensibilität der
Person geladene Bild mit der Nadel steche, so fühle
die Person selbst an genau derselben Stelle ihres
Körpers deutlich den Nadelstich und greife unwill-
kürlich mit der Hand nach der schmerzenden Stelle.
Das Experiment soll in der Weise vorgenommen
worden sein, daß die Person den Experimentierenden
während des Versuchs nicht einmal sehen, geschweige
denn bemerken konnte, was er tue, oder daß er etwas
mit ihrem Bilde tue. Vorausgegangen war allerdings
eine Hypnose. Man wird trotzdem auf des Meisters
Worte nicht schwören dürfen.
Daß es sich, wenn man wirklich jede Silbe in
diesem Bericht für ein Evangelium halten und jede
„Nebenwirkung" ausschalten wollte, doch immer nur
um ein hypnotisches Experiment, allerdings um ein
mehr als wunderbares, handeln würde, kann garnicht
in Abrede gestellt werden. Dann ist aber auch keine
Erklärung für den Zauber gegeben, der doch in allen
Fällen wirken müßte, ohne daß der Bezauberte hyp-
notisiert werden, und ohne daß man vorher seine
Sensibilität sozusagen auf Flaschen füllen und zu be-
liebiger Verwendung getrost nach Hause tragen konnte
wie etwas, das man schwarz auf weiß besitzt. Es
ist ausgeschlossen, daß die „Zauberer" älterer Zeit
nach der Methode des Herrn de Rochas gearbeitet
haben sollten. Ob etwa im Orient, als die Kaste der
medischen Magier noch mit Eifer das große Geheim-
nis der Naturkräfte, auf dem ihre Kunst basierte,
hüteten, etwas von Hypnose verstanden, wage ich nicht
— 277 —
zu entscheiden, halte es aber auch nicht für unmög-
lich, da, wie ich schon weiter oben ausgeführt habe,
doch auch die Gaukler des Orients noch heutigen Tages
Künste vollbringen, die selbst der mit allen Natur-
wissenschaften Vertrauteste nicht zu erklären vermag.
Dabei ist zu betonen, daß die heutigen Magier des
Orients auf keiner wissenschaftlich höheren Stufe stehen
als ihre Kollegen im grauen Altertum, daß aber die
Kenntnisse, die ihnen die Ausführung ihrer Künste
gestatten, in der Tat uralte Geheimnisse sind, die
sich von Generation zu Generation vererben. Trotz-
dem fällt es schwer, hier an eine Hypnose zu glauben.
Vielleicht wäre an Suggestion zu denken, die be-
kanntlich die moderne .Wissenschaft in das große Ge-
biet der hypnotischen Erscheinungen einrechnet. Es
ist da allerdings bei dem Bilderzauber wohl nicht viel
mit der Suggestion zu machen. Immerhin ist aber an-
zunehmen, daß im alten Orient schon etwas ange-
wendet wurde, was man wohl Suggestion nennen kann.
Faßt man den Begriff nicht pedantisch eng, dann spielt
im Liebesleben die Suggestion überhaupt eine erheb-
liche Rolle, und sie hat dort auch das dankbarste Feld.
Schon das Ansehen der alten Magier wirkte unbe-
dingt suggestiv, und das Nestelknüpfen, das doch eben-
falls aus dem Orient stammt, ebenso die Liebestränke
und ähnliche Dinge, durch die man im Liebesleben
bestimmte Absichten zu erreichen suchte, konnten nur
wirken, wenn die Suggestion eine Rolle spielte, meinet-
wegen die Autosuggestion, die ja selbst in der medi-
zinischen Praxis — ich möchte sagen — unbewußt
und ungekannt verwendet wurde. Bereits Plato hat
auf die Gefahren des Nestelknüpfens, d. i. ein Ver-
— 278 —
fahren, durch welches Liebende, besonders junge Ehe-
leute, impotent gemacht wurden, hingewiesen. Es
ist jetzt wohl schon lange kein Geheimnis mehr, daß
die Impotenz, sofern sie nicht auf einer organischen
Anomalie basiert, meist auf Suggestion oder richtiger
Autosuggestion beruht. Die Vorstellung, daß der
sexuelle Akt nicht gelingen werde, der infolge dieser
Vorstellung entstandene Mangel an Selbstvertrauen be-
wirkt in der Tat sehr häufig wirklich das Mißlingen,
die temporäre Impotenz. Schon ehe die Suggestion
als solche bekannt war, wurde in der Medizin von
erfahrenen Ärzten das Übel lediglich dadurch gehoben,
daß durch Verabreichung völlig indifferenter Mittel
der Leidende in den Glauben versetzt wurde, er mache
eine Kur durch, die unter allen Umständen in kürzester
Zeit das Übel beseitigen müsse. Das schaffte das
Selbstvertrauen und mit ihm die alte Kraft zurück.
Kein Wunder, daß Leute, die sich behext wußten, wirk-
lich impotent waren, sofern sie halbwegs sensitive Na-
turen waren, sehr verständlich aber auch, daß es den
Hexen so leicht wurde, den Bann zu brechen. Es war
das nichts als die Suggestion, die den „Behexten" so-
fort das Selbstvertrauen zurückgab. Hier war also keine
Hexerei im Spiele, aber da man an sie glaubte und
sich den Vorgang nicht anders zu denken wußte,
haben wir hier vielleicht den besten Schlüssel zu dem
Rätsel, warum sich der Glaube an Zauberkünste auf
dem Gebiete des Liebeslebens so lange halten konnte.
Die Prostitution.
„Qui proficit in artibus et deficit in
moribus, plus deficit, quam proficit." Es
läßt sich wohl kaum ein passenderer Ausspruch an
die Spitze dieses Kapitels stellen. Wer an Wissen
zunimmt, an seinen Sitten aber einbüßt, der hat in
Wirklichkeit mehr verloren als gewonnen. Gewiß, man
ist wenig geneigt, das heutigen Tages noch gelten
zu lassen, weil jetzt Moral und Tugend weit weniger
hoch im Kurse stehen als das Wissen. Wissen macht
frei. Man ist nun soweit gegangen, zu behaupten,
die Unsittlichkeit mache auch frei, weil jeder, der un-
sittlich lebe, sich frei mache von den kleinlichen, die
persönliche Freiheit einschränkenden Anschauungen
und Vorurteilen rückständiger Herdenmenschen. Ein
verhängnisvoller Irrtum, denn wer auf diese Weise
„frei" zu werden glaubt, der wird bald genug merken,
daß er in die schwerste Sklaverei gesunken ist, aus
der es kaum eine Rettung gibt, in die Sklaverei
seiner Leidenschaften. Es geht da ähnlich wie mit
dem Menschen, der mit Leib und Seele an seinem
Besitztum hängt und mit Stolz sagt: „Das alles ge-
hört mir!" In Wirklichkeit ist es aber umgekehrt,
denn der Mann gehört allen den schönen Sachen,
ohne die er nicht leben kann. Nein, Unsittlichkeit
— 280 —
macht nicht frei wie das Wissen, und da auch das
Wissen einen Sklaven der Leidenschaften nicht von
diesen frei macht, ist es richtig, daß der mehr ver-
loren als gewonnen hat, der in Kunst und Wissen-
schaft zunimmt, an seinem sittlichen Halt aber Verlust
erleidet.
Sehen wir uns nun einmal die Prostitution des
alten Orients etwas näher an. Man sagt, das Laster
habe stets dieselben Ursachen; auf der einen Seite
Genußsucht und Sinnlichkeit, auf der anderen Armut
und mangelhafte Erziehung. Ich möchte vorweg be-
haupten, daß diese Annahme durchaus nicht zutrifft.
Sie mag für unsere heutige Prostitution passen, ob-
wohl sie auch da nicht als ein Evangelium betrachtet
werden darf, weil in Wirklichkeit die Prostitution von
Fall zu Fall geprüft werden muß, wobei sich sehr
oft herausstellen wird, daß wesentlich andere Fak-
toren in Frage kommen. Für den alten Orient aber
und zum großen Teile auch noch für heutige orien-
talische Verhältnisse trifft der verallgemeinernde Aus-
spruch durchaus nicht zu.
Schon über die prinzipiellsten Ansichten herrschen
die erheblichsten Widersprüche und Gegensätze. Für
uns gilt die Prostituierte als eine verabscheuenswürdige
Person, die zu benutzen „dulce" ist, die aber im
übrigen als so verächtlich gilt, daß es gegen die Ehre
verstößt, mit ihr bloß in Berührung zu kommen. Es
ist das eine Folge unserer Doppelmoral. Nicht so
im Orient, wo man über das Liebesleben anders,
besser oder schlechter, je nach dem Standpunkt, auf
den sich der Beurteiler stellt, jedenfalls aber natür-
licher oder doch wenigstens logischer denkt und von
— 281 —
jeher dachte. Wir sind ja nicht einmal in dem, was
wir für eine Prostituierte halten, konsequent; der
Orientale ist das weit mehr. Ich will hier nur an
das Maitressenwesen erinnern, zunächst aber nicht
weiter darauf eingehen, da ich bei meinen weiteren
Ausführungen ohnehin noch Veranlassung nehmen
muß, Vergleiche zwischen Orient und Abendland ge-
nauer zu kommentieren.
Wie alt die Prostitution ist? Diese Frage präzis
zu beantworten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Man
würde, um solche Antwort überhaupt geben zu können,
sich vorher genau darüber einigen müssen, was man
unter Prostitution zu verstehen habe. Schon das er-
scheint dem Durchschnittsleser jedenfalls als eine recht
überflüssige und kaum zu rechtfertigende Pedanterie,
da doch jeder Mensch wisse, was Prostitution sei!
Pardon; gerade eine solche Ansicht ist bedenklich;
sie verhütet die bessere Erkenntnis, weil sie das
weitere Nachdenken verhütet, und das ist gegenüber
der Prostitution so bitter notwendig, denn es gibt
auf diesem Gebiete tatsächlich so subtile Übergänge,
daß man wirklich die Grenze zwischen der Prostitution
und der „intimen Liebschaft" kaum oder überhaupt
nicht zu entdecken vermag. Man kann die strafrecht-
liche Definition der gewerbsmäßigen Unzucht für das
praktische Leben nicht so ohne weiteres gelten lassen,
sie wenigstens nicht als die allein seligmachende be-
trachten. Wenn man das aber auch wollte, würde
man doch nicht zum Ziele gelangen, weil dabei das,
was man als gewerbsmäßig zu betrachten hat, auch
wieder Auslegungssache ist. Schon im Altertume ist
es wohl Sitte gewesen, ein weibliches Wesen durch
— 282 —
Geschenke seinen Wünschen geneigter zu machen,
denn überall ging es doch nicht zu wie bei den
Mastageten, von denen ich in einem früheren Kapitel
mitgeteilt habe, daß bei ihnen der sexuelle Verkehr
sich ohne jede Schwierigkeit und ohne jede be-
sondere Formalität abspielte, es fehlte dabei das, was
man das einleitende Verfahren nennen darf. Es be-
darf keiner besonderen Interpretationskunst, den Be-
griff der gewerbsmäßigen Unzucht so weit auszu-
dehnen, daß einfach jeder sexuelle Verkehr, zu dem
ein Mädchen durch Gaben, die einen Erwerb darstellen
können — das trifft ja eigentlich stets zu, als gewerbs-
mäßige Unzucht erscheinen muß, besonders wenn sich
die Sache wiederholt, so daß die Geschenke schon
für den Lebensunterhalt von Erheblichkeit sind. Wir
sprechen nun allerdings selbst da, wo ein weibliches
Wesen von einem Manne völlig erhalten wird und
als Gegenleistung sich selbst gibt, nicht von einer Pro-
stitution, nehmen diese aber an, wenn das liederliche
Leben nur ab und zu kleinere „Aushilfen" einbringt.
Das zeigt am besten, wie schwer es ist, klar zu defi-
nieren, denn es versteht sich doch von selbst, daß ich
hier nur den großen Rahmen gezeichnet habe, inner-
halb dessen sich zahllose Abstufungen finden lassen,
ohne daß man erst nötig hätte, sie mit dem Mikros-
kop aufzusuchen.
Man kann auch nicht, wie es die Päpste taten,
willkürlich eine bestimmte Anzahl von Männern an-
nehmen, mit denen das Weib sexuellen Verkehr unter-
halten haben müsse, ehe man berechtigt sei, von einer
Prostitution zu reden. Ich meine vielmehr, daß es
schon der rein sprachlichen Bedeutung des Wortes
— 283 —
Gewalt antun hieße, wollte man überhaupt einen Plural
von Liebhabern verlangen. Mit Begriffen zu jonglieren,
ist eine Kunst, die jetzt allerdings zu gedeihlicher Höhe
gefördert worden ist, aber sicherlich sehr wenig dazu
beitragen kann, eine Frage zu lösen.
Ich bin nun wirklich nicht in der Lage, zu sagen,
seit wann es eine Prostitution gibt, möchte aber wohl
behaupten, daß sie nicht viel jünger sein kann als das
Menschengeschlecht. Nur darf man nicht nach heu-
tigen Anschauungen urteilen wollen, und vor allen
Dingen darf man nicht etwa deduzieren wollen, daß
es eine Prostitution erst in dem Augenblick gegeben
haben könne, in dem die Menschen sich über diesen
Begriff klar geworden seien, in dem sie das Verwerf-
liche einer solchen Hingabe erkannt hätten, denn unter
dieser Voraussetzung gäbe es an vielen Orten des
Orients heute noch keine Prostitution, hätte es nie-
mals eine geben können. Und doch berichtet uns
schon die Bibel von einer solchen, und dennoch ist die
Prostitution in manchen orientalischen Ländern auf
das höchste entwickelt, wenn es auch den Weibern an
ihrer Ehre nicht den mindesten Abbruch tat, dieses
Gewerbe betrieben zu haben, ja wenn die Prostitution
niemals die Prostituierte hindert, jede Minute in das
bürgerliche Leben zurückzukehren und alle die Ehre
in Anspruch zu nehmen, die jede andere „anständig"
gebliebene Frauensperson auch genießt.
Auch das Alte Testament erzählt uns zu Zeiten,
in denen von einem geordneten Gemeinwesen noch
kaum die Rede sein konnte, schon von Prostituierten
und läßt keinen Zweifel darüber, daß nach altorien-
talischer Auffassung auch diese Personen nicht miß-
— 284 —
achtet gewesen sein können. Davon, daß sie etwa
rechtlos und ehrlos gewesen wären wie die fahrenden
Weiber und die, die sich zu eigen gaben, im alten
Deutschen Rechte, steht keine Andeutung da; man
muß vielmehr unbedingt aus allen den Erzählungen
das Gegenteil schließen. Ich bin sicherlich der Letzte,
der die Bibel als Quelle für ein Loblied der Meretrices
benutzen wollte, aber ich darf mich auf sie wohl als
eine historische Bestätigung dafür berufen, daß in der
Tat der Orient über das Gewerbe einer Prostibula
wesentlich anders dachte als unsere Zeit, und ich freue
mich, zugleich dabei feststellen zu können, daß die
Bibel, die so viel angefeindet und, was noch mehr
sagen will — angezweifelt wird, daß man schon für
einen Banausen gilt, wenn man sich überhaupt auf
sie beruft, selbst das Milieu für ihre Erzählungen
korrekt und richtig zu malen weiß. Ich will mich
hier nur auf zwei Beispiele berufen: die Erzählung
des listigen Zwanges, durch den Thamar verstand,
sich ihr uns allerdings unverständliches Recht zu
sichern und zweitens die Geschichte der Kundschafter
in Jericho. Sie wußte, daß ihr Schwiegervater Juda
des Weges gen Timmath ziehen würde, verkleidete
sich als Meretrix und lockte ihn an sich. Schon der
Umstand, daß sie einen solchen Plan fassen konnte,
darf als Beweis dafür gelten, das dieses Gewerbe nicht
allein nicht Abscheu erweckte, sondern daß auch sehr
würdige und hochbetagte Männer nichts darin fanden,
sich zu einem solchen Weibe zu gesellen. Thamar
hätte sonst nicht darauf rechnen dürfen, daß der alte
Juda sich mit ihr abgeben würde, weil sie sich als
eine Hure verkleidet hatte. Der Plan erwies sich aber
— 285 —
als durchaus frei von jedem Rechenfehler. Juda gesellte
sich wirklich zu ihr, und der Verkehr blieb nicht ohne
Folgen. Thamar hatte sich als Lohn ihres Dienstes
einen Ziegenbock versprechen und zur Sicherheit
dafür, daß sie diesen auch wirklich erhielt, ein Pfand
geben lassen. Juda war ein ehrlicher Mann, der sein
Versprechen halten wollte; deshalb schickte er seinen
Freund Adullam aus, der das Pfand einlösen sollte,
dies aber nicht konnte, da Thamar nach dem Abenteuer
ihre Verkleidung abgelegt und ihre Witwentracht
wieder angezogen hatte. Die ganze Geschichte war
von Niemandem bemerkt worden; deshalb konnte
Adullam auch nur erfahren, daß überhaupt keine Hure
in der Gegend gewesen sei. Er berichtete das dem
Juda, der antwortete: Sie mags behalten (das Pfand);
sie kann uns doch nicht Schande nachsagen, denn ich
habe den Bock gesandt, nur hast du sie nicht gefunden.
Man darf diese Worte nicht mißverstehen. Sie
wollten nicht etwa besagen, daß es als eine Schande
für den alten Mann hätte gelten können, sich mit der
ersten besten Prostituierten, die er am Wege fand,
eingelassen zu haben, sondern die Schande hätte nur
darin bestehen können, daß er den vereinbarten Lohn
nicht gezahlt habe. Das also beweist doch wieder,
daß die Prostituierten keineswegs rechtlos waren,
sondern darauf rechnen durften, daß ihnen das, was
ihnen für ihr Entgegenkommen als Lohn versprochen
worden war, auch unter allen Umständen als ein
ehrlich verdientes Äquivalent zugebilligt werden mußte.
Das ist aber schon ein Beweis dafür, daß man diese
Geschöpfe nicht blos zur augenblicklichen Befriedigung
seiner Lüste ausnutzen durfte, sondern daß das Ver-
— 286 —
hältnis als ein reines Rechtsverhältnis anerkannt
wurde.
Nun kommt allerdings ein weiteres Moment in
die Erzählung. Als Juda schließlich hört, daß seine
Schwiegertochter Thamar durch Hurerei schwanger
geworden war, verlangte er, daß sie vor ihn geführt
werde, damit er sie verbrennen lassen könne. Das
sieht wohl auf den ersten Blick so aus, als ob die
Prostitution als ein so schweres Laster verabscheut
worden sei, daß darauf die grausame Strafe des Ver-
brennens angedroht gewesen sei. Dieser Schein kann
freilich, wie gesagt, nur auf den ersten oberflächlichen
Blick erweckt werden. Wäre er begründet, dann
hätte Juda nicht die Schande, die ihm unbekannte
Meretrix nicht bezahlt zu haben, fürchten müssen,
denn die Dirne wäre ja dem Feuertode verfallen
gewesen, wenn sie ihr Tun zugegeben hätte. Das
Verbrechen hätte vielmehr nur darin bestanden, daß
Thamar als Witwe — sie war die Schwiegertochter
des Juda — nicht das einer Ledigen erlaubte und eine
Ledige nicht schändende Gewerbe einer Prostituierten
betreiben durfte.
Das zweite Beispiel betrifft die Rahab in Jericho,
die direkt als Hure, also als Prostituierte bezeichnet
wird. In deren Haus kamen die Kundschafter, die Josua
nach Jericho gesendet hatte, damit sie eine Gelegen-
heit ausfindig machen sollten, die es den Kindern
Israel gestattete, diese Stadt zu erobern. Der Besuch
bei der Rahab war nicht unbemerkt geblieben. Der
König selbst schickte zu dem Weibe und ließ um die
Herausgabe der fremden Männer bitten. Wäre die
Prostitution damals in Jericho, wo sie übrigens stark
— 287 —
verbreitet war, für ein großes Übel gehalten worden,
so würde der König wohl keine Umstände mit dieser
Person gemacht haben; er tat es aber und tat es mit
demselben Respekt, den er dem besten seiner Unter-
tanen erwiesen haben würde. Rahab war also der
Meinung, daß gegen die Kinder Israel, die schon so
wunderbar aus den schwierigsten Lagen befreit worden
waren, doch nicht zu kämpfen sei, daß ihnen viel-
mehr auch bei einem Unternehmen gegen die Stadt
das Glück, das sie durch große Wunder bisher
begünstigt hatte, wohl treu bleiben werde. Deshalb
beschützte sie die beiden Israeliten, versteckte sie in
ihrem Hause und erklärte den Boten des Königs, die
beiden Männer seien wohl bei ihr gewesen, sie hätten
sich aber, als die Tore der Stadt geschlossen wurden,
bereits wieder entfernt. Man möge ihnen nur schnell
Reiter nachsenden, die sie wohl auf jeden Fall noch
erreichen würden, da die Fremdlinge, die zu Fuß nicht
so schnell vorwärts kommen könnten wie die Reiter,
noch keinen allzu großen Vorsprung haben könnten,
Man glaubte diesen Worten und befolgte den Rat.
Rahab aber ließ dann am späten Abend die
Kundschafter aus ihrem Hause, das auf der Stadt-
mauer stand — die alten Stadtmauern waren in der
Regel außerordentlich breit angelegt — , an einem
Seile ins Freie und ließ sie einen andern Weg ein-
schlagen, nachdem ihr die Männer gelobt hatten, daß
bei der Eroberung der Stadt ihr Haus und ihre ganze
Familie geschützt werden sollte, möchten auch die
übrigen Häuser und die ganze Einwohnerschaft ver-
nichtet werden. Als dann Jericho wirklich von den
Israeliten erobert worden war, da verbanneten die
— 288 —
Israeliten alles, was in der Stadt war, mit der Schärfe
des Schwertes, Mann und Weib, jung und alt, Ochsen,
Schafe und Esel.
Der Schwur, den die Kundschafter der Rahab
getan hatten, wurde auf Befehl Josuas gehalten. Die
Stadt wurde verbrannt. „Rahab aber, die Hure, samt
dem Hause ihres Vaters und alles, was sie hatte, ließ
Josua leben. Und sie wohnet in Israel bis auf diesen
Tag, darum, daß sie die Boten verborgen hielte, die
Josua zu verkundschaften gesandt hatte gen Jericho."
Es könnte ja nun freilich so aussehen, als habe es
sich hier um eine große Ausnahme gehandelt, d. h.
als habe man die Rahab nur deshalb leben lassen, um
sie für den Dienst zu belohnen, den sie den Israeliten
erwiesen hatte. Das trifft aber keineswegs zu. Man
hätte ja, wenn es darauf angekommen wäre, den
Schwur zu halten, die Rahab und ihre Familie einfach
leben und laufen lassen können. Es wird aber mit
offenbarem Behagen und breiter Betonung erzählt,
daß sie bei Israel wohnte bis auf diesen Tag, also
für ihr ganzes Leben. Das war ihr weder zugeschworen,
noch hätte die Rahab diese Gastfreundschaft auch nur
annehmen können, wenn es wahr wäre, daß jede
Prostituierte als ein verlorenes, verkommenes oder
gar als ein verabscheuenswertes Geschöpf gegolten
hätte. Wäre dies der Fall gewesen, dann hätten die
Kundschafter erstens überhaupt wohl nicht das Haus
der Rahab aufsuchen, zweitens aber ihr nicht einen so
weitgehenden Schwur leisten dürfen. Dazu möchte
ich doch auch besonders betonen, daß die Bibel doch
wahrlich nicht den Sieg der Kinder Israels als ein
Werk der „Hure Rahab" ansieht, sondern als eine
— 289 —
Fügung Oottes, der ja auch bei der Eroberung dieser
Stadt in wunderbarer Weise den Sieg herbeiführte,
der die ganze Sache von Anfang leitete und der doch
schließlich, da seine Hand die Geschicke der Völker
führte, auch die beiden Kundschafter geführt und
gerettet hatte, geführt ins Haus der Rahab, gerettet
durch die Rahab. Ich meine, die ganze Geschichte
zeigt, daß die Prostibula nicht nur in Jericho, sondern
auch in Israel nicht als eine Persona mala angesehen
wurde, ja daß sie wohl nicht einmal zu der Sorte von
Menschen gerechnet wurde, denen man im alten Rom
die Worte „levis notae maculae" anhängte, d. h. die
zu den anrüchigen Leuten gezählt wurden.
Es verdiente auch Beachtung, daß die Rahab mit
ihrer ganzen Familie, Vater und Mutter usw. geschont
wurde, daß die Familie die „Hure" duldete und mit
dieser geduldet wurde. Es ist allerdings nicht gesagt,
daß auch diese Familie mit in Israel gelebt habe; man
darf dies aber doch wohl annehmen. Davon aber,
daß die Familie durch den Erwerb der Tochter
geschändet oder durch die Duldung dieses Erwerbes
strafbar geworden wäre, ist garnicht die Rede, im
Gegenteil. Wir ahnden dagegen eine solche Duldung
von den Eltern mit Zuchthausstrafen.
Schon Moses, der doch an sich gegen die Prosti-
tution geeifert und die Unsittlichkeit verabscheut und
verboten hatte — gerade nach dem schönen Spruch,
den ich an die Spitze dieses Kapitels gestellt habe — ,
sah selbst ein, daß nach dieser Richtung hin sein Eifer
resultatlos blieb und auch schließlich bleiben mußte,
weil die Natur orientalischer Völker sich noch viel
weniger einschnüren und in Enthaltsamkeitsgebote
19
— 290 —
fügen läßt als die der sog. „kühlen Abendländer". Man
versuche es nur gefälligst, den „kühlen" Abendländern
den sexuellen Verkehr zu verbieten oder, was für viele
Leute auf dasselbe hinauslaufen würde, ihn nur in der
Ehe zu gestatten. Wer dieses Verbot mit vollem
Erfolg ergehen lassen könnte, der hätte eine Leistung
vollbracht, gegen die alle Großtaten der Welt zusammen-
genommen klein erscheinen würden. Ich meine damit
nicht etwa, daß ich diese Tat für die verdienstlichste
oder selbst nur für eine nützliche halten würde, son-
dern ich will nur sagen, daß sie in meinen Augen etwas
völlig Unmögliches darstellt. Zu dieser Überzeugung
ist aber Moses auch gekommen, ja er hat sich wohl
gesagt, daß ein striktes Verbot nicht einmal nützlich,
sondern im Gegenteil viel eher schädlich sei. Des-
halb bequemte er sich doch dazu, den Verkehr jüdischer
Männer mit fremden Dirnen zuzulassen; er hat ihn
erlaubt, und es ist deshalb, wie ich auch aus anderen
Stellen des Alten Testamentes z. B. über die Opfer
nachweisen kann, ganz entschieden nicht göttliche
Inspiration, was in den Büchern Mose steht und sich
teilweise nicht halten lässt, teilweise durch andere
Stellen widerlegt ist. Daß Moses sonst gerade den
Verkehr zwischen Juden und heidnischen Weibern
nicht dulden wollte, weil er, übrigens mit vollem
Rechte fürchtete, daß der Glaube der Seinen erschüttert
werden könnte, wie dies ja sehr oft wirklich geschah,
habe ich schon an anderer Steile betont. Jedenfalls liegt
die Sache so, daß Moses den Besuch der israelitischen
Männer bei heidnischen Völkern nicht leiden wollte,
daß er aber gegen den Besuch heidnischer Meretrices
in Israel nichts hatte. Die Episode von Jericho spielte
- 291 —
aber nach Moses. Ich betone dieses noch aus-
drücklich, damit mir der Einwand, ich kenne etwa das
ältere mosaische Gesetz nicht genügend, von Anfang
an erspart bleibt. Ich kann nun wohl die biblischen
Nachweise verlassen, obwohl sie noch keineswegs
erschöpft sind.
Daß im Altertum die Prostitution im Orient nicht
als schändend oder anrüchig galt, beweist die Tat-
sache, daß sie bei einigen Völkern geradezu zum reli-
giösen Kult gehörte, so daß also viel eher das für
eine Ehre galt, was wir für die tiefste Schande halten.
Das gilt natürlich nur mit der Einschränkung, daß
lediglich die religiöse Prostitution dabei in Frage
kommen kann, neben der es noch eine profane gab,
die gewiß ihre „Priesterinnen" nicht adelte, sie aber
auch nicht herabsetzte.
Im alten Babylon forderte der Mylitta-Kult die
Prostitution der Töchter Babels. Mylitta war eine
Naturgottheit, etwa das, was bei den Griechen Aphro-
dite, bei den Römern Venus war. Das assyrische
Wort ,,mu' allidat", das so viel heißt, wie die Gebärende,
läßt darauf schließen, daß man die Liebe in Babel
außerordentlich realistisch auffaßte, und es ist deshalb
kein Wunder, daß auch der Kult der Mylitta nicht
bloß in einer platonischen Verehrung und ehrfurchts-
vollen Anbetung bestand, sondern daß man, wie dies
ja auch in Griechenland und Rom der Fall war, den
Kult etwas drastischer und der Bedeutung der Göttin
entsprechend gestaltete. Herodot überliefert uns, daß
im alten Babylon jedes Weib gezwungen gewesen
sei, sich einmal im Tempel der Mylitta zu prostituieren.
Es mag dahingestellt bleiben, ob dies „einmal" bedeuten
— 292 -
sollte, einmal im Leben, oder, wie andere Autoren
meinen, einmal in jedem Jahre. Jeder Fremde hatte
das Recht, in den Tempel zu gehen und ein solches
Opfer zu verlangen. Er mußte dafür natürlich bezahlen,
was die Priesterschaft des Tempels verlangte, und wir
haben bereits gesehen, daß in Babel die Priester ausge-
zeichnete Geschäftsleute waren. Die gezahlte Summe
erhielt aber nicht das Weib, das sich prostituiert hatte,
sondern sie kam dem Tempel zu, vielmehr wieder
den Priestern, die deshalb wohl eifrigst bemüht gewesen
sein werden, aus der Tempel der Mylitta eine Art
Bordell zu machen. Jedenfalls haben diese Priester
mit feuriger Beredsamkeit dem Volke gepredigt, daß
eine fleißige Religionsübung Segen bringe, und daß es
deshalb verdienstlich sei, der Göttin Mylitta zu hul-
digen. Diese Ermahnungen scheinen denn auch auf recht
fruchtbaren Boden gefallen zu sein, kein Wunder,
wenn es verdienstlich und fromm war, das Nützliche
mit dem Angenehmen in eine so schöne Harmonie
zu bringen.
Einer Göttin der Liebe und der Fortpflanzung ein
Opfer zu bringen, das gerade in dieses Ressort hinein-
paßte, ihr die Keuschheit als das höchste Gut, das
ein Weib besitzen konnte, zu opfern, das ist bei aller
scheinbaren Absurdität doch in Wirklichkeit ein außer-
ordentlich naheliegender Gedanke. Daß er mindestens
dem Orientalen sehr natürlich vorkommen mußte,
beweist seine gewaltige Verbreitung. Es war allerdings,
da zu einem solchen Opfer immer zwei Personen
gehören, wenn es nicht in der Weise der Bewohner
von Goa gebracht werden sollte, die ihre Jungfrauen
einer Elfenbeinfigur vermählten, die Frage, ob die Priester
— 293 —
allein die Opfer „annehmen" sollten, oder ob es an-
gängig sei, daß im Tempel die opferlustigen Weiber
sich profanen Männern hingäben, um der Göttin die
Keuschheit zu opfern, wie dies die geschäftsgewandten
und klugen Priester der Mylitta zuließen, vielleicht
auch zulassen mußten, weil ihnen die Opferfreudigkeit
der babylonischen Damen über den Kopf wuchs.
In Persien kannte man diesen Liebesgöttinnenkult
ebenso wie in Babylon. Dort hieß die Göttin Anäitis.
Der Kult war derselbe, und die Laien waren den
berufenen Dienern der Göttin, den Priestern, völlig
gleich in dem regen Eifer, beim Opfer den Admini-
strantenposten auszufüllen, nur daß der Laie für seinen
religiösen Eifer „bluten" mußte, während der Priester
nur seine Bemühungen in die Wagschale warf und
nicht nötig hatte, sich von irdischen Gütern zu trennen.
Es mußte doch wenigstens einen Unterschied zwischen
Laien und Priestern geben, sonst wäre die ganze Religion
nicht wertgewesen, daß ein Sterblicher sich in ihren
Dienst stellte.
Gehen wir weiter durch die einzelnen Gebiete
des Orients, so finden wir fast überall die gleiche
fromme Sitte, die allerdings der orientalischen Lüstern-
heit besonders zusagte. Das, was des Herzens Neigung
diktiert, in ein religiöses Dogma als Vorschrift zu fügen,
das ist stets die vornehmste Taktik aller derer gewesen,
die bemüht waren, einem religiösen Kult Anhänger zu
gewinnen, oder Anhänger zu erhalten. Es ist deshalb
schon ein Akt der Klugheit gewesen, einen Brauch,
der an einem Orte große Begeisterung erweckte, auch
in die eigene Gemeinde zu verpflanzen. Ich habe die
Wichtigkeit dieser weisen Vorsicht schon bei der Be-
— 294 —
sprechung der Dionysien und des Phalluskults gezeigt.
Sie konnte auch bei dem Kult der Göttinnen der Liebe
nicht ausbleiben, wollte man nicht, daß z. B. die
Perser lieber der Mylitta als der Anäidis, die
Phönizier lieber diesen beiden als ihrer Astarte dienten
usw.
So haben dann auch die Griechen und Römer ihrer
Aphrodite und Venus treu und rastlos gedient und
zwar ziemlich genau nach babylonisch-orientalischer
Schablone. Es ändert sich der Name der Göttin, der
Kult ist derselbe und bleibt derselbe. Ich komme
wohl auf Rom und Griechenland noch zurück; vorher
möchte ich noch tiefer in den Orient eindringen und
feststellen, daß es auch in Indien mit der religiösen
Prostitution nicht anders bestellt war als in den bisher
erwähnten orientalischen Ländern. Indien ist gerade
deshalb das für dieses Thema interessanteste Land,
weil dort der alte Brauch sich am längsten gehalten
hat. Das Babylon des Altertums, das Phönizische
Reich, Persiens alte Herrlichkeit — alles ist hin-
gesunken in den Staub, und die alten Kulturen gehören
einer Vergangenheit an, die soweit zurückliegt, daß
der Blick kaum bis in jene Fernen heranreicht. An-
dere Völker, andere Sitten und besonders andere
Religionen herrschen heute in jenen Gebieten, in
denen einst die Göttinnen der Liebe ihre begeisterten
Verehrer und Verehrerinnen fanden. Man huldigt zwar
auch jetzt noch in jenen Ländern der Liebe, bringt
ihr Opfer und weiht ihr das Leben, aber die Göttinnen
der Liebe, an die man glaubte und denen man zu
dienen meinte, wenn man das tat, was nach unserer
Ansicht Sünde oder eher eine Beleidigung der Gott-
— 295 -
heit als ein Dienst ist, die sind vergangen und wohl
auch vergessen. Sie transit gloria mundi.
Anders in Indien, wo weder das Christentum
noch der Prophet die alte Religion des Landes über
den Haufen zu rennen vermochten, weil die indische
Religion in der Tat wesentlich reichere geistige Schätze
und befriedigende Lehren bietet als das alte Heidentum
mit seinen doch geradezu sündhaft menschlich ge-
dachten Göttern und Gottheiten. Indien ist konserva-
tiver, es ist auch vor allen Dingen — weil abseits vom
Schusse — nicht so intensiv in die Händel dieser
Welt hineingezogen worden und hat schon deshalb
seine Eigenart und seine Sitten viel besser bewahren
können. Nun, und Indien hatte und hat noch die
Dewedaschies, diese Dienerinnen der Gottheiten, die
von den Portugiesen Bajaderen benannt wurden und
unter dieser Bezeichnung auch für das übrige Europa
bekannt geworden sind. Diese Dewedaschies hatten
ebenfalls die Pflicht, sich im Tempel preiszugeben;
das erforderte der Kult, ja das war ein Teil des religi-
ösen Kults selbst, und deshalb war diese Prostitution
so ähnlich wie Wagner den Spaziergang mit Dr. Faust
bezeichnet, sie war nämlich auch ehrenvoll und brachte
Gewinn. Gewinn freilich nur für die Seele oder für
den Tempel, nicht für die — ich will mich an den
bekannten Ausdruck halten — Bajadere. Mindestens
waren diese leiblichen Opfer bei den Bajaderen, die
dem Kaam, dem tückischen Gotte der Liebe, dienten,
geradezu selbstverständlich. Ebenso wie man in
Babylon der Mylitta Opfer brachte, die völlig deren
Wirken entsprachen, konnte man auch bei den Hindus
dem Gotte der Liebe nur Liebesopfer darbringen. Der
— 296 —
Unterschied war nur der, daß in Babylon, auch in
anderen Orten des Orients, alle weiblichen Wesen
verpflichtet waren, sich zu Ehren der Gottheit hinzu-
geben, während in Indien nur die berufenen Dienerinnen
der Gottheit zu solchen Opfern die Befugnis hatten.
In Indien waren es deshalb auch nur die Priester,
die bei derartigen Opfern die Rolle des Mitwirkenden
übernehmen durften. Das erklärt sich wieder aus
dem Umstand, daß die verhältnismäßig geringe Anzahl
von Bajaderen wohl an die Priester keine allzugroßen
Anforderungen stellte, wie die gesamte weibliche
Bevölkerung einer Riesenstadt sie gestellt haben wird.
Wenn man schlechthin von Bajaderen spricht und
damit alle die versteht, die sich durch Tanzen usw.
ihren Unterhalt erwerben, gleichviel ob sie Tempel-
dienerinnen oder profane Tänzerinnen waren, so ist
es wohl erklärlich, daß daraus eine Begriffsverirrung ent-
stehen mußte, die völlig die Bedeutung der einzelnen
Berufsgruppen übersehen läßt. Die erste Klasse
bildeten sicherlich nur die eigentlichen Dewedaschies,
also die weiblichen Götterdienerinnen. Die vornehm-
sten Dewedaschies erfreuten sich ganz besonderer
Auszeichnungen, sie galten als edle Damen und standen
unter dem Schutze des Publikums. Sie waren von
der Außenwelt abgeschieden und durften niemals für
profane Feierlichkeiten Tänze ausführen. Dagegen
war es ihnen gestattet, sich einen Geliebten zu wählen,
der aber den ersten beiden Hindukasten angehören
mußte. Wohl stets war der Geliebte ein Tempel-
bramine, der täglich die Auserkorene in ihrer Zelle
besuchen und sich nach Herzenslust mit ihr erfreuen
durfte. Es scheint dieser sexuelle Verkehr nicht nur
— 297 —
ein Recht sondern sogar eine religiöse Pflicht der
Dewedaschies gewesen zu sein, also eine religiöse
Prostitution. Die zweite Klasse der Dewedaschies
war noch günstiger gestellt, sie galt aber wohl nicht
für so heilig wie die erste Klasse. Diese Dewedaschies
waren in der Auswahl ihrer Liebhaber unbeschränkt.
Sie durften wählen, soviele sie wollten, und sie waren
auch nicht gezwungen, nur bestimmte Kasten zu
bevorzugen. Dann aber ließen sie sich gut bezahlen.
Sie durften auch öffentliche Lustbarkeiten und private
Festlichkeiten durch ihre Künste verschönen und sich
für diese Leistungen gut bezahlen lassen. Die Dewe-
daschies durften schließlich bei keinem Feste fehlen,
und sie sollen nicht selten geradezu Reichtümer ge-
sammelt haben. Daß sie dabei zu wirklichen Freuden-
mädchen wurden, das tat ihrem Ansehen nicht den
geringsten Abbruch. Wie sollte es auch? Das, was
als eine religiöse Pflicht der Bajaderen galt, das konnte
doch nicht plötzlich als ein schändendes Laster gelten,
bloß weil nicht der Tempelbramine sondern irgend
ein Privatmann die Früchte des „Opfers" brach. Man
dachte gar nicht daran, in der Hingabe etwas Unsitt-
liches oder gar etwas Schändendes zu sehen, und der
Umstand, daß die Bajaderen Zahlung heischten, was
sie ja wiederum mit Erlaubnis der Priester taten,
konnte nach der Ansicht der Hindus bei der Beur-
teilung ihres Handelns gar keine Bedeutung haben.
Nun gab und gibt es aber auch noch einfache,
ich möchte sagen, private Bajaderen, die in gar keinem
Verhältnis zum Tempel standen, sondern auf eigene
Rechnung tanzten und buhlten. Ob auf eigene
Rechnung, das möchte ich nicht einmal behaupten,
— 298 —
denn in der Regel standen die Mädchen im Dienste
einer älteren Dewedaschie, die ihnen Kleidung und
Beköstigung gab, die Einnahmen aber für sich behielt
und die Bajaderen nicht selten geradezu als Sklavinnen
betrachtete. Es sind da eine ganze Reihe von Ab-
stufungen zu verzeichnen, die aber alle die prinzipielle
Übereinstimmung hatten, daß ihr Treiben niemals ihrer
Ehre Abbruch tat.
Ich bin der Ansicht, daß die profane Prostitution,
die im Orient gewaltige Ausdehnung genommen hat,
meist aus der religiösen Prostitution hervorgegangen
ist. Damit erklärt es sich dann auch ganz unge-
zwungen, daß dies Gewerbe nicht als schändend
betrachtet wurde. „Sie duo idem faciunt, non est
idem." Das gilt zwar sonst von der Prostitution in
erster Linie. Es ist derselbe Akt, den der Mann und
die Prostituierte gemeinschaftlich verrichten und doch
soll es nicht dasselbe sein. Dem Manne erwächst an
seiner Ehre aus einem derartigen Verkehr kein Ab-
bruch; das Mädchen aber wird dadurch zum ver-
worfensten Geschöpf, das man mit einem Fußtritt
zur Tür hinausbefördern kann, wenn man es nicht
mehr braucht. Der Orientale denkt in diesem Punkte
anders; er ist gerechter, das kommt aber auch wohl
daher, daß er an sich von den Weibern eine noch
geringere Meinung hat als der Abendländer. Ihm ist
das Weib weiter nichts als ein Werkzeug seiner Lüste,
mag er es nun für immer in seinen Harem sperren,
oder mag er es nur gelegentlich für seine Zwecke
ausnutzen. In dem einen wie in dem andern Falle
muß er zahlen, in dem einen wie in dem anderen
Falle ist ihm das Weib nur Mittel zum Zwecke. In
— 299 —
der Regel. Die Fälle einer wirklichen Liebe, die etwa
das ist, was wir im besten Falle darunter verstehen,
sind Ausnahmen von der Regel.
Ich habe von einer religiösen und einer profanen
Prostitution gesprochen und der Vermutung Ausdruck
gegeben, daß die profane wohl an verschiedenen Orten
sich aus der religiösen entwickelt habe. Daß dies
nicht überall der Fall gewesen ist, liegt auf der Hand,
einmal schon weil es nicht überall eine religiöse Prosti-
tution gegeben hat, ferner weil die Entstehung der
profanen gewissermaßen aus sich selbst heraus sich
so außerordentlich leicht erklären läßt, daß man wohl
sagen darf, sie hätte auf alle Fälle entstehen müssen.
Der Sinnenrausch fragt nichts nach menschlichen Insti-
tutionen; er ist unabhängig von der Ehe, die selbst auch
eine menschliche Institution ist, die deshalb je nach
der örtlichen Auffassung und den örtlichen Verhält-
nissen stark variiert. Der Sinnenrausch ist da, ehe eine
Eheabsicht entsteht, oft genug ohne solche oder sogar mit
der festen Absicht, keine Ehe zu schließen. Da ist
es denn sehr naheliegend, daß der sexuelle Verkehr
auch ohne Ehe gesucht und gewährt wird, besonders
wenn kleine oder größere Geschenke den weiblichen
Teil geneigter machen, auf die Wünsche des Mannes
einzugehen. Das erzieht dann — mutatis mutandis
— die Prostitution ganz von selbst.
Als eine Art Übergang denke ich mir die grie-
chische Aphrodite- und die römische Venusverehrung.
Es war das nicht in dem Maße religiöse Prostitution
wie in Babylon beim Mylittakult; aber auch nicht
Prostitution im weltlichen Sinne. Einen starken reli-
giösen Hintergrund hatte die Sache doch, wenigstens
— 300 —
zweifellos im Entstehungsstadium. Ich habe schon
die Dionysien und Bacchanalien beschrieben und dar-
getan, daß diese auch Götterdienste waren, die natürlich,
wie man dies übrigens bei jedem Götter- und Gottes-
dienst beobachten kann, mehr und mehr entarteten.
Würde Christus heute auf unsere Erde zurückkehren,
er würde die Kirche säubern, wie er einst mit der
Geißel den Tempel reinigte. Er würde auch heute
den schwersten Kampf nicht mit der „sündigen Mensch-
heit" zu kämpfen haben, sondern - ? Ja, das ist das
alte Lied. Die gesunde Idee eines Kults gleicht der
schönen, zarten Wunderpflanze, die in den Garten ver-
setzt wird, und die schließlich im Unkraut ersticken
muß. Äußerliche Form, Menschendogma und schlimmere
Dinge wie Selbstsucht, Herrschsucht usw. ersticken die
Wunderblume des reinen Glaubens und anstelle der
innigen Gottesverehrung tritt ein hohles Gespenst,
daß durch den äußerlichen Prunk und Pomp, durch
die formelle Feierlichkeit, mit der es in die Erscheinung
tritt, blendet, aber keine innerliche Befriedigung, keine
innerliche Erhebung mehr gestattet, weil ihm die inner-
liche Wahrheit und Reinheit fehlt.
So war es bei den Dionysien und Bacchanalien
des griechischen und römischen Altertums, so war es
bei dem Aphrodite- und Venusdienst. Man soll sich
nicht dadurch täuschen lassen oder selbst täuschen,
daß man die Achseln zuckt und geringschätzig über
das Heidentum lächelt, das doch so gar keine Berechti-
gung gehabt habe und dem denkenden Menschen nur
ein Lächeln habe abgewinnen können. Wer das sagt,
der hat damit das Geständnis abgelegt, daß er von
dem rein innerlichen, d. h. an keine Form, an kein
— 301 —
Dogma gefesselten religiösen Empfinden eines Volkes
keine Ahnung hat. Daß die naive Religiosität der
Alten viel inniger, viel mehr Sache des Herzens war
als jede andere, das ist nicht in Abrede zu stellen.
Kein Unternehmen gab es, mochte es für die arm-
selige Privathäuslichkeit des Einzelnen, mochte es für
das öffentliche Staatswesen geplant sein, zu dem nicht
die Hilfe der Götter angefleht und durch Opfer erreicht
werden mußte. In der Regel holte man Orakelsprüche
ein, die von Priesterinnen, wie es die Pythia des
berühmten Delphi-Orakels war, vermittelt wurden, wobei
diese Priesterinnen etwa dieselbe Rolle spielten, die
die heutige „okkulte Wissenschaft" den Medien zu-
weist.
Auch der Dienst der Venus und Aphrodite wurde
zunächst sehr ernst genommen; er wirkte keineswegs
entsittlichend, wenn wir dies Wort nicht mit dem
Maße messen wollen, mit dem die moderne, heuchle-
rische Prüderie jede wirkliche Sittlichkeit totzuschlagen
bemüht ist, so daß auch hier die Wunderblume reinen
Empfindens durch Disteln, die Hauptnahrung der
Esel, und anderes garstiges Unkraut erstickt werden
würde, wenn die Bemühungen gewisser Kreise, was
erfreulicher Weise nicht der Fall sein wird, dauernde
Erfolge haben könnten. Die gesunde Sinnlichkeit des
Altertums — ich will gleich vorweg betonen, daß sie
nicht lange sich dieser Gesundheit erfreuen durfte —
war nichts weniger als Unsittlichkeit. Wenn das
Altertum den Göttinnen huldigte, die ihnen die seligsten
Freuden des Liebeslebens gewährte, die für die Er-
haltung der Art sorgte, so war dies durchaus natürlich
und — vom Standpunkte jener Anschauung aus
— 302 —
betrachtet — vernünftig. Daß dieser Kult entartete,
und daß mit ihm die „gesunde" Sinnlichkeit entarten
mußte, das versteht sich für jeden objektiven Beur-
teiler von selbst, weil leider nichts in der Welt seine
ursprüngliche Reinheit und Klarheit behalten kann.
Die Menschheit strebt ständig der Vervollkommnung
entgegen, sie sucht zu verbessern, zu veredeln und
das, was sie für das Heiligste und Schönste hält,
noch feierlicher und schöner zu gestalten. Das ist
das leitende Prinzip. Daß der Erfolg nicht dem Wollen
entspricht, das hat wieder darin seinen Grund, daß
niemals das Heiligste und Schönste einer künstlichen
Steigerung fähig ist, weil das Vollkommene eben nicht
vollkommen wäre, wenn es auch den Komparativ oder
Superlativ vertrüge. Man soll nun, so tief man es
auch bedauern muß, daß menschlicher Aberwitz so
viel verdirbt, wenn er es verbessern will, doch immer
an das alte römische Wort denken: „Si absunt vires,
voluntas est laudanda." Niemals sind sich die
Weltverbesserer bewußt gewesen, daß ihre Idee
Schaden bringen könne; niemals ist ein Dogma von
Allen, die ihm das Wort redeten als eine Verschlechte-
rung empfunden worden. Man soll deshalb den guten
Willen der „Verbesserer" annehmen, mag man ihr Tun
auch noch so bedauern. Selbst ein Goethe hat den
weisen Rat erteilt, an den Busen der Natur zurückzu-
kehren, und doch hat er selbst sich ebenso wie die
übrigen Menschen immer mehr von der Natur ent-
fernt. Und hat es jemals Menschen gegeben, die diesen
Rat befolgen wollten, nicht etwa weil er von Goethe
erteilt war, was sie ja meist nicht einmal wußten,
sondern weil sie selbst in ihrem Herzen die Notwendig-
— 303 —
keit empfanden, so sind sie gewöhnlich Fantasten
gewesen, die völlig übersehen hatten, daß der Weg,
den die Menschheit Jahrtausende lang gewandelt ist,
nicht mit einem kühnen Sprung in einigen Sekunden
rückwärts getan werden kann, und die auch nur in
äußerlichen Formen parodierten und deshalb mit vollstem
Rechte Gegenstand des Spottes und Gelächters wurden.
Vor allen Dingen soll man nicht glauben, daß es ein
Ideal sein könnte, auf das Niveau der Höhlenbewohner
zurückzukehren. Das sind Utopien. Da es lächerlich wäre,
den Segen einer gesunden Kultur und Vervollkomm-
nung zu leugnen, da aber jede Kultur und jeder Fort-
schritt uns von der Natur entfernen müssen, sofern
wir in der Natur nur das verstehen wollen, was die
Menschheit war, als sie noch „in Kinderschuhen" steckte
— in Wirklichkeit gab es natürlich keine Schuhe -,
so sind das Probleme, die niemals der Lösung mit
Erfolg entgegengebracht werden können.
Kommen wir also zum Kult der Liebesgöttinnen
zurück, und machen wir uns mit dem Gedanken ver-
traut, daß dieser Kult, jemehr er entwickelt wurde,
desto mehr entarten mußte, so finden wir unschwer
die Überleitung zur weltlichen, profanen und abscheu-
lichsten Prostitution. Ich möchte einen weiteren
Schritt in dem griechischen Hetärenwesen sehen. Das
war nicht Prostitution in des Wortes übelster Bedeutung.
Es ist nicht gut möglich, die vulgäre Straßendirne und
die Hetäre des alten Griechenlandes in einen Topf zu
werfen, mag dies auch für enragierte Sittlichkeitsfexe
ein Kinderspiel sein. Das Hetärenwesen war in seinen
Anfängen eine Institution, der ein gewisser Idealismus
nicht abgesprochen werden darf. So hoch die grie-
— 304 —
chische Kultur auch über die anderen Länder empor-
ragte; sie war doch — das möchte ich den orienta-
lischen Ballast nennen — dadurch beeinträchtigt, daß
sie der Frau eine zu niedrige Rolle im öffentlichen, ja
sogar im häuslichen Leben zuteilte. Die Frau war da,
dem Manne Nachkommen zu schaffen, die als legitime
zu gelten hatten, sonst hatte sie weder eine gesellschaft-
liche, noch sonst eine Bedeutung. Das in einem
Lande des frohen Genießens, in dem doch wahrlich
das ewig Weibliche etwas mehr sein mußte als das
bloße Instrumentum pollutionis, denn sonst wäre
die Kultur, der hohe Geistesschwung wohl menschlich
nicht verständlich gewesen, mindestens nicht mit der
heiteren Lebenslust der Griechen, die ihre Göttinnen
ebenso verehrten wie die Götter, in Einklang zu
bringen. Die griechische Frau war allerdings ihrer
Bildung nach durchaus nicht geeignet, dem Manne
eine geistige Anregung zu bieten. Daß man in
Griechenland diesen Mangel nicht beseitigt hat, daß
man ausschließlich auf die körperliche Ausbildung
und Gesundheit der Frauen Gewicht legte und bemüht
war, kräftige und gesunde Mütter als die Garantie für
ein künftiges kräftiges und gesundes Geschlecht zu
schaffen, würden wir nach heutiger Ansicht sehr wohl
die Neigung haben, als schweren Vorwurf zu erheben.
Zwar nicht ganz mit Recht, wenn anders man Jeman-
dem nicht etwa noch daraus einen Vorwurf machen
will, daß er nicht die Fähigkeit besitzt, nach Belieben
aus seiner Haut herauszuschlüpfen. Das Altertum
kannte es eben nicht besser und das orientalische
Altertum ganz besonders nicht. Es kam eben der
Ehefrau nicht zu, durch ihre geistigen Gaben die
— 305 —
Gesellschaft zu fesseln und mit anderen Männern zu
flirten — um dies abscheuliche Dictum nun einmal zu
gebrauchen. Es konnte, mit einem Worte gesagt —
die Ehefrau nicht Mittelpunkt des geistigen Lebens
sein, denn das wäre mit den Ansichten über Pflichten
und Aufgaben einer Ehefrau nicht vereinbar gewesen,
wiederum nach dem Status jener Zeit mit vollstem
Rechte.
Wollte man aber die Frau wirklich in den
Mittelpunkt des geistigen Lebens treten lassen, so
konnte sie sicher nicht Ehefrau sein; sie war nur als
Freundin, nicht als Frau vorstellbar. Als Freundin,
— als Hetäre — war dem weiblichen Individuum
Gelegenheit geboten, gesellschaftliche Triumphe zu
feiern. Das läßt nun wieder mit Notwendigkeit den
Schluß zu, daß es unbedingt den Frauen auch im Altertum
schon möglich war, sich eine glänzende Bildung zu
erwerben, denn diese war für die Hetäre unerläßlich.
Sie fesselte durch ihren Geist und ihre Unterhaltungs-
kunst, die immer etwas höhere Anforderungen stellte
als der übliche Gesellschaftsschliff, der es ermöglicht,
angenehm und anziehend über die hohlsten und
nichtigsten Dinge des Lebens hinwegzutänzeln. Die
Hetäre konnte den geistig hochstehenden Griechen
genügen. So war die Hetäre ursprünglich eine Prie-
sterin des geistigen Verkehrs. Ich habe aber schon
wiederholt gesagt, dass jedes Ding, jede Institution
durch ihre weitere Entwicklung entartete und ein-
büßte. Auch das Hetärentum wurde zu nichts als zu
einer verfeinerten Prostitution und die Hetäre lernte
außer anderen, der Unterhaltung dienenden Künsten,
vor allen Dingen die, ihre Freunde in der unerhörtesten
20
— 306 —
Weise auszunutzen und auszuplündern. Sie wurden
dabei allerdings reich, und da der Reichtum besticht
und adelt, so tat dies ihrem Ansehen und ihrer Be-
deutung zunächst keinen Abbruch, es war aber doch
der wichtigste Schritt zur profanen Prostitution in ihrer
widerlichsten Bedeutung. Daß die Hetären in der
Tat eine Rolle spielten, die weit über die einer gewöhn-
lichen Prostituierten hinausging, beweist wohl schon
die Tatsache, daß Perikles, obwohl er verheiratet war,
mit der Hetäre Aspasia in dauernde Verbindung trat
und diesen Verkehr in keiner Weise zu bemänteln suchte.
Ich nenne den Perikles nicht allein deshalb, weil sein
Name bis auf den heutigen Tag als einer der
bedeutendsten bekannt geblieben ist, sondern auch
deshalb, weil Perikles der erste Ehemann war, der
öffentlich mit einer Hetäre verkehrte, aber bald so viele
Nachahmer fand, daß Nietzsche mit Recht schreiben
konnte, im alten Griechenland seien die Ehefrauen
dazu da gewesen, dem Manne Kinder zu schenken;
die viel edlere Aufgabe, den Mann zu unterhalten und
zu vergnügen, habe die Hetäre zu erfüllen gehabt.
Perikles war in der Tat die geeignetste Person, eine
solche Neuerung einzuführen. Er bekämpfte die
Aristokratie, damit zugleich eine Menge Vorurteile.
Er setzte es durch, daß dem Volke aus dem Staats-
schatze Schenkungen gewährt wurden. Er tat viel für
Kunst und Wissenschaft, war der glänzendste Redner,
der je gelebt hat, und schwang sich geradezu zum
Alleinherrscher über das so unabhängige Athen auf.
Perikles wurde natürlich viel von seinen Landsleuten
angefeindet, und man suchte ihn noch dadurch zu
verletzen, daß man seine Freundin Aspasia beschul-
— 307 —
digte, sie habe ihm eine ganze Anzahl freier Weiber
verkuppelt. Er selbst übernahm mit seiner glänzenden
Beredsamkeit die Verteidigung der Hetäre und erzielte
auch ihre Freisprechung.
Gerade die Geschichte des Perikles — ich meine
nicht die seiner politischen Bedeutung — ist für mein
Thema von hervorragender Wichtigkeit. Schon der
Umstand, daß ein solcher Mann, der beste Kopf seiner
Zeit — seine höchste Blüte fällt in die Zeit von Cimons
Tod ab (449 v. Chr.) und hielt eigentlich bis zu seinem
Tode (429) an — , überhaupt eine Hetäre seines ver-
trauten Umganges würdigte, daß er die Freundschaft
mit ihr nicht allein aufrecht erhielt, sondern sie auch
vor aller Welt bekannte, beweist klar und deutlich,
eine wie wichtige und doch sicherlich nicht verächt-
liche Stellung die Hetären in jener Zeit einnahmen.
Die Anklage gegen die Hetäre Aspasia selbst ist
wiederum für die kulturhistorische Forschung erheblich
wertvoller, als dies auf den ersten Blick erscheinen
will. Nicht daraus machten ihr die rachsüchtigen
Athener einen Vorwurf, daß sie Hetäre oder daß sie
öffentlich als Freundin des Perikles bekannt war, und
Perikles selbst betonte dieses Verhältnis noch dadurch
ganz besonders, daß er öffentlich mit Feuer und Begei-
sterung als Verteidiger der Aspasia auftrat. Es ist also
weder in dem Stande der Aspasia, noch in ihrem
Freundschaftsbunde etwas Anstößiges gefunden wor-
den. Strafbar sollte die Hetäre sich nur dadurch ge-
macht haben, daß sie ihrem Freunde Frauen in kupp-
lerischer Absicht zugeführt habe. Wenn man dies
annahm, mußte man eigentlich wohl von dem Gedan-
ken ausgehen, daß der Verkehr einer Hetäre mit einem
20*
— 308 —
Manne an sich eine harmlose Sache sei, denn hätte
man einen sexuellen Verkehr als den wesentlichen
Zweck des Verkehrs betrachtet, so würde doch wohl
schwerlich damit die Annahme vereinbar gewesen sein,
daß Aspasia für ihren Geliebten auch andere Frauen
bereit gehalten haben sollte. Viel wahrscheinlicher
wäre diese Anklage gewesen, wenn festgestanden
hätte, daß das ganze Verhältnis nichts weiter gewesen
sei, als ein harmlos freundschaftlicher Verkehr, in dem
Perikles lediglich geistige Genüsse suchte und fand,
sodaß Aspasia ihm ohne Eifersucht und ohne sonstige
Bedenken für seine sexuellen Begierden andere Frauen
zuführen konnte.
Man ersieht weiter daraus, daß die Kuppelei
als eine sehr ernste Straftat angesehen wurde, die
aber nicht dem zur Last fiel, der sich der Kupplerin
bedient hatte, sondern lediglich für die Kupplerin ver-
hängnisvoll werden konnte. Wäre Perikles als Mit-
schuldiger angesehen worden, so würde er nicht in
der Lage gewesen sein, die Hetäre zu verteidigen,
sondern er hätte dann mindestens sich selbst mit ver-
teidigen müssen. Es kann nach alledem mindestens
zu jener Zeit die Hetäre nicht in einem so üblen Rufe
gestanden haben, wie oft angenommen wird. Das
ist auch aus anderen historischen Daten zu entnehmen
und wird weniger befremden, wenn man erwägt, zu
welcher Machtfülle bis in die neueste Geschichte hinein
zuweilen fürstliche und königliche Maitressen gelangten,
die, wie einst die Hetären des alten Griechenlands, die
rechtmäßige Gattin ihrer Galane bis in das dunkelste
Nichts zurückdrängten, ihr die Rolle der legitimen
Spenderin des Thronerben überließen, selbst aber den
— 309 —
Herrscher und damit zugleich das Land regierten,
gefeiert und verehrt von der Schar der Höflinge, die
allerdings eigentlich noch feiler war als die Maitresse,
umworben und verhätschelt von den Würdenträgern
und den Großen des Reiches, die nur mit dem Willen
und der Genehmigung des Buhlweibes ihr Amt be-
halten und dessen Pflichten ausüben konnten.
Das Altertum, das von dem Vorurteil der Eben-
bürtigkeit noch nicht angekränkelt war, konnte sogar
einen großen Schritt weiter gehen als das zeremonielle
Zeitalter z. B. der französischen Ludwigs-Monarchien.
Die Hetäre Thais war die Geliebte Alexanders. Ihre
diesem Bund entstammenden Kinder wurden als voll-
berechtigte Erben Alexanders angesehen, so daß ihr
Sohn Erbe des Ptolemäischen Thrones, ihre Tochter
Königin von Cypern werden konnten. Das ist ein
Beispiel unter vielen. Nicht selten wurden Hetären
von den Herrschern geradezu königliche Ehren er-
wiesen. Bekannt ist die Stellung der Myrina am Hofe
des Demetrius. Welche Reichtümer eine Lais, eine
Phryne erwarben, ist bekannt, und besonders von der
Lais werden Geschichten der Nachwelt überliefert, die
lebhaft an die Schrullen und Capricen einer modernen
Welt- oder auch meinetwegen Halbweltdame erinnern.
Die Phryne machte von ihren Schätzen — ich meine
natürlich nicht die lebenden — einen edleren Gebrauch
als die Lais. Als Theben zerstört worden war, bot
sie den Thebanern an, die Stadtmauern auf ihre Kosten
wieder aufbauen zu lassen, gewiß ein hochherziges
Anerbieten, das wohl ebenfalls nicht hätte gemacht werden
können, wenn die Hetäre gar so verachtet gewesen
wäre. Es kam übrigens durchaus nicht so selten vor,
— 310 —
daß Hetären sich als patriotisch fühlende Wesen er-
wiesen. In Korinth wurden die Hetären geradezu als
Retterinnen der Stadt gefeiert und verewigt. Als die
Perser das kleine Griechenland mit ihren Riesenheeren
bedrohten und auch der unerschrockene Mut des
tapferen Volkes nicht die bangen Sorgen um den Aus-
gang des ungleichen Kampfes zu bannen vermochte
da taten die korinthischen Hetären ein Gelübde, be-
gaben sich in den Tempel der Aphrodite und beteten
für das Wohl der Stadt, die auch wirklich gut fortkam,
so daß man diese günstige Wendung auf das Gebet
und das feierliche Gelübde der Hetäre zurückführte.
Das „dankbare Vaterland", das in Griechenland wirk-
lich dankbar war und sich auf diese Pflicht der Dankbar-
keit nicht erst immer hundert Jahre nach dem Tode
des verdienstvollen Mitbürgers usw. besann, widmete
der Göttin eine Gedenktafel, die aber zugleich den
Dank an die Hetären enthielt, denn diese waren auf
der Tafel bildlich dargestelt. Es haben auch sonst
Künstler und Schriftsteller es nicht verschmäht, die
einzelnen Hetären der Nachwelt zu erhalten, oder doch
wenigstens deren Angedenken. Auch das beweist
wieder klar und deutlich, welche hervorragende Rolle
diese oder doch wenigstens eine große Anzahl von
ihnen im öffentlichen Leben des griechischen Alter-
tums spielten, und daß es falsch ist, die gewöhnlichen
Lustdirnen mit den Hetären in einen Topf werfen zu
wollen. Die gefeiertsten Hetären waren auch durchaus
nicht für jeden beliebigen Mann zugänglich; es wird
von einigen sogar berichtet, daß die Freundschaft für
ihren Freund bis über dessen Tod hinaus dauerte.
So werden die Hetären Timandra und Theodola, die
— 311 —
dem großen Alcibiades das Leben verschönten, als
sehr getreue und ergebene Personen geschildert, die
ihrem Freunde auch nach dessem Tode ergeben und
treu blieben.
Wenn man gleichwohl das Hetärenwesen als eine
Art Prostitution gelten lassen will, so ist es mindestens die
verfeinerte Prostitution bei einem geistig hochentwickelten
Volke gewesen. Man verwechselt übrigens sehr leicht
das Hetärenwesen mit der brutaleren Form der Prosti-
tution, die es in Griechenland ebenfalls gab, und die
schon zeigt, daß in Wirklichkeit die Hetäre doch etwas
wesentlich anderes war als die eigentliche Lustdirne,
die nach bestimmtem gesetzlichen Reglement lebte.
Für die Lustdirne gab es besondere Häuser, die sog.
Dikterien. Die Einrichtung des Dikterion wird dem
weisen Solon zugeschrieben, der diese Institution
geschaffen haben soll, um der sittlichen Verwilderung
vorzubeugen oder diese mindestens in Bahnen zu
lenken, die dem öffentlichen Wohle möglichst wenig
schaden konnten. Wenn es wahr ist, daß Solon das
Dikterion geschaffen und gesetzlich geregelt hat, so
ist diese Institution erheblich älter als die Glanzzeit
des griechischen Hetärenwesens, die ich von dem
Zeitpunkt an rechne, an dem Perikles durch sein Bei-
spiel den freien Verkehr zwischen angesehenen und
verheirateten Bürgern und Hetären sanktionierte. Solon
ist schon 639 v. Chr. geboren. Es ist nun allerdings
nicht zu bestreiten, daß Solon recht guten Grund
hatte, die abscheuliche Verwilderung, die in Athen
um sich griff, zu bekämpfen und unschädlich zu
machen, denn die Zustände arteten dergestalt aus,
daß in der Tat ein besonnener und kluger Staatsmann
— 312 —
von ihnen den schließlichen Zusammenbruch des
Staatswesens befürchten konnte. Das Dikterion war
ein Bordell, das nach bestimmtem Reglement geleitet
werden mußte, und in das nur Sklavinnen aufgenommen
werden durften. Die Besucher hatten eine festgesetzte
Summe zu zahlen und durften nicht ausgebeutet werden.
Nach den Bestimmungen Solons sollten die Töchter
der Athenienser überhaupt nicht ins Dikterion gebracht
werden dürfen. Solon selbst ließ die Sklavinnen für
diese Häuser im Auslande kaufen; die Kosten wurden
durch die Zahlungen der Besucher gedeckt.
Ähnlich war das Prostitutionswesen im alten Rom
geregelt. Auch dort war die Prostitution erlaubt, aber
die Dirnen standen in tiefer Mißachtung. Man hatte,
wohl nach griechischem Muster Freudenhäuser ge-
schaffen, die sog. Lupanarien, die unter der Aufsicht
der Ädilen standen, und die wohl ähnlich organisiert
waren wie das vorbildliche Dikterion in Athen. Wie
es scheint, ist in Rom das „notwendige Übel" nicht
allzustreng beaufsichtigt gewesen. Neben den Dirnen,
die in den Lupanarien untergebracht waren und diese
nicht verlassen durften, gab es auch eine „wilde Prosti-
tution", d. h. es trieben viele Weiber das Gewerbe
auf „eigene Rechnung und Gefahr". Sie hatten keine
bestimmte Wohnung, waren mindestens nicht an ein
beaufsichtigtes Haus gebunden, sondern trieben sich um-
her und machten ihre Eroberungen, so gut und so
schlecht es gehen wollte. Es scheint allerdings mehr
gut als schlecht gegangen zu sein, denn die Prosti-
tution nahm gewaltig zu und überflutete nicht selten
die ewige Stadt in geradezu erschreckender Weise.
Die vagabundierenden Dirnen — Meretrices und
— 313 —
Prostibulae — bildeten eine nicht zu unterschätzende
Gefahr. Ich meine nicht gerade für die öffentliche
Sittlichkeit, denn an der war eigentlich herzlich wenig
zu verderben, wohl aber für die öffentliche Sicherheit,
denn die Meretrices und Prostibulae hatten einen ähn-
lichen Anhang, wie ihn die moderne Dirne an ihrem
Zuhälter hat. Besonders unter den Kaisern nahm die
Prostitution in einer Weise zu, die wohl kaum wieder
erreicht, auf keinen Fall aber übertroffen werden kann.
Die Lupanarien waren stets überfüllt, nicht allein die
gewerbsmäßigen Lustdirnen drängten sich dahin, son-
dern es wurde ihnen auch seitens der römischen
Damen eine starke Konkurrenz gemacht. Man würde
es wohl nicht für möglich halten, wenn es nicht
historisch festgestellt wäre, daß die vornehmsten
römischen Damen, ja selbst die Kaiserinnen einen
förmlichen Sport trieben, die Lupanarien aufzusuchen
und sich dort den Männern preiszugeben. Gerade
von einigen Kaiserinnen wird berichtet, daß sie uner-
sättlich in ihren Lüsten gewesen seien. Ich will hierfür
nur einen Satz von Jakob Döpler zitieren, der wörtlich
lautet: „Kayser Claudius war mit seinen Gemahlinnen
gar unglücklich, weil sie alle Huren waren. Die erste
Nahmens Aemilia stieß er von sich, ehe er sich noch
völlig mit ihr vermählete. Der andern, so Livia
Medullina hieß, hatte er schon am ersten Hochzeits-
Tage satt. Die Dritte, Plautia Horculanilla, und die
vierte, Älia Petina, wurden Ehebruchs bezüchtiget,
darum stieß er sie beyde von sich. Die fünfte aber,
Nahmens Valeria Messalina, war die ärgste: Denn
ihre Unersättlichkeit in der Wollust trieb sie dahin,
daß sie sich vermasquieret ins Hur-Hauß begab und
— 314 —
sich Lycina nennen ließ und da sie es daselbst mit
25 Männern versucht, eignete sie sich dadurch vor
andern einen großen Ruhm zu, ungeachtet sie gleich-
wohl noch meinte, daß sie zwar müde, aber nicht satt
worden." Es war eine Kaiserin, die diesen denk-
würdigen Ausspruch tat. Es kommt ja natürlich ganz
auf die individuelle Veranlagung an, welches Maß an
sexueller Befriedigung erforderlich ist, die Begierde zu
stillen, und es mag Herrn Döpler wohl darin beigestimmt
werden, daß ein Verkehr mit 25 Männern selbst in
einem solchen Milieu, wie es das Lupanarium ist, zu
besonderem Ruhm gereichen muß. Jedenfalls stand
aber die Kaiserin Valeria Messalina im alten Rom nicht
vereinzelt in Bezug auf ihre sittlichen „Grundsätze"
da, und gerade in den vornehmsten Kreisen liebten
es die Damen, sich alle nur erdenklichen Extravaganzen
zu erlauben, so daß wohl den guten Kaiser Claudius,
dem alle seine Gattinnen ein stattliches Geweih auf-
steckten, — vor und besonders nach der Hochzeit —
die recht bedenklich geäußerte Lebenslust der Messa-
lina arg verdrossen hat — Döpler sagt: „Ist deswegen
von Claudio umgebracht worden" — , im allgemeinen
war aber die Verwilderung so weit gediehen, daß man
selbst einer Kaiserin die Gastrolle in dem Lupanarium
garnicht so sehr verübelte.
Die Lustdirnen — ich muß zu ihnen auch die
vornehmen Damen zählen — traten mit immer größerer
Frechheit auf und machten sich überall breit, wo sie
hoffen konnten, einen Anhang zu finden. In den Bädern,
in denen meist allerdings das Baden nicht die Hauptsache
sondern oft nur Mittel zum Zwecke war, wimmelte es
von Lustdirnen, die dort natürlich reiche Ernten hielten
— 315 —
und stets willkommen waren. Das stolze Rom benutzte
die Unsittlichkeit geradezu als Grabscheit für das
eigene Grab, denn daß dieses verkommene und ver-
weichlichte Volk sich nicht die Kraft und Energie
bewahren konnte, die erforderlich waren, die Welt-
machtstellung dauernd zu erhalten, das liegt doch
wohl klar am Tage. Rom und die alten Weltreiche
sollten nur auch nach dieser Richtung hin in ihrer
Geschichte etwas sorgfältiger studiert werden. Das
wäre vielleicht für die jetzt so begeistert empfohlene
sexuelle Aufklärung eins der lehrreichsten Kapitel, das
übrigens auch für den Geschichtsunterricht bestens
empfohlen werden kann, schon deshalb, weil es in das
öde Einerlei des einseitigen Schlachten- und Kriegs-
memorierens eine gute Abwechslung bringen und
etwas mehr Verständnis dafür erwecken würde, warum
die Schicksale der Kriege und Völker, die eine niemals
überwindbare Macht besaßen, doch so kläglich aus-
fielen. Erst dieses Studium zeigt, daß die Weltgeschichte
wirklich das Weltgericht ist, das niemals sittliche
Verfehlungen der Völker dauernd ungestraft geschehen
läßt. Es ist immer interessanter, zu erfahren, warum
einem Übeltäter der Kopf abgeschlagen worden ist,
als die bloße Tatsache zu vernehmen, daß das Richt-
schwert einmal zwischen Kopf und Leib irgend eines
Hinz oder Kunz „einen Unterschied gemacht habe".
Auch Hinz und Kunz treten aus dem Nebeldunst
absoluter Gleichgiltigkeit heraus, wenn feststeht, daß
sie eine Reihe von Verbrechen begangen haben, für
die die irdische Gerechtigkeit den Ausgleich des Kontos
dem braven Meister Hans überlassen mußte. So will
man denn auch in der Weltgeschichte nicht bloß
— 316 —
wissen, daß irgend ein Ereignis eingetreten ist, sondern
man wird sich viel mehr angezogen und interessiert
fühlen, wenn man den Nachweis führen kann, warum
dieses Ereignis eintreten mußte, und daß nicht blind
der Zufall waltet, sondern stets eine logische Not-
wendigkeit aufzufinden ist.
Es ist nicht etwa mit diesen Ausführungen zum
Ausdruck gebracht, daß gerade die gewerbsmäßige
Prostitution das sittliche Übel sei, an dem ein Volk
hinsiechen müsse. Ich möchte viel eher behaupten,
daß sie in keiner Weise verhängnisvoll zu werden
braucht. Nach Solons Rezept ist die Prostitution viel-
mehr das beste Mittel, einer allgemeinen Verwilderung
entgegenzuarbeiten, so lange natürlich nur, wie die
Prostitution in die richtige Bahn gebettet wird. Wohl-
tätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch
bezähmt, bewacht. Das gilt von der Prostitution erst
recht. Sie ist dann wie der Blitzableiter im tobenden
Gewitter. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, die
Sittlichkeit eines Volkes nach dem Status der Prosti-
tution ganz einseitig in der Weise bemessen zu wollen,
daß man sagt, es gibt dort viele Dirnen, ergo ist die
Unsittlichkeit bedeutend. Man könnte vielleicht mit
mehr Recht von einer Gegend, in der es gar keine
Prostitution gibt, sagen, das ist die unsittlichste Gegend
der Welt, dort bleibt nicht einmal für die Lustdirnen
etwas übrig. In der Tat erreichen — prozentualiter —
in solchen prostitutionsfreien Gegenden zuweilen die
unehelichen Geburten die höchste Ziffer, während in
Gegenden mit starker Prostitution die Bürgertöchter
so unnahbar sind, daß gerade die Prostituierten die Rolle
des Blitzableiters spielen und, wie dies schon Solon
— 317 —
erkannte, die Angriffe und Verführungen anständiger
Mädchen absorbieren.
Vorausgesetzt, daß die Prostitution in ihren zweck-
entsprechenden Grenzen gehalten wird, ist sie keines-
wegs verwerflich oder — ich möchte dies ausdrücklich
betonen — auch nur entbehrlich. Es sind Gründe
sozialer Art, die sie notwendig machen und die sich
nicht mit einigen schönen Phrasen von der verletzten
Menschenwürde usw. aus der Welt schaffen lassen,
weil streng genommen gar manche Dienstbarkeit eine
Verletzung der Menschenwürde darstellt und selbst
die Ehe zuweilen weit mehr gegen die Menschenwürde
verstößt als die Prostitution. Ich sage, daß diese ein
Produkt sozialer Verhältnisse sein kann und aus diesem
Grunde für eine Notwendigkeit gehalten werden muß.
Die Möglichkeit, sich zu verheiraten, ist für viele Männer
nicht gegeben, das resultiert aus zu geringer Bezahlung,
zu großer Unsicherheit der Existenz, — der Wett-
bewerb der Frauen ist hier eine schlimme Gefahr —
und der Erziehung der Mädchen, die im Durchschnitt
viel zu anspruchsvoll sind und für die Ehe zu wenig
gelernt haben, nur Rechte verlangen, ohne Pflichten
zu kennen. Ich will nicht zu weit von meinem Thema
abschweifen. Jedenfalls ist die Prostitution für die
sehr zahlreichen Männer, denen die Heirat versagt
bleibt — ich verabscheue prinzipiell den Gedanken, daß
die Ehe nichts sein soll als die gesetzlich erlaubte
Form des sexuellen Verkehrs, auf das Tiefste — , die
einzige Möglichkeit den sexuellen Trieb, den man um
Gotteswillen nicht für etwas Unsittliches halten soll,
zu befriedigen. Es ist falsch, jeden sich außerhalb
der Ehe abspielenden Geschlechtsverkehr ungeprüft
— 318 —
als eine Unsittlichkeit perhorrescieren zu wollen. Ich
bin auf diese Gesichtspunkte schon in meinem Werke
„Das Liebesleben im alten Deutschland" näher einge-
gangen und möchte das dort Gesagte auch dem Sinne
nach hier nicht wiederholen; denn für jetzt kommt es
doch nur darauf an, welche moralische Beurteilung
eines ganzen Volkes das Vorhandensein oder die
Häufigkeit der Prostitution gestattet. Ich möchte also
besonders hervorheben, daß weder Rom noch Griechen-
land noch ein Volk des orientalischen Altertums daran
sittlich zu Grunde gegangen sind, daß die Prostitution
bestand, sondern nur daran, daß die allgemeine Un-
sittlichkeit zu einer wirklichen Verwahrlosung und Ver-
weichlichung ausartete, und daß diese Entartung nicht
durch das Vorhandensein einer Prostitution sondern
an der Teilnahme von Weib und Kind, an dem Umsich-
greifen auch der widernatürlichen Unzucht, die immer
eine Folge der sittlichen Entartung ist, abhing. Ich
will dabei nicht in Abrede stellen, daß auch das
Überhandnehmen der Prostitution dazu beitragen kann,
den sittlichen Verfall zu beschleunigen; man soll nur
nicht Ursache und Wirkungen verwechseln. Die
Hypertrophie eines Gliedes ist niemals Ursache eines
Leidens sondern immer Folge; auch das Überhand-
nehmen der Prostitution ist niemals die Ursache einer
Entsittlichung, sondern eine Folge, weil dieses Über-
handnehmen sonst nicht möglich ist, nicht geduldet
werden kann.
Man würde im alten Rom die Meretrices und
Prostibulas sehr wohl und sehr nachdrücklich von
Orten, an denen sie nichts zu schaffen hatten, fort-
gewiesen haben, wenn man nicht die moralische Kraft
— 319 —
hierzu schon eingebüßt gehabt hätte. Die Dirnen
haben es getrost gewagt, sich überall einzudrängen, weil
sie wußten, daß sie willkommen waren, und daß auch
die sonst so straffe Staatsgewalt garnicht daran dachte,
das widerliche Treiben zu verhindern, da ihr schon
längst jedes Gefühl für wirklichen Anstand und Sitte
verloren gegangen war und schlließlich auch verloren
gehen mußte, wenn selbst die vornehmen Damen
ungestraft sich einem Lasterleben in die Arme werfen
durften, das jeden noch nicht völlig moralisch ver-
sumpften Menschen anekeln mußte. Wo gab es denn
im alten Rom noch einen Ort öffentlicher Lustbarkeit,
der nicht völlig von dem Treiben geiler Weiber ver-
seucht gewesen wäre?
Auch das wäre nicht möglich gewesen, wenn
man, um zu erfahren, was sich schickt, noch bei
„edlen" Frauen hätte anfragen können. Wir haben
aber gesehen, wie selbst die Kaiserinnen über diesen
Punkt dachten, und wie sie ihre Gedanken in die Tat
umsetzten. So waren die öffentlichen Rennen, selbst
der Zirkus, der sonst den Charakter eines nationalen
Festes gehabt hatte, zum Rendezvous für liederliche
Subjekte — gewerbsmäßige Dirnen und Amateusen —
herabgesunken. Aus diesem Sumpfe konnten sich
natürlich nur giftige Gase entwickeln, die das Volk siech
und hinfällig machten. Das lag aber nicht an der
Prostitution der Gewerbsdirnen, denn wer wollte wohl
sagen, daß die Damen der vornehmsten Gesellschaft
jemals dadurch, daß eine Prostitution sich breit macht,
bewogen werden könnten, noch tiefer zu sinken als
die Prostibulae? Das Dirnenwesen hat doch gerade
dadurch, daß das Laster ein Beruf und Erwerb ist,
— 320 —
eine, wenn auch sehr fadenscheinige, Entschuldigung.
Es ist nicht so tief gefallen, weil seine Mitglieder
niemals hochgestanden und niemals eine Pflicht gehabt
haben, der Standesehre Opfer zu bringen. Schon die
Rücksicht auf die Standesehre, die zu allen Zeiten so
eifrig betont worden ist, mag sich auch dagegen vom
Standpunkt der reinen Vernunft, nach dem es nur eine
Ehre geben kann, noch so viel einwenden lassen,
verpflichtet die Damen, mit Ekel und Verachtung auf
das widere Treiben zu sehen.
Im alten Rom waren die Meretrices und Prosti-
bulae geduldet, aber doch sehr verachtet. Sie mußten
sich sogar durch ihre Kleidung von den wirklichen
Damen unterscheiden, damit sie nicht etwa einmal zu
viel Ehre erlebten. Während die sog. ehrbaren Frauen
lange Gewänder trugen, durften die Prostibulae nur
kurze Röcke anlegen, die kaum bis zum Knie reichten
und die Beine frei ließen. Es heißt darüber bei einem
alten Schriftsteller, der sich auf Horatius beruft: „daß,
wenn etwan eine erbare Frau krumme Beine, oder
sonst Mangel an Füßen hätte, sie solches verhehlen
und mit dem langen Rock bedecken könnte, welches
aber eine Hure nicht zu thun vermöchte, als deren
man wegen des kurtzen Rockes die Beine über und
über sehen und anschauen könnte. Es wahren auch
der Huren Röcke bunt, von allerhand Farben." Nicht
allein in den Kleidern wurde aber ein Unterschied
vorgeschrieben, sondern auch die Haartracht war ver-
schieden; es war den Dirnen nicht erlaubt, den Kopf
zu bedecken, sondern sie mußten das Haar frei tragen.
Rechte, die den ehrbaren Frauen zustanden, blieben
den Dirnen untersagt; sie mußten zu Fuße gehen und
— 321 —
hatten nicht die Erlaubnis sich in Sänften usw. tragen
zu lassen. Es gab also Vorschriften genug, die es
den Dirnen verleiden konnten, sich an öffentliche Orte
zu begeben, und vor allen Dingen war viel mehr, als
dies heutigen Tages möglich ist, den ehrbaren Frauen
Gelegenheit geboten, jede Berührung mit dem Gesindel
zu vermeiden. Die Gefahr, daß etwa eine Dirne sich
unerkannt hätte in bessere Kreise mischen können,
oder daß es ihr gelungen wäre, sich unerkannt dort
zu bewegen, wo anständige Leute verkehrten, bestand
garnicht, während doch heutigen Tages die „bessere"
Prostitution, also die, die in der Kunst, ihre Opfer zu
schröpfen, die Stufe der Virtuosität erreicht haben, sehr
leicht sich in Theater, Restaurants, Badeorte usw. usw.
eindrängen, dort die Dame spielen und wohl gar die
allgemeine Bewunderung erregen, bis man sie endlich
in ihrem wahren Charakter erkannt hat. Es hätte also
bei einigem guten Willen auch nicht schwer fallen
können, die Dirnen in die ihnen gebührenden Grenzen
zurückzuweisen, wenn es eben nicht an diesem guten
Willen völlig gefehlt hätte. Jedenfalls hat dann auch
Niemand mehr danach gefragt, ob die Kleiderordnung
und all die schönen Vorschriften auch nur im minde-
sten befolgt wurden. Da nun aber solche Bestim-
mungen einmal da sind, erinnert man sich ihrer zu-
weilen doch und wendet sie gelegentlich einmal an,
wenn man eine Handhabe sucht, gegen ein einzelnes
Individuum, das sich vielleicht gegen eine einflußreiche
Person besonders mißliebig gemacht hat, vorgehen
und ihm das Handwerk legen zu können. Dadurch
wurde aber der Willkür Tür und Tor geöffnet, und
Willkür in der Rechtspflege hat noch niemals die
21
— 322 —
Sittlichkeit gehoben, sondern ihr stets mehr geschadet
als alles, was auf sittlichem Gebiete, ich meine dies
in engerem, sexuellem Sinne, gesündigt worden ist.
Man wird wohl auch annehmen können, daß es vor-
nehme Damen mitunter nicht verschmäht haben, die
Gewandung, die für die Dirnen vorgeschrieben war,
anzulegen, weil sie auf diese Weise alle Garantieen
hatten, ungestraft ihren wüsten Abenteuern nachgehen
zu dürfen, ebenso wie die Kaiserin Messalina es nicht
verschmähte, in den Lupanarien Gastrollen zu geben.
Eine weitere Form der Prostitution, die im Altertum
nicht allzu ungewöhnlich gewesen zu sein scheint,
will ich in einem besonderen Kapitel besprechen, da
sie zu eigenartig ist, um mit dem Dirnentum zugleich
behandelt zu werden. Ich komme nun auf die Prosti-
tution im Orient zurück, die nicht religiöser Natur,
gleichwohl aber auch nicht entehrend war.
Daß der Venuskult zur Prostitution sehr leicht
überleiten konnte und auch wohl den Übergang
gebildet hat, beweist am besten die Geschichte der
Insel Cypern. Die außerordentlich wechselnden Schick-
sale dieser im Altertum ebenso wegen ihrer paradie-
sischen Schönheit, wie auch wegen ihrer Üppigkeit
und frechen Leichtfertigkeit bekannten Insel wiederzu-
geben, lohnt nicht. Die Insel, auf der sich der Olymp
befindet — Monte Croce — war das Heiligtum der
Aphrodite — Venus, und der „Schaumgeborenen"
wurde dort gehuldigt wie kaum an einem andern
Orte der Welt. Das will schon etwas heißen. Jeden-
falls tat aber der weitestgehende Venusdienst den
Weibern an ihrer Ehre keinen Abbruch. Ich habe
schon früher darauf hingewiesen, daß es geradezu
— 323 —
Landessitte war, die Töchter an den Strand gehen zu
lassen, damit sie dort mit den reichen Kaufleuten
sexuellen Verkehr suchten und reiche Schätze sammelten,
die sie den späteren Gatten mit in die Ehe brachten,
ohne daß darin die Insulaner oder auch die Gatten
selbst etwas Anstößiges gefunden hätten. Daß man
vom Gelde sagte „Non ölet", wenn es auf unsaubere
Weise verdient war, das ist wohl auch andern Ortes vor-
gekommen, und das „Non ölet" tröstet ja auch jetzt
noch manchen Edlen, der sein Geld auf eine Weise
erworben hat, die er selbst nicht gern beim rechten
Namen nennen hört. Warum sollte man in Cypern
entrüstet darüber sein, daß die Braut den Reichtum
ihres zukünftigen Gatten begründete? Nun war ja aber
die Art dieses Verdienens nicht einmal anrüchig. Im
Gegenteil, es war ein Dienst der Venus, die oberste
Göttin der Insel war, und was der Lokalgöttin heilig
und angenehm war, warum sollte es den sie besonders
verehrenden Bewohnern ehrlos erscheinen? Glückliches
Cypern! Wo die Luft so rein, die Natur so hehr und
lieblich, die Menschheit aber so unglaublich unsauber,
frech und verkommen war.
Ich habe schon gesagt, daß die indischen Baja-
deren, soweit sie Tempeldienerinnen — wir könnten
vielleicht geneigt sein, sie noch eher als Priesterinnen
zu bezeichnen — waren, sich aus religiösem Kult
prostituierten, und daß die zweite Klasse von Bajaderen
hieraus auch ein äußerst lohnendes Geschäft machte,
ohne dabei an ihrer Ehre Schaden zu leiden. Es gab
aber dort Weiber, die garnichts mit dem religiösen
Kult sondern lediglich mit der Prostitution zu tun
hatten, von diesem Gewerbe nicht allein sehr gut
21*
— 324 —
lebten, sondern auch ihre Musikanten, die sie mit sich
führten, weil die Prostituierten zugleich als Tänzerinnen
auftraten, als solche überhaupt zu den Lustbarkeiten
und in Privatkreise gezogen wurden, erhielten. Selbst
diese Tänzerinnen waren nicht anrüchig und sind es
wohl auch heute noch nicht.
Oanz ähnlich liegen die Verhältnisse in China
und auch in Japan. In diesen Ländern sind es die
Theehäuser, die im Effekt etwa das darstellen, was
wir Bordelle nennen. In Wirklichkeit ist aber doch
ein gewaltiger Unterschied, denn diese Theehäuser
sind frei von dem Makel, der — sehr berechtigter
Weise — auf den Bordellen lastet. Die Mädchen, die
sich an die Theehäuser vermieten — man bezeichnet
sie als Geishas — , haben die Aufgabe, die Gäste
durch Tanz und Gesang zu unterhalten. Es ist dort
so wie in Indien; Gesang und Tanz fesseln die Sinne
der Zuhörer, die sich mehr und mehr in die graziösen
und gewandten Tänzerinnen vergaffen und schließlich
nicht eher ruhen, ehe sie den sexuellen Verkehr voll-
zogen haben. Es ist dabei allerdings zu berücksich-
tigen, daß diese Tänze ganz darauf berechnet und
zugeschnitten sind, die Sinnlichkeit stark anzuregen,
und daß die sinnlich veranlagten Orientalen dazu wohl
noch nicht einmal eines allzu kräftigen Anstoßes bedürfen.
Gesang und Tanz sind aber auch dort nur die Lock-
mittel, sie bilden das Präludium für die eigentliche
Unterhaltung, die lediglich der sexuelle Verkehr ist, der
natürlich von der einen Seite aus überschäumender
Leidenschaft, von der andern aus Berechnung angestrebt
wird. Daß dabei die Gäste kräftig zahlen müssen, ehe
ihnen der Gipfel des Glückes eröffnet wird, das ist
— 325 -
bekannt und bei dem Charakter eines chinesischen
Theewirts selbstverständlich. Man pflegt die Chinesen
als die Krone aller Gauner zu bezeichnen und hat,
soweit es sich darum handelt, die Habgierde, die jedes
Mittel den Zweck heiligen läßt, zu treffen, auch sicher-
lich nicht unrecht. Es ist aber das merkwürdige
Phänomen sittlicher Anschauung, daß der Theewirt
im allgemeinen richtig moralisch bewertet wird, daß
aber die Geishas durch ihre Tätigkeit in keiner Weise
an ihrer Ehre Schaden leiden, ebenso wenig wie die
indischen Bajaderen.
Dafür gibt es zwei Erklärungen: die Entstehung
der Prostitution aus religiösem Kult habe ich bereits
eingehend besprochen; ferner aber ist die allgemeine
Bewertung des Weibes anzuführen. Es kommt ganz
darauf an, welchen Rang das weibliche Geschlecht im
öffentlichen Leben spielt, das ist allein der Maßstab,
der an die Prostitution gelegt werden kann. Stellt
das Weib nach der allgemein anerkannter Theorie —
die Praxis sieht im Einzelfalle sehr oft gründlich anders
aus — das Symbol der Reinheit und Keuschheit dar,
darum muß selbstverständlich jedes Gebahren, das
mit diesem Ideal in starkem Widerspruch steht, Schande
und Verachtung erzeugen. Wo also die Frau geehrt
und angesehen ist, kann folgerichtig die Prostituierte
nur als eine garstige Abart verachtet werden; es ist
garnicht vorstellbar, daß sie nach der allgemeinen
Anschauung als ein gleichwertiges Mitglied der
Gesellschaft betrachtet werden könnte. Wird aber
das weibliche Wesen als nichts weiter denn als die
Dienerin des Mannes angesehen, die in erster Linie
die Aufgabe hat, seine sinnlichen Lüste zu befriedigen,
t
— 326 —
dann ist kaum noch einzusehen, warum sich durch
die Prostitution, die doch diesem Zwecke dient, ein
Weib so besonders stark herabsetzen sollte. Der
Abendländer sieht in der Frau sein Ideal, das er rein
und jungfräulich haben will, wenn er sich für das
ganze Leben mit ihr vereinigen will. Der Orientale
achtet die Jungfräulichkeit durchaus nicht hoch; sie
ist ihm sogar in manchen Ländern eine lästige Eigen-
schaft, die er beseitigen läßt, ehe er das Weib zu sich
nimmt. Daß nach der Heirat die Ansicht wechselt,
d. h. daß dann auch der Orientale das Weib für sich
allein beansprucht und jede Möglichkeit eines Verkehrs
mit andern Männern beseitigt, das steht mit dieser
Tatsache durchaus nicht im Widerspruch, weil hier
ganz andere Momente in Frage kommen, auf die ich
an dieser Stelle nicht einzugehen brauche.
Je höher die Frau geachtet ist, desto verachteter
wird die Prostituierte sein, die alles von sich wirft,
was der Frau die Achtung verschafft; je niedriger das
Weib bewertet wird, desto weniger wird die Prostitu-
ierte mißachtet sein. Das ist die Quintessenz aller
moralischen Betrachtungen über das Wesen der Prosti-
tution. Ob diese Quintessenz richtig ist, das ergibt
sich wohl am besten, wenn wir die Geschichte der
Prostitution nicht allein der verschiedenen Völker mit-
einander vergleichen, sondern wenn wir sie bei einem
und demselben Volke die Jahrhunderte hindurch ver-
folgen, vorausgesetzt, daß feststeht, der sittliche Wert
der Frauen und deren Ansehen sei nicht zu allen
Zeiten gleich gewesen. Ich will hier auf die Geschichte
Roms verweisen, weil sie wohl die bis in ihre Details
am besten bekannte ist. Ich habe nun oben schon
— 327 -
angedeutet, daß die Prostituierten ziemlich scharfen
Vorschriften unterworfen waren, daß diese Handhabe
aber zu Zeiten der allgemeinen Verwilderung niemals
öder doch nur in Ausnahmefällen angewendet wurden.
Diese Tatsache kann leicht falsch gedeutet werden; in
Wirklichkeit bestätigt sie glänzend meinen Leitsatz.
Die Frau galt im alten Rom weit mehr als z. B. in
China, Indien usw., deshalb war die Prostituierte ein
verachtetes Geschöpf, das man wohl benutzte, dann
aber von sich stieß. Als nun die römischen Damen
sich einem Lebenswandel in die Arme warfen, der
jede Achtung vor ihnen ohne weiteres beseitigen
mußte, verringerte sich der Abstand von den Meretrices
immer mehr, denn wie konnte man die letzteren etwa
so viel geringer achten, als die Damen, die doch schon
deshalb viel strafbarer handelten, weil sie die Pflichten
der Ehe verletzten? Es war ganz natürlich, daß dabei
die Mißachtung der Prostituierten mehr und mehr
schwand, bis man sie schließlich fast unbehindert
oder ganz unbehelligt gewähren ließ. Je weniger
Achtung die Frauen genossen, je niedriger also das
Weib im allgemeinen bewertet wurde, desto weniger
ward die Prostituierte verachtet. Deshalb kommt es
vor, daß zuweilen Männer aus guter Familie sich
sogar entschließen, eine Prostituierte zu heiraten. Die
gesellschaftlichen Kreise, die gewohnt sind, nach den
traditionellen Vorurteilen zu entscheiden und sich
dadurch die Mühe des Denkens ersparen, sind in
solchem Falle „schnell fertig mit dem Wort". Sie
können es nicht begreifen, wie ein Mensch ihres
Standes so unglaublich tief sinken, sich soweit ver-
gessen könne. Es ist völlig richtig, daß ein gebildete
— 328 —
Mann sich schon sehr weit vergessen und überwinden
muß, ehe er sich entschließen kann, eine Prostituierte
zu heiraten; aber ein solcher Fall sollte doch viel mehr
zum objektiven Nachdenken anregen. Man würde da
wohl immer auf Seiten des Mannes eine gründliche
Verachtung der „anständigen" Damen und nicht selten
auch einen ausreichenden Grund für eine solche fest-
stellen können, so daß auch hier der Grundsatz, die
Prostituierten gewinnen in demselben Maße, in dem
die Frauen an Achtung verlieren, durchaus bestätigt
wird.
Da nun in Indien, China und ähnlichen Ländern
des Orients das Weib an sich gar keine Achtung zu
genießen pflegte, war es kein Wunder, daß die Buhl-
dirnen auch nicht viel anders bewertet wurden, d. h.,
daß sie nicht weniger galten als die „ehrbaren" Frauen
und daß vor allen Dingen ihr Gewerbe es ihnen nicht
unmöglich oder auch nur schwierig machte, die
Prostitution aufzugeben und in die bürgerliche Gesell-
schaft zurückzukehren, sich zu verheiraten oder sonst
etwas zu tun. Das „bischen Prostitution" blieb aber
völlig außer Acht und gab noch weniger Veranlassung
zu einer ungünstigen Meinung, als sie in gewissen
Kreisen heute noch einem Mädchen bei uns begegnet,
das sich ehrlich und einwandfrei durch irgend eine
anständige Stellung ernährt. Man sieht, daß der Orient
in seinen Anschauungen wenigstens konsequenter war
als das Abendland, das zwar an sich wohl die Prosti-
tution richtig bewertet, aber leider so von unlogischen
Vorurteilen beherrscht ist, daß man sich wundern
muß, wenn gleichwohl Wert darauf gelegt wird, das
Volk der Denker zu heißen.
— 329 —
Der Orient war nicht allein konsequenter, sondern
ist es auch heute noch. Äußerst konservativ hält man
am Althergebrachten und dem durch mehrals 2000 jährigen
Bestand geheiligten Brauch fest. Es ist das weniger
wunderbar, wenn man bedenkt, daß dieser Brauch
durch den religiösen Kult sanktioniert ist, daß gerade
die Länder, die am wenigsten ihre Anschauungen
geändert haben, am wenigsten dem Einflüsse des
Abendlandes ausgesetzt gewesen sind, und daß die
Anschauungen in den örtlichen Verhältnissen und der
ganzen Veranlagung des Orientalen wurzeln.
Jetzt, wo auch orientalische Reiche wie China die
feste Mauer nicht so unübersteiglich um das Land
erhalten können, wo doch der Fremdenzufluß nicht mehr
ferngehalten werden kann, wo man selbst die besten
Köpfe des Landes in deutsche Universitäten entsendet,
wo selbst das unzugängliche Tibet nicht mehr unzugäng-
lich bleibt, wird sich in den alten Anschauungen wohl
vieles ändern, wie sich jetzt auch bereits vieles geändert
hat. Die Prostitution wird schließlich anders beurteilt,
damit aber keineswegs etwa beseitigt werden. Im
Gegenteil, das Abendland bringt ihr frisches Blut und
neues — Geld. In China sind die Theehäuser noch
die besten Gelegenheiten für den sexuellen Verkehr;
sie werden mehr und mehr den Charakter abend-
ländischer Bordelle annehmen, und damit wird auch
im Morgenland der poetische Mantel der Romantik
entfernt, das Laster in seiner nacktesten Gemeinheit
freigelegt werden. Das ist ein Stück zweifelhafter
Kulturarbeit des Abendlandes im Morgenlande.
Der Ehebruch.
Es gibt wohl kaum ein Delikt; das so verschieden
beurteilt worden wäre wie der Ehebruch. Wahrlich
kein Wunder, wenn man bedenkt, daß doch auch die Ehe
nicht annähernd mit gleichem Maße gemessen, sondern
überall verschieden bewertet wird, so daß an einem
Orte das als eine mit dem Tode zu sühnende Schandtat
galt, was an anderen Orten als legitime und geheiligte
Ehe geachtet und gesetzlich geschützt wurde. Daß
dabei auch der Ehebruch nicht überall gleich beurteilt
werden kann, daß dem Anhänger der Monogamie
die gesetzlich gestattete Polygamie schon als ein Ehe-
bruch erscheinen muß, ist selbstverständlich, es ist
aber ebenso selbstverständlich, daß der Mann, der die
Vielweiberei als ein gesetzlich anerkanntes Eheverhältnis
betrachtet, über den Ehebruch überhaupt nicht so
urteilen kann wie der Monogame. Ich sage ausdrück-
lich „kann", denn daß auch der Monogame keineswegs
notwendig die jetzt bei uns gesetzlich sanktionierte,
praktisch aber nur sehr wenig befolgte Auffassung
des Ehebruchs zu haben braucht, daß tatsächlich auch
das Gesetz zeitweilig eine völlig abweichende Auf-
fassung gehabt hat, ist historisch erwiesen.
Der prinzipielle Unterschied besteht darin, daß
nach einer Auffassung Mann und Frau völlig gleich-
— 331 —
gestellt sind, daß dagegen nach der anderen Auffassung
eine solche Rechtsgleichheit nicht besteht und auch
gar nicht bestehen kann Der Mann, der beliebig
viele oder auch nur eine beschränkte Anzahl von Frauen
heiraten darf, kann selbstverständlich diese multiple
Ehe nicht dadurch verletzen, daß er außer mit den
legitimen Frauen auch noch mit weiblichen Individuen
sexuell verkehrt, die er nicht zu legitimen Frauen
erhebt. Es wäre geradezu ein Unsinn, das Gegenteil
behaupten zu wollen, da natürlich von mehreren Frauen
keine den Anspruch darauf erheben kann, daß der
Gatte nur mit ihr allein den sexuellen Akt ausübt. Es
haben im Gegenteil die übrigen Frauen den gleichen
Anspruch an ihn, und es ist in der Regel auch sein
gesetzlich ausdrücklich verbrieftes Recht, außer den
legitimen Frauen noch Dienerinnen in seinem Harem
zu halten, die ohne Ausnahme zu seiner Verfügung
leben. Das steht in keiner Weise im Widerspruch
damit, daß ein Teil der Haremsdamen legitime Gattinnen
sind, denn die legitime Gattin hat eine völlig andere
Rechtsbedeutung als die bloße Dienerin. Dieser Unter-
schied setzt aber doch nicht voraus, daß nur die
legitime Gattin auch die sexuellen Bedürfnisse des
Mannes zu decken habe. Es ist ja auch im mosaischen
Rechte, von dem gelehrt wird, daß es durch direkte
göttliche Inspiration entstanden sei, ein ganz gleiches
Rechtsverhältnis gegeben. Abgesehen vom mosaischen
Rechte tritt uns dieses Verhältnis auch in biblischen
Erzählungen entgegen. Jakob heiratete die Schwestern
Lea und Rahel. Das waren also, wenn man diesen
Ausdruck auf alttestamentliche Verhältnisse anwenden
will, seine legitimen Gattinnen. Diese gaben ihm aber
— 332 -
zum Kinderzeugen noch ihre Mägde Bilha und Silpa,
die nicht Gattinnen des Jakob wurden sondern Mägde
blieben und die Kinder nur in Vertretung ihrer
Herrinnen und für diese zur Welt brachten. Daß in
solchem Verhältnis nichts Unsittliches oder auch nur
Bedenkliches gesehen wurde, das geht aus der ganzen
Fassung und noch mehr aus der Stellung hervor, die
darauf Jakob Gott und seinem Volke gegenüber ein-
geräumt wird. Es wäre geradezu ausgeschlossen, daß
Jakob als Gottesmann und Stammvater des Judentums
noch heute geehrt und gepriesen werden könnte,
wenn die orientalische Art seines Ehebruchs auch nur
im mindesten anrüchig erschienen wäre.
Aber auch da, wo die Einzelehe Vorschrift und
Sitte ist, kann noch keineswegs ohne weiteres gefolgert
werden, daß dem Manne jeder sexuelle Verkehr, den
er außerhalb einer Ehe pflegt, als ein Ehebruch oder
gar als eine strafwürdige Tat zugerechnet werden
müsse. Es ist vielmehr ein solcher Verkehr „extra
muros" gesetzlich durchaus erlaubt gewesen. Die
Ehe begründet Rechte und Pflichten; sie ist ein Ver-
trag, der gehalten werden muß wie jeder andere
Vertrag. Man darf sogar annehmen, daß er noch
strikter eingehalten werden muß als jeder andere
Vertrag. Es ist dabei aber zu prüfen, welche Rechte
und Pflichten den beiden Kontrahenten obliegen und
zustehen. Zweifellos sind die Pflichten und Rechte
der beiden Eheleute ihrer ganzen Natur nach nicht
völlig die gleichen. Der Mann hat für den Unterhalt
der Frau zu sorgen, die Kinder zu ernähren und zu
erziehen, er hat nicht den Anspruch darauf, sich von
der Frau ernähren zu lassen, wenigstens ist dies bei
— 333 —
der Einzelehe in der Regel so wenig der Fall wie bei
der Vielweiberei. Nach dem Brauch vieler Völker hat
der Mann die Frau direkt zu kaufen; sie wird dadurch
sein Eigentum, ein Eigentum allerdings, das mit
bestimmten Rechten ausgestattet wird, das aber unter
allen Umständen die Pflicht hat, dem Manne die Treue
zu wahren, d. h. vor allen Dingen auch, sich keinem
anderen Manne hinzugeben. Der Mann erfüllt die
vertragliche Ehepflicht vollkommen, wenn er der Frau
die ihr zustehenden Rechte getreulich gewährt. Zu
diesen Rechten gehört aber nicht der Anspruch, daß er
sich anderen sexuellen Verkehrs enthalten müsse. Ich
meine hier natürlich nicht die bei uns giltige Ehe nach
der bei uns herrschenden Auffassung, sondern eine
Ehe nach rein rechtlichen Grundideen ohne jede reli-
giöse oder sentimentale Zutat.
Wir haben ja auch bei der Vielweiberei gesehen,
daß es neben den legitimen Gattinnen sehr wohl
auch Dienerinnen geben kann, die zu dem Mann in
einem bloßen Konkubinatsverhältnis stehen, das durch-
aus nicht durch den sexuellen Verkehr zu einem ehe-
lichen wird. Schon das zeigt klar den Unterschied
zwischen der vertraglichen Ehe und dem Konkubinat.
Auch das letztere kann ein Vertragsverhältnis sein,
ist es, streng genommen, sogar eigentlich stets. Es
ist nun auch nach Rechten, die den Ehebruch streng
untersagten, dem Manne doch erlaubt gewesen, sich
Konkubinen zu halten, ohne daß dies als eine Ver-
letzung der ehelichen Pflichten hätte angesehen werden
dürfen. Selbst unter der eisernen Herrschaft der
christlichen Kirche ist es nicht als Ehebruch angesehen
worden, wenn ein Ehemann das „Frauenhaus" besuchte
— 334 —
und dort mit den Dirnen sexuell verkehrte. Man hat
darin keinen Treuebruch gesehen, weil der Mann seine
häuslichen Pflichten trotz diesen Besuchen erfüllte, die
Familie nichts entbehren ließ und der Frau ihren Rang
und ihre Rechte einräumte, sich wohl auch nicht
weniger liebenswürdig im Hause zeigte, als er dies
ohne solche Besuche zu sein pflegte. Es wurde, mit
einem Worte gesagt, der Familie nichts entzogen und
da diese Extravaganz sich öffentlich und ebenso un-
geniert abspielte wie beim Hetärenwesen im alten
Griechenland, so hatte die Sache wenigstens den einen
Vorteil für sich, daß die abscheuliche Heuchelei und
der direkte Betrug völlig vermieden wurden. Warum
ich dies so besonders hervorhebe, wird sich ohne
weiteres aus der Besprechung der zweiten Auffassung
erklären.
Nach dieser zweiten Auffassung ist in Bezug auf
den Ehebruch eine völlige Gleichstellung von Mann
und Weib gegeben. Es leuchtet aber sofort ein,
daß dies, rein natürlich betrachtet, nicht berechtigt sein
kann, weil schon die Stellung von Mann und Weib in
der Ehe naturgemäß niemals die gleiche sein kann.
Selbst wenn man den bereits erwähnten Umstand, daß
der Mann die Familie zu ernähren hat, nicht gelten
lassen oder als eine willkürliche Einrichtung betrachten
wollte, würde man doch nicht übersehen können,
daß der Ehebruch der Frau die Familie und die Rechte
des Gatten ganz anders tangiert und verletzt als die
Extravaganz des Mannes. Die Frau ist stets sexuell
der empfangende Teil, wie sie es unter gesunden
Verhältnissen durch die Ehe auch wirtschaftlich ist.
Es beweist dies, daß es nicht angängig ist, bei der
— 335 —
Prävalenz des Mannes in der Ehe von einer willkür-
lichen Einrichtung zu sprechen. Man muß diese Ver-
hältnisse an der Hand ihrer Entwicklungsgeschichte
prüfen und kann nicht einfach den jetzigen Status
nach jetzigen Phrasen zu Grunde legen. Tut man
dies, dann wird man finden, daß überall die Frau
gekauft wurde, in die Gewalt des Mannes überging
und seiner Gewalt mit Leib und Leben unterlag. Das
ist ein instinktiv gefühltes und überall als richtig
anerkanntes Rechtsverhältnis gewesen, für dessen
Natürlichkeit, oder besser gesagt, natürliche Berech-
tigung die Natur selbst die Belege liefert. Wir finden
in der gesamten Tierwelt dasselbe Verhältnis, überall
prävaliert das männliche Geschlecht, denn Ausnahmen
bestätigen ja erfahrungsmäßig nur die Regel. Was die
Kultur künstlich ändert, das ist noch lange kein Beweis
dafür, daß die Kulturschöpfung naturgemäßer sein
müsse; es kann vielmehr vom natürlichen Standpunkt
aus der Kulturfortschritt als eine krankhafte Entartung
erscheinen. Ich bin keineswegs der Ansicht, daß der
Frauenkauf etwa die naturgemäße Vereinigung der
Geschlechter zur Ehe gewesen sei; aber das beweist
nicht contra, sondern pro, denn dieser Frauenkauf
war eben ein „Kulturfortschritt", wie der Kauf an sich
immer nur da denkbar ist, wo die Kultur sich soweit
entwickelt hat, daß der pekuniäre Vorteil aus Hand-
lungen und Überlassungen von Rechten gesucht wird.
In Bezug auf die Ehe kann man jeden Kauf sehr
wohl als eine krankhafte Entartung betrachten. Daß
dieser Kauf sich milderte und schließlich ganz ver-
schwand, ist eine Korrektur, den die Kultur an einem
selbstbegangenen Fehler vornahm. Ich will nicht weiter
— 336 —
auf diese Entwicklung eingehen, da schon das Gesagte
genügen dürfte, um darzutun, daß die kulturelle Ent-
wicklung viel willkürlicher waltet, als dies für den
Beobachter aus einer einzigen Kulturperiode in die
Erscheinung treten kann. Jedenfalls hat das, was die
Kultur aus der Ehe gemacht hat, für die Frage der
natürlichen Stellung von Mann und Weib keine Be-
deutung.
Mag man nun die Ehe auffassen, wie man will,
so wird doch die völlige Gleichstellung von Mann
und Weib als eine krankhafte Entartung des natür-
lichen Verhältnisses erscheinen müssen. Eine völlig
andere Frage ist es aber, ob die natürliche Ungleichheit
auch dahin führen müsse, eine doppelte Moral zu
schaffen, oder, was dasselbe sagen will, die sog.
Herrenmoral als etwas ganz Besonderes zu sanktio-
nieren. Hier ist der Punkt, der dem Hebel als Stütze
zu dienen hat, wenn man das ganze Gewölbe Jahr-
tausende langer Vorurteile freilegen will. Ich behaupte,
daß es nur eine Moral geben kann, daß niemals die-
selbe Tat beim Manne rühmlich, bei der Frau aber
verdammenswert sein kann. Wohl verstanden : dieselbe
Handlung. Man kann wohl sagen, daß hierin gerade
das Altertum konsequenter gewesen ist als unsere Zeit.
Wenn man annahm, daß die Frau in der Ehe anders
gestellt sei als der Mann, dann mußte man notwendig
dahingelangen, anzunehmen, daß jeder sexuelle Verkehr
einer Frau anders zu beurteilen sei als der des Mannes,
daß aber der Mann, der sich mit einer Frau verging,
wieder anders zu beurteilen sei, als der, der mit einem
Mädchen sich einließ.
Wenn man nun gleichwohl mit der Zeit eine völlig
— 337 —
andere Auffassung gewann und annahm, daß jede
verheiratete Person — gleichviel ob Mann ob Frau —
die Ehe breche, wenn sie mit einer anderen Person
außerhalb der Ehe sexuell verkehrte, so entsprang
dies lediglich einer veränderten Ansicht über die Ehe
selbst. Man hielt diese nicht mehr für ein bloßes
privatrechtliches Vertragsverhältnis, sondern für ein
Sakrament, das als solches verletzt werde, wenn das
vor Gott abgelegte Gelübde der gegenseitigen Treue
verletzt würde. Ich will hier auf die sakramentale
Eigenschaft der Ehe nicht eingehen, da diese im
orientalischen Liebesleben nur eine untergeordnete
Rolle spielen kann. An sich aber wird man die
Gleichheit der Treuepflicht bei beiden Gatten moralisch
als einen Fortschritt betrachten dürfen, mindestens rein
theoretisch gedacht. In der Praxis sieht die Sache
— leider — in der Regel erheblich anders aus, und
das ist dennoch kein Wunder, weil sich die natürliche
Verschiedenheit der Geschlechter nicht hinwegdekre-
tieren läßt, und weil man ferner um die Tatsache, daß
die Frau dem Manne die Kinder ins Haus bringt und
das absolute Recht des Mannes, nur für die eigenen
Kinder Vaterpflichten übernehmen zu wollen, nicht
herumkommen kann. Was helfen dagegen alle Phrasen
über die Gleichberechtigung der Frauen?
Gleichwohl wird gesagt, daß die zweite Ansicht über
den Ehebruch ein moralischer Fortschritt sei, daß er
es aber nur theoretisch wäre. Das trifft zu, denn der
moralische Fortschritt sieht praktisch ganz anders aus,
weil er im allgemeinen nicht befolgt wird und am
wenigsten von denen befolgt worden ist, die ihn in
scharfen Gesetzen festlegten, ihn selbst öffentlich und
22
— 338 —
geheim verletzten und die Untertanen köpfen ließen,
wenn sie dem bösen Beispiel derer folgten, die ihnen
doch eigentlich ein Vorbild hätten sein müssen. Es
ist eine ungeheure Heuchelei förmlich in Reinkultur
gezüchtet worden, und das trifft doch wahrlich auf
unsere Zeit genau so zu wie auf alle Zeiten. Der
Wille ist stark, aber das Fleisch ist schwach; sehr oft
ist aber auch der Wille nicht stark oder, um dem
Zitat näher zu kommen, der Geist nicht willig. Hier
liegt aber auch der wundeste Punkt des Systems;
man verlangt den willigen Geist und das starke
Fleisch bei der Frau, setzt aber beides bei dem Manne
nicht voraus, obwohl man sich nach außen hin zu
dem Grundsatz bekennt, daß weder der Mann noch
die Frau extravagieren dürfe. Ja, trotz dieses Grund-
satzes tut es dem Manne nicht einmal viel Abbruch,
wenn er die Ehe bricht; die Frau ist geschändet.
Man ist dann aber auch noch weiter gegangen
und hat das, was naturgemäß nur für die Ehe an-
wendbar sein kann, auch auf junge und alte ledige
Leute ausgedehnt. Es ist sogar der Ehebruch vor
der Ehe konstruiert worden, und man darf mit vollstem
Rechte sagen, mehr Zerfahrenheit, mehr Konfusion,
Heuchelei und Verwirrung als auf diesem Gebiete hat
es auf keinem anderen gegeben, selbst nicht auf dem
des religiösen Dogmas, und das will doch wahrlich
viel sagen.
Für das orientalische Liebesleben kommt fast nur
die alte Ansicht über den Ehebruch in Frage, d. h. die,
nach der nur die verheiratete Frau die Ehe brechen
kann. Da nun aber die Frau allein die Ehe auch
nicht brechen kann, wenn sie nicht einen Mitschuldigen
— 339 —
findet, so ist konsequenter Weise der Genosse dann
als Mitschuldiger gleich bewertet und gleich bestraft
worden. „Wer die Ehe bricht mit jemands Weibe,
der soll des Todes sterben, beide, Ehebrecher und
Ehebrecherin, darum daß er mit seines Nächsten Weib
die Ehe gebrochen hat." „Wenn jemand erfunden
wird, der bei einem Weibe schläft, die einen Ehemann
hat, so sollen sie beide sterben, der Mann und das
Weib, bei dem er geschlafen hat; und sollst das Böse
von Israel thun." So heißt es im mosaischen Rechte,
und so dachte und denkt im allgemeinen der Orient.
Immer ist die verheiratete Frau beim Ehebruch
die beteiligte Person, denn nur der Familienstand des
weiblichen Teiles entscheidet. Nach mosaischem
Rechte wurde bis zu einem gewissen Grade die ver-
lobte Dirne der Frau gleich geachtet, denn wer die
Verlobte eines Andern verführte, der war ebenfalls des
Todes schuldig und wurde gesteinigt. Hatte die
Verlobte eingewilligt oder sich nicht durch Schreien
oder sonstwie des Verführers erwehrt, so wurde sie
mit gesteinigt. War sie im Felde von einem Manne
überfallen worden, so daß ihr das Schreien nichts
genutzt haben würde, da es selbstverständlich niemand
gehört hätte, so durfte ihr nichts geschehen. Es war
also auch nach mosaischem Rechte eine Art Ehebruch
vor der Ehe möglich; das lag aber nur an der durchaus
berechtigten Auffassung, daß der Mann das Recht
habe, die Frau als Jungfrau heimzuführen, und daß
er davor gesichert werden müsse, etwa die Kinder
eines anderen Mannes in seine Ehe zu nehmen und
als die seinen zu pflegen. Ich halte diese Ansicht somit
für kerngesund und für durchaus natürlich.
22«
— 340 —
Da ein Ehebruch nur dann vorlag, wenn die
Frau eines Andern dabei beteiligt war, so blieb es
völlig gleichgiltig, ob der Mitschuldige ledig oder
verheiratet war. Die Annahme eines doppelten Ehe-
bruchs, die wir überall in den mittelalterlichen und
nachmittelalterlichen deutschen Rechten als ein beson-
deres Curiosum finden — berechtigt allerdings bei
der Annahme einer sakramentalen Ehe — , kannte
weder das mosaische Recht noch der übrige Orient.
Die Strafen für die Ehebrecher waren fast überall sehr
streng, und sie wurden schnell vollzogen, wenn die Tat
bekannt worden war. Man machte da keine Umstände,
verlangte kein Scheiduhgsverfahren, keinen besonderen
Strafantrag, sondern strafte aus dem Grunde, den das
mosaische Recht in die Worte kleidete „und sollst
das Böse von Israel thun". Die meisten Völker er-
kannten wegen Ehebruchs auf Todesstrafe, die durch
Steinigen, Verbrennen oder auch wohl durch das
Schwert vollzogen wurde, wenn nicht die Ehebrecher
in die Hand des betrogenen Gatten gegeben wurden
dem dann keine Schranken auferlegt waren. Er
konnte die Rache nehmen, die ihm zusagte, und daß
es dabei den Ehebrechern in der Regel an den Kragen
ging, das liegt in der Natur der Sache. In verschie-
denen Ländern war auch das Verfahren üblich, das
man, wie wir gesehen haben, im Kriege oft gegen
die besiegten Feinde anwendete; man entmannte den
Mitschuldigen der Ehebrecherin. Dies tat man in der
alten „bewährten" Weise, die meist das Leben kostete,
in diesem Falle auch wohl auf diesen Erfolg besonders
eingerichtet wurde. Nach Lindschots Orientalischer
Reisebeschreibung hat sich in Bengalen dieser ener-
— 341 —
gische Brauch bis zum Ende des XVII. Jahrhunderts
ganz allgemein erhalten; man darf sogar wohl an-
nehmen, daß er sehr weit über diese Zeit hinaus
Geltung behielt, da die indischen Völker mit großer
Zähigkeit an ihren alten Bräuchen und Strafen fest-
gehalten haben. Wir finden auch bei den Chinesen
noch heute barbarische Strafmethoden, die eigentlich
dem blutigen Rüstzeug des Mittelalters angehören.
Noch bis in unsere Zeit hinein wurde bei den Hindus
die Ehebrecherin auf einen öffentlichen Platz geführt
und öffentlich von Hunden zerrissen, also eine ganz
entsetzliche Todesart, die an den Ausspruch des
Kaisers Diocletian erinnert, der da sagte: „Die Hunde
müssen merken, daß sie sterben!" Mit den Hunden
meinte er natürlich die zum Tode Verurteilten, denen
er nicht den schnellen Tod von Henkershand gönnte.
Er war vielmehr der Ansicht, daß der Tod an sich
keine Sühne für ein scheußliches Verbrechen sei, daß
vielmehr nur die entsetzlichen Martern, durch die der
Tod herbeigeführt wurde, als eigentliche Strafe gelten
könnten. Eine harte Ansicht, die ja mindestens nach da-
maliger Ansicht eine Berechtigung hatte. Zweifelt man
doch auch heute noch, ob es wirklich eine Gnade sei,
einen zum Tode verurteilten schweren Verbrecher
lebenslänglich im Zuchthause seinen Qualen zu über-
lassen, statt ihn durch einen schnellen und schmerz-
losen Tod von seinem elenden Dasein zu erlösen.
Ich möchte, da ich einmal diese vielverbreitete
Meinung angeführt habe, hinzufügen, daß man hierüber
jedenfalls sehr verschiedener Ansicht sein kann, und
daß die Verurteilten selbst erfahrungsmäßig über viele
Dinge gründlich anders denken als die „Theoretiker",
— 342 —
die ihre Kritik in der Regel durch keinerlei Sachkunde
trüben lassen. Wer sich psychologisch das klar
machen kann, was in der Seele eines zum Tode
Verurteilten vorgeht von der Verurteilung ab bis zu
dem entgiltigen Beschluß über sein Schicksal, von
dem Augenblick an, in dem ihm eröffnet wurde, daß
vom Rechte der Gnade kein Gebrauch gemacht wurde,
bis zu dem Augenblick, in dem das Armesünder-
glöckchen ertönt und er selbst hinausgeführt wird
zum Blutgerüst, der würde vielleicht etwas weniger
vorschnell fertig sein mit dem Worte seiner Meinung.
Schade, daß die Verurteilten selbst nicht diese Seelen-
folter zu schildern vermögen, schade, daß man gerade
sie so wenig nach dem sicherlich kompetentesten
Urteil fragen kann, ob die Hinrichtung oder die
Begnadigung die größere Gnade sei. Ich meine, daß
trotz der humanen Art der schnellen und schmerz-
losen Hinrichtung auch bei uns noch die Deliquenten
merken, daß sie sterben müssen, wenn auch in etwas
anderem Sinne als dem des Diocletian und dem der
Hindus. Der Mitschuldige am Ehebruch wurde nicht
von Hunden zerrissen; man schonte aber auch ihn
nicht, sondern sorgte dafür, daß er gleichfalls durch beson-
dere Qualen die Größe seiner Schandtat sühnte, und
daß er anderen leichtfertigen Männern als abschrecken-
des Beispiel diente. Man ließ ihn lebendig verbrennen.
Ich zweifle nicht daran, daß derartige Strafen noch
heute dort vorkommen, wenn sie sich wohl auch
mehr der öffentlichen Beobachtung, mindestens durch
die Ausländer, die sich um alle sie nichts angehenden
Dinge kümmern, entziehen. Die Härte der orienta-
lischen Ehebruchsstrafen ist erklärlich und, wenn man
— 343 —
sich nicht geniert, die Wahrheit zu bekennen, ganz
gerechtfertigt dadurch, daß den Männern wahrlich hin-
reichende Gelegenheit geboten sei, ihre sexuellen Be-
dürfnisse auch außerhalb der Ehe zu befriedigen, so
daß nicht einzusehen ist, warum denn gerade die Frau
eines Andern das Objekt der Begierde sein muß.
Ferner erklärt sich die Strenge aus der orientalischen
Auffassung der Ehe, die mit Recht als unantastbar
gilt und nicht von jedem x-beliebigen Liederjahn
gestört werden darf. Daß nur die Frau die Ehe mit
einem Mitschuldigen brechen kann, versteht sich von
selbst aus den oben erwähnten Gründen. War dies
nach römischem Rechte schon dadurch logisch, daß
dem Manne das Jus tori über die Frau zustand,
nicht auch umgekehrt der Frau über dem Manne —
was ja ohnehin dieses Recht auf beiden Seiten auf-
gehoben haben würde — , so ist dies nach orienta-
lischer Sitte erst recht selbstverständlich.
Eins der interessantesten Völker des Orients sind
die Lesghier, die den östlichen Kaukasus bewohnen
und den Russen außerordentlich viel zu schaffen
gemacht haben. Dieses Volk ist zwar in zahllose
Stämme zerfallen, die sich gegenseitig befehden und
durch die bei ihnen noch im Schwange stehende
Blutrache dezimieren, so daß die einzelnen Stämme
sich sprachlich nicht einmal mehr verständigen können.
Sie bilden aber, vereint gegen äußere Feinde, eine
gefährliche Macht, weil die Männer mutig, kraftvoll
und ausdauernd, die meist befestigten Wohnorte in
den wilden Gebirgsgegenden schwer zugänglich und
die Wege ins Innere des Landes für eine fremde
Kriegsmacht Wege in Tod und Verderben sind.
— 344 —
Dieses Volk, das dem Islam huldigt, die Vielweiberei
gestattet und noch fast dieselben Eheansichten hegt,
die das altjüdische Volk kannte, sind mit dem gleichen
Haß gegen die Ehebrecherin und ihren Mitschuldigen
erfüllt. Sie haben auch noch die altjüdische Strafe
gegen die Ehebrecher? die Steinigung.
Ahnlich denken auch die Tscherkessen über den
Ehebruch; sie halten ihn für das schwerste Verbrechen,
haben aber keine gesetzliche Strafe wie die Lesghier,
sondern überlassen die Schuldigen der Privatrache,
der dort allerdings in der Regel auch der Mörder ver-
fällt. Die Frauen haben nicht die Stellung der sonst
im Orient wohnenden Frauen; sie sind nicht isoliert,
nicht vom öffentlichen Leben geschieden und bewegen
sich ziemlich frei und unverschleiert. Den Mädchen
wird große Schönheit nachgerühmt. Sie sollen durch
schönen kräftigen Wuchs, schönen Teint und unge-
wöhnliche Anmut sich vor den Weibern der [meisten
anderen Gegenden auszeichnen. Das ist für die
tscherkessischen Mädchen im allgemeinen kein Glück
gewesen, denn sie waren deshalb besonders begehrt
und bildeten einen sehr guten Handelsartikel, da sie
in Massen an die türkischen Harems verkauft wurden.
Dieser Umstand aber beweist wohl am besten, daß
die Freiheit der Tscherkessinnen in der Regel ganz
erheblich überschätzt wird. Sie existiert in Wirklich-
keit nicht, wenn auch, wie schon gesagt, den Mädchen,
ebenso den Frauen, im allgemeinen nicht die schweren
Einschränkungen auferlegt werden, die ihnen im Orient
sonst das Leben verbittern könnten, wenn nicht die
Gewohnheit und die Unkenntnis einer anderen Lebens-
weise diese Verbitterung verhüteten. Selbst der Frauen-
- 345 —
kauf im eigenen Lande besteht noch und läßt deshalb
den Verkauf der Töchter an ausländische Harems nicht
in dem Lichte erscheinen, in dem er sonst erscheinen
würde. Dieser Frauenkauf wird allerdings durch eine
gewisse Romantik verschleiert. Es ist nämlich Landes-
sitte, daß der Bräutigam die Braut entführen muß.
Er tut dies heimlich und muß mit großer Vorsicht
zu Werke gehen, da die Mädchen, besonders die
heiratsfähigen ziemlich scharf bewacht werden, nicht
allein vom Vater, der noch ganz das altpatriarchalische
Familienoberhaupt ist, sondern auch von den jungen
Burschen des Ortes, die vielleicht selbst Absichten
auf die Schöne haben, es im übrigen auch wohl für
ihre Pflicht halten, den nachdrücklichsten Schutz vor
Räubern zu gewähren. So hat der tscherkessische
Liebeswerber einen gefährlichen Stand. Er muß die
Braut rauben, um sie zu entführen, und er muß damit
rechnen, daß diese Tat bemerkt wird, daß die hei-
mischen Burschen ihm die Beute streitig machen, über
ihn herfallen und sie ihm zu entreißen suchen. Nicht
selten kommt es vor, daß der Verliebte fürchterlich
geprügelt oder gar getötet wird, wenn er sich die
Prügel nicht gefallen läßt, die er sich allerdings gar-
nicht gefallen lassen darf, wenn er nicht seine Ehre
verlieren will. Ist die Entführung gelungen, dann
muß der Bräutigam auch noch an den Vater der Braut
den Kaufpreis bezahlen. Die Sache ist aber weder
ungefährlich noch billig, und man kann es den Tscher-
kessen schon deshalb nicht verdenken, wenn sie den
Ehebruch furchtbar rächen. Daß auch bei ihnen nur
die außereheliche sexuelle Befriedigung der Frau, nicht
auch die des Mannes als ein Ehebruch gilt, ergibt
— 346 —
sich mit genügender Logik schon aus der Sachlage
und den Verhältnissen der Eheleute zu einander. Die
Frau ist vom Manne doppelt erworben, einmal durch
die kühne Entführung und ferner durch Zahlung des
vereinbarten Preises.
Bei den Griechen, bei denen die Frau im Altertum
keine sehr hervorragende Rolle spielte, war es nach
Solons Gesetz gestattet, die Ehefrau, die des Ehe-
bruchs überführt war, einfach als Sklavin zu verkaufen;
mit dem Ehebrecher, also ihrem Mitschuldigen, rechnete
der betrogene Gatte selbst ab. Interessant ist wohl
auch die Rechtslage bei einem Volke, das sich als
direkte Nachkommen der alten Spartaner bezeichnete,
den Mainoten. Das ist ein wildes, räuberisches Volk,
das den südlichen Teil der Halbinsel Morea bewohnte,
meist von der Seeräuberei lebte und kriegerisch bis
auf die Knochen war. Es fühlte sich keiner vor dem
andern sicher, und deshalb waren die Einzelwohnungen
geradezu als Festungen angelegt. Das mag wohl
durch die extensive Anwendung der Blutrache not-
wendig gewesen sein, denn sobald einmal Blut ver-
gossen war, wurde strenge Blutrache geübt, die aber-
mals Blutrache verlangte und so immer weitere Kreise
ziehen mußte. War bei diesem Volke ein Ehebruch
vorgekommen, so verfiel die schuldige Frau, die doch
ohnehin in der Gewalt des Ehemannes verblieb, dessen
Rache, der Mitschuldige aber wurde für vogelfrei
erklärt; wer ihn fand, durfte ihn erschlagen. Hatte er
die Frau eines Andern etwa aus dessen Gewalt ent-
führt, um mit ihr zu fliehen oder sie mit in sein festes
Heim zu nehmen, so war das Paar vogelfrei.
Ich darf mich wohl auf diese Auslese der ver-
— 347 —
schiedenen Ehebruchsstrafen beschränken; sie umfaßt
alles, was früher an Strafen und an Privatrache vorkam
und noch jetzt Brauch ist. Das Wesentlichste ist
immer die orientalische Auffassung, daß nur die Frau
nicht auch der Mann die Ehe durch eine Extravaganz
bricht. Es dürfte hier interessieren, daß auch Christus
nur von diesem Gedanken ausgegangen ist, und daß
deshalb seine über das jüdische Gesetz weit hinaus-
gehende, nicht aber es aufhebende, Ansicht des Ehe-
bruchs, daß der, der ein Weib ansehe, um es zu
begehren, mit ihr die Ehe schon gebrochen habe, stets
im orientalischen Sinne den Ehebruch an sich betrachtet.
Es ist da lediglich die Rede von der verheirateten
Frau, die ein Anderer auch in Gedanken nicht begehren
dürfe, da ihn schon dieses Begehren zum Ehebrecher
stempele. Es ist das vollständig zutreffend und inter-
essant für die, die nicht nach dem Willen des Täters
forschen sondern immer nur den Erfolg, selbst den
vom Täter nicht gewollten, als entscheidend für die
Beurteilung gelten lassen wollten. Diesem prinzipiellen
Fehler einer Gerechtigkeitspflege konnte natürlich
Christus nicht gutheißen. Daher sein Ausspruch.
Was aber hat das Dogma aus der Lehre Christi
gemacht? Eine sakramentale Ehe und auf der ganzen
Linie so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was
diese Lehre predigt.
Der Schleier.
Es ist eine dem Europäer besonders auffallende
Erscheinung, daß die orientalischen Frauen, wenigstens
in den überwiegenden Ländergebieten sich, nur tief
verschleiert zeigen. Der Schleier ist dabei nicht das,
was er bei uns zu sein pflegt, ein duftiges, durch-
sichtiges Gewebe, das nur dann die Reize des Gesichts
verhüllt, wenn diese — überhaupt nicht vorhanden
sind, sonst aber sehr wohl die Gesichtszüge unserer
Damen deutlich erkennen läßt, ihnen sogar nicht selten
noch einen besonderen pikanten und koketten Reiz
gewährt, sondern eine völlige Verhüllung, die nichts
frei läßt als die Augen, die aus dieser Hülle das leiden-
schaftliche Feuer des Empfindens hervorsprühen lassen.
Der Schleier wird aus verschiedenen Streifen eines
weißen Stoffes kunstvoll angelegt, und erinnert zuweilen
an das Aussehen eines Corpsstudenten, der bei der
Mensur allzu reichlich mit Schmissen beglückt worden
ist die ihm im späteren Leben einen hübschen Nimbus
verleihen als Beweis besonderer Bravour gelten und
doch eigentlich nur beweisen, daß — der Gegner die
Waffe besser zu führen wußte.
Daß eine solche Verschleierung nicht gerade die
Lust des Daseins erhöhen kann, daß sie vielmehr an und
für sich schon höchst unbequem, in orientalischer
— 349 —
Temperatur geradezu unerträglich ist, das bedarf wohl
keines besonderen Nachweises, und wenn man auch
bei uns die tägliche Erfahrung machen kann, daß auf
die Modedame das paßt, was der Apostel Paulus im
ersten Korintherbrief 13 über die Liebe sagt: „Sie
verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie
duldet alles", wenn wir auch von unserer Herrenwelt
feststellen, daß der Mode zur Liebe selbst die höchsten
Kragen, die keine freie Bewegung gestatten, das Atmen
erschweren und selbst die Folter dadurch, daß sie
länger peinigen, übertreffen, mit freudigem Mute
getragen werden, daß die unnatürliche Stärkewäsche
den Oberkörper in eine Art Backofen verwandelt, so
läßt sich doch wohl ohne weiteres annehmen, daß die
orientalischen Frauen einem anderen Gebote als dem
der Mode folgen. Das trifft auch in der Tat zu.
Man hält nun in der Regel den weisen Moham-
med für den verantwortlichen Redakteur dieser „Mode-
torheit", tut ihm damit allerdings ebenso bitteres
Unrecht wie so oft dem „Verantwortlichen", den man
büßen und leiden läßt für Dinge, an denen er unge-
heuer unschuldig ist, wenn man nicht den Begriff
des dolus eventualis so weit ausdehnen will, um
anzunehmen, der Verantwortliche müsse wissen, es
könne auch einmal in sein Blatt eine bedenkliche
Notiz geraten, sogar habe er diese schon dadurch
gewollt, daß er überhaupt Redakteur geworden sei.
Anders ließe sich wenigstens auch ein Verschulden
des großen Propheten an der Verschleierung der
Orientalinnen nicht konstruieren, denn Mohammed
hat sie nicht befohlen, und der Koran gebietet sie
nicht. Man darf aber doch sagen, daß die Vorschrift
— 350 —
des Schleiers nicht so völlig unsinnig und unbegründet
ist, wie sie gewöhnlich dem Fremden erscheint. Die
Frauen im Orient haben geliebt und gelebt, wie es
ihre leidenschaftliche Natur ihnen wünschenswert er-
schienen ließ; sie haben sich als leichtfertig und ober-
flächlich und, wie die Gelehrten des Islam behaupten,
auch als minderwertig erwiesen und es dadurch selbst
verschuldet, wenn schließlich energischere Maßregeln
getroffen wurden, um ihnen ihre Pflichten als Frauen
erheblich nachdrücklicher zu Gemüte zu führen als
durch einfache religiöse Hinweise und Wünsche seitens
der gestrengen Gatten, die gegen ihre eigene Moral
allerdings weniger streng waren, dies ja aber auch
nicht zu sein brauchten, da die Rechte von Mann
und Weib, besonders in der Ehe, wie wir gesehen
haben, durchaus nicht die gleichen sein konnten. Es
gab kein besseres Mittel als den Schleier. Haben
doch selbst die christlichen Nonnen dieses Mittel
angenommen, um dadurch allen Anfechtungen der
Welt zu entgehen und auch äußerlich zum Ausdruck
zu bringen, daß sie auf irdische Freuden Verzicht
geleistet haben und als Himmelsbräute die Treue halten
wollen. Wenn es nun auch gewiß im Abendlande
niemals gelungen sein würde, gegen alle weiblichen
Wesen einer derartigen Vorschrift Geltung zu ver-
schaffen, so würde dies im Orient nur belächelt worden
sein, denn dort gilt der Wille des Mannes, und das
Weib hat zu gehorchen, mindestens in der Öffentlich-
keit. So war es dort nicht übermäßig schwer, ein
Gebot ein- und durchzuführen, das die Verwunderung
des Abendlandes erregen muß. Die Sache hat aller-
dings doch noch einen Haken. Auch im Orient wäre
— 351 —
die Verschleierung wohl schwerlich allgemein durch-
geführt worden, wenn man nicht doch das religiöse
Moment als Beweis für die Notwendigkeit dieser
Sitte hätte heranzuziehen können.
Ich habe schon gesagt, daß der Koran solchen Brauch
nicht vorschreibt, und Kenner des Islam werden sogar
ohne besondere Mühe den Nachweis zu führen ver-
mögen, daß im Gegenteil die Verhüllung des Gesichts
dem religiösen Gesetz direkt zuwiderläuft, der Schleier
ist also viel eher verboten als vorgeschrieben. Was
tuts? Ohne ein religiöses Mäntelchen hätten wohl
selbst die Männer nicht allgemein eingewilligt oder
gar erst angeordnet, daß ihre Frauen nur verschleiert
die Straße betreten dürften, und niemals würde schon
aus diesem Grunde der Schleier Brauch geworden sein.
Was wird aber selbst aus den klarsten Religionslehren
im Laufe der Jahrhunderte gemacht? Ist es in irgend
einem religiösen Bekenntnis jemals anders gewesen?
Wer die Zersplitterung der christlichen Konfessionen,
die doch alle auf den sonnenklaren Lehren Christi
aufgebaut sein sollen, die es also garnicht geben
könnte, kennt, der wird wissen, daß auf diesem
Gebiete stets aus schwarz weiß und aus weiß schwarz
gemacht wird, daß es dann noch ein Dutzend Zwischen-
sekten gibt, die grau sagen, was die andern schwarz
oder weiß bekennen, und daß bei allem Dogma die
Grundlehre vergessen und verbessert und vermehrt
ist. Warum soll der gläubige Muselmann nicht auch
glauben, daß eigentlich Mohammed doch den Frauen
habe anbefehlen wollen, wenn es die gelehrten Koran-
ausleger so interpretieren? Das aber gilt für des
Glaubens schönsten Beweis, daß nicht die klare Ver-
— 352 —
nunft entscheidet, denn was man weiß, das braucht
man nicht erst zu glauben, sondern der Glaube soll
auch da nicht wanken, wo die klare Menschenvernunft
das Gegenteil beweist. Diesen Glauben besitzt der
orientalische Fatalist viel eher als sonst ein Mensch
auf Gottes schöner Welt, mag er auch sein „Credo
quiaabsurdu m", noch so laut in die Welt hinausrufen.
Der Koran schreibt den Frauen ein sittliches
Betragen vor, gebietet ihnen, die Männer nicht an
sich zu locken und sie nicht zu viel zu reizen, sondern
viel eher die Augen niederzuschlagen, wenn freche
Blicke sie begehrend anschmachten. Das war gut
und weise; auch Mohammed kannte seine Landsleute
und sein Volk und wußte recht gut, warum er solche
Lehren niederschrieb, resp. sie mündlich verbreitete.
Wer den Orient kennt, weiß, daß ein solches Gebot
sehr notwendig war und auch heute noch ist. Andere
Länder könnten davon nur lernen. Wenn nun die
Ausleger aus dieser Vorschrift das Gebot des Schleiers
fabriziert haben, so ist gar nicht in Abrede zu stellen,
daß sie etwas interpretiert haben, was im Koran nicht
steht, dem Koran sogar widerspricht, was aber gleich-
wohl mit dem Geiste der mohammedanischen Religion
durchaus vereinbar ist und nach diesem Geiste tausend-
mal vernünftiger und berechtigter ist als vieles von
dem, was in andere Religionen hineininterpretiert
worden ist, nicht selten Grund zu den grausamsten
Menschenschlächtereien gegeben und so der Welt ein
Schauspiel geboten hat, das sehr wohl geeignet gewesen
wäre, das ganze religiöse Gebäude zum Einsturz zu
bringen, wenn der Mensch nicht schon instinktiv das
Bedürfnis nach einem religiösen Halt empfände.
— 353 —
Nun gehörte aber auch keine besondere Erfindungs-
gabe dazu, den Schleier einzuführen; die Gelehrten
des Islam brauchten vielmehr nur Bestehendes zu
acceptieren, denn die Verschleierung der Weiber ist
in der Tat älter als der Mohammedanismus. Schon
lange vor Mohammed bestand sie bei verschiedenen
orientalischen Völkern. Es läßt sich freilich absolut
nicht feststellen, wo zuerst diese Sitte entstanden ist.
Sie dürfte aber bereits den ältesten Ägyptern ebenso
den Assyrern nicht unbekannt gewesen sein. Zu
einer Art religiöser Vorschrift — wir haben gesehen,
mit welcher Berechtigung — ist sie aber erst durch
die Anhänger Mohammeds erhoben worden.
Auch im alten Griechenland und selbst im alten
Rom kannte man die Schleier, verwendete sie aller-
dings nur, wie dies unsere heutige Damenwelt noch
tut, mehr als Schmuck- und Zierstück. Es ist nicht
zu verkennen, daß der Schleier sich zu diesem Zwecke
ganz vorzüglich eignet; er ist geradezu eine raffinierte
Toilettentechnik, denn niemals werden Reize, die frei
und offen zur Schau getragen werden, in dem Maße
die Aufmerksamkeit und Begierde reizen, wie dies
durch die zarte Verhüllung des Schleiers geschieht,
der die Schönheit nicht völlig verbirgt, ihre detaillierten
Geheimnisse aber nur erraten, nicht klar erkennen
läßt. Wenn in unserer Zeit der Schleiertanz seinen
Zauber auf die Besucher unserer Theater wirken
läßt, so ahnt man wohl kaum, daß auch dieses graziöse
Spiel das orientalische Altertum bereits gekannt und
bewundert hat. Freilich gab es in früheren Jahrhun-
derten nicht den Glanz der feenhaften Beleuchtung,
die in unseren Tagen durch die wunderbare Wirkung
23
— 354 —
der besten Beleuchtungseffekte erst den Schleiertanz
zu dem macht, als was er jetzt erscheint, sondern die
altorientalischen Tänzerinnen konnten nur durch die
Grazie ihrer Bewegungen die Zuschauer hinreißen.
Das ist ihnen aber auch vorzüglich gelungen. Das
Publikum, die sinnlich veranlagten Männer, liebte
allerdings die weibliche Grazie mit und ohne Schleier.
Letzterer übte auch da seine magische Kraft dadurch,
daß er die Reize mehr ahnen als erkennen ließ. Es
liegt zu tief in der menschlichen Natur begründet, daß
nicht bloß das Verbotene, sondern auch das Geheimnis-
volle reizt. Ich möchte deshalb wohl behaupten, daß
man der wirklichen Sittlichkeit einen schlechten Dienst
erweist, wenn man auf alles Nackte so fanatisch Jagd
macht. Wer zur Unsittlichkeit anreizen will, der wird
seinen Zweck viel eher erreichen, wenn er sich in
geschickter Weise des Schleiers bedient, als wenn er
brutal das Nackte zur Schau stellt. Ob man daran
nicht auch im Orient gedacht hat? Ob nicht der
seltene Anblick des Weibes dort die Männer viel
mehr reizt, als wenn die Weiber frei von Schleiern
sich stets und ständig den Blicken präsentieren? Wie
vorteilhaft die orientalische Sitte zuweilen sein kann,
das werden diejenigen Frauen am besten beurteilen
können, die von der gütigen Natur bei der Verteilung
der Schönheit besonders stiefmütterlich behandelt
worden sind. Für diese ist allerdings der Schleier
nicht erfunden worden, und das ist eigentlich das
Wunderbarste an der Sache.
Die Jungfräulichkeit.
Daß es für die Frage des Liebeslebens eines
Volkes von eminenter Bedeutung ist, festzustellen,
wie die Jungfräulichkeit im Allgemeinen bewertet wird
— der Einzelne mag dabei stets seine abweichende An-
sicht vertreten — versteht sich ganz von selbst. Nun
habe ich es aber nicht mit dem Liebesleben eines
Volkes zu tun, sondern einer großen Anzahl von
Völkern, wenn ich das orientalische Liebesleben
besprechen will. Die Ansichten über den Wert der
Jungfräulichkeit werden nicht allein durch Landes-
sitten, sondern auch durch religiöse Lehren und durch
die allgemeine Stellung und Bewertung der Frauen
stark beeinflußt. Ich glaube, daß es kaum ein orien-
talisches Land gibt, das so klar und deutlich die
wechselnde Stellung einer orientalischen Frau zeigen
kann, wie Japan.
Dort galten im hohen Altertum die Frauen außer-
ordentlich viel, d. h. sie hatten dieselbe Stellung wie
der Mann und denselben Wert, allerdings wohl auch
dieselben Pflichten; sie beteiligten sich sogar an den
Kämpfen, fochten Seite an Seite mit ihren Männern
und waren sogar wegen ihrer großen Tapferkeit im
Kriege sehr geschätzt. Es wird den japanischen
23*
— 356 —
Frauen des Altertums nachgerühmt, daß sie geistig
und physisch den Männern in keiner Weise nach-
gestanden hätten. Sie waren auch von der Herrschaft
nicht ausgeschlossen, und spielten im geistigen Leben
dieselbe Rolle wie die Männer. Das war für die
Frauen jedenfalls ein idealer Zustand; er war aber
nicht von Dauer, sondern änderte sich schnell, nach-
dem die fremden Religionen Buddhismus und Confucio-
nismus ihren Einzug gehalten hatten. Wie es scheint,
haben die japanischen Frauen selbst ihre Stellung
untergraben; denn drei Frauen waren es, die man zur
Erforschung jener Religionen ins Ausland sendete.
Selbst die Namen dieses weiblichen Dreigestirnes
sind der Nachwelt erhalten: Jenshini, Jenzoni und
Keigeni. Die japanischen Frauen, nicht bloß die
drei Entsendeten, haben für die Einführung der
fremden Religionen, gegen die sich die Männer ziem-
lich ablehnend, mindestens sehr gleichgiltig verhielten,
mit Erfolg ihren Einfluß geltend gemacht, und ent-
weder ist es wahr, daß die weibliche Logik nicht viel
wert ist, oder daß dem Weibe die klare Einsicht und
Erkenntnis des Mannes fehlt, oder die japanischen
Frauen haben ihre Macht überschätzt, denn den Ein-
fluß jener Religion auf die Stellung der Frau haben
sie sicherlich nicht ins Bereich ihrer Berechnungen
gezogen. Sonst würden sie sich nicht um die Ein-
führung der fremden Religionen bemüht haben. Nach-
dem Japan nämlich diese Religionen acceptiert hatte,
war es mit der Herrlichkeit der Frauen sehr bald
vorbei; die Japanerin sank auf das Nichts herab, das
die chinesischen Frauen und die Frauen der meisten
orientalischen Länder für das öffentliche Leben waren
— 357 —
und zum großen Teile noch heute sind. Besonders
unter der Tokugawa-Regierung vollzog sich ein
Wandel, den der unbeteiligte Beobachter überhaupt
nicht für möglich halten kann. Die Frauen, die im
Krieg und Frieden vollwertige und gleichberechtigte
Genossinnen der Männer gewesen waren, wurden voll-
ständig unterdrückt; sie hatten kaum noch das Recht,
das Haus zu verlassen, und waren, so lange sie lebten,
zum Gehorsam verpflichtet. Selbst die Ehe änderte
wohl an den Personen der Gebietenden, nicht aber
am Gehorsam selbst etwas. Als Mädchen waren die
Japanerinnen den Eltern unbedingten Gehorsam schuldig,
als Gattinen dem Manne und als Matrone — den
Kindern. Es war also eine außerordentlich unter-
geordnete Stellung, die die bisher so hochstehende
Frau zuerteilt erhielt. Dieses Verhältnis hat sich erst
geändert, als Japan dem Einfluß der westlichen Kultur
sich unterwarf. Das ist aber eine Epoche, die zunächst
für unsere Betrachtungen nicht von irgendwelcher
Bedeutung sein kann.
Aus diesen japanischen Verhältnissen ergibt sich
evident, welche Rolle die religiöse Ansicht auf die
Stellung der Frau auszuüben vermag. Das gestattet
aber auch Rückschlüsse auf andere Länder, die erst
später den Buddhismus usw. annahmen. Ich möchte
auf das alte Babylon hinweisen, das sicherlich den
Frauen eine Stellung zuerkannte, die sich nicht allzu-
sehr von der des japanischen Altertums unterschied.
Wir haben nun aber gesehen, daß im alten Babylon
die Jungfräulichkeit nicht als das kostbarste Gut be-
trachtet wurde, das die Frau dem Manne mit in die
Ehe brachte, sondern daß die Jungfräulichkeit im
— 358 —
Tempel der unersättlichen Gottheit geopfert wurde.
Vielleicht ist daraus der Schluß zu ziehen, daß die
Männer keinen großen Wert auf die völlige Unberührt-
heit ihrer Gattinnen legten, sicher aber ist das noch
kein Grund zu der Annahme, die Jungfräulichkeit sei
an und für sich als etwas Wertloses betrachtet worden.
Wertloses pflegt man nicht den Göttern zum Opfer
zu bringen; aber die religiöse Prostitution läßt auch,
wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, eine
andere Deutung zu; sie kann auch das Sympton eines
starken sittlichen Verfalls sein, und das Opfer ist dann
eben nicht viel mehr als eine Unsittlichkeit, der man
sich zwar bewußt ist, die man aber durch ein religiöses
Mäntelchen dekoriert und dann als ein Opfer einer
frommen Seele paradieren läßt. Das ist wenigstens
der wahre Kern, denn etwas anders liegt die Sache
doch. Es ist psychologisch schon längst eine gewisse
Wechselbeziehung zwischen Religion und Erotismus
nachgewiesen. Es kommt nun allerdings auf den
sittlichen Wert und die sittliche Auffassung an, ob
diese Wechselbeziehung zu einem unsittlichen Kult
ausartet, oder ob sie gar zur Askese führt. Ich möchte
aber sagen, in dem einen wie in dem andern Falle
ist der Zusammenhang nachgewiesen. Daß beim
unsittlichen Kult, wie wir ihn bei den Dionysien und
überall da finden, wo man von einer religiösen Pro-
stitution zu reden berechtigt ist, auch die geile Lüstern-
heit sich breit macht, daß von vielen Personen der
religiöse Kult nur benutzt wird, um die lüsternen
Begierden zu befriedigen, daß sogar eine verkommene
Priesterschaft, die überhaupt nicht religiös dachte, oder
doch wenigstens den eigenen Vorteil anbetete, den
— 359 —
Kult nur deshalb förderte und begünstigte, weil er
ihren persönlichen Begierden Rechnung trug, das
ändert an der Sache nicht das Mindeste.
Wenn man das alles erwägt, wenn man weiter
bedenkt, daß den Orientalen der sexuelle Genuß das
wesentlichste Bedürfnis war, daß es ihnen nicht ein-
mal so sehr darauf ankam, mit wem sie ihn befrie-
digten, dann sollte man wohl zu der Überzeugung
kommen müssen, daß ihnen die Jungfräulichkeit keines-
wegs eine besonders schätzenswerte Eigenschaft eines
Weibes gewesen sein könne. Das trifft aber gleich-
wohl nur auf einige Völker zu.
Wir finden auch hier wieder im mosaischen
Rechte äußerst wertvolle Fingerzeige. Es ist da der
Beweis geliefert, daß mindestens nicht alle Völker
gering über die Jungfräulichkeit dachten. Die Stelle
des mosaischen Rechtes, auf die ich hier Bezug
nehme, ist so interessant, daß ich sie wörtlich wieder-
gebe. Sie findet sich 5. Mose 22, 13—21: „Wenn
jemand ein Weib nimmt, und wird ihr gram, wenn er
zu ihr gegangen ist, und legt ihr was Schändliches
auf, und bringet ein bös Geschrei über sie aus und
spricht: Das Weib hab ich genommen, und da ich
mich zu ihr tat, fand ich sie nicht Jungfrau. So
sollen der Vater und Mutter der Dirne sie nehmen,
und vor die Ältesten der Stadt in dem Thore hervor-
bringen der Dirne Jungfrauschaft. Und der Dirne
Vater soll zu den Ältesten sagen: Ich habe diesem
Manne meine Tochter zum Weibe gegeben, nun ist
er ihr gram geworden. Und legt ein schändlich Ding
auf sie, und spricht: Ich habe deine Tochter nicht
Jungfrau gefunden; hier ist die Jungfrauschaft meiner
— 360 —
Tochter. Und sollen das Kleid vor den Ältesten der
Stadt ausbreiten. So sollen die Ältesten der Stadt
den Mann nehmen, und züchtigen, und um hundert
Silberlinge büßen, und dieselben der Dirne Vater
geben, darum, daß er eine Jungfrau in Israel berüch-
tiget hat; und soll sie zum Weibe haben, daß er sie
sein Lebtag nicht lassen möge. Ist's aber die Wahr-
heit, daß die Dirne nicht ist Jungfrau gefunden, so
soll man sie heraus vor die Thür ihres Vaters Hauses
führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode
steinigen, darum daß sie eine Thorheit in Israel begangen,
und in ihres Vaters Hause gehuret hat; und sollst das
Böse von dir thun."
Es mag ja auf den ersten Blick so aussehen, als
sei diese Stelle keineswegs so außerordentlich inter-
essant, wie ich sie in Aussicht gestellt habe; bei einer
genaueren Zergliederung aber enthält sie ein ganzes
Stück Kultur- und Rechtsgeschichte des alten mosaischen
Volkes. Ich werde sie deshalb genauer besprechen
und hoffe, damit die Geduld meiner sehr geehrten Leser
nicht zu ermüden, wenn ich auch Dinge zur Sprache
bringe, die, streng genommen, nicht in den Rahmen
dieses Kapitels gehören. Zunächst verdient schon die
Stelle Beachtung, an der gesagt ist, daß der Mann,
der seiner Frau nachsage, er habe sie in der Braut-
nacht nicht als Jungfrau befunden, ihr damit etwas
Schändliches auflege. Das allein schon würde beweisen,
daß bei den alten Juden die Jungfräulichkeit nicht nur
genügend geschätzt wurde, sondern das man sie
geradezu für ein unbedingtes Erfordernis hielt, so daß
ein Mädchen, das nicht die Jungfräulichkeit bis zur
Ehe bewahrt hatte, überhaupt keinen Anspruch mehr
— 361 —
darauf hatte, als Frau geachtet und anerkannt zu
werden. Das ist eine Anschauung, die nicht einmal
heutigen Tages in dieser Reinheit Geltung hat, wenn
man auch nach außen hin so tut, als sei eine andere
Ansicht überhaupt nicht vorstellbar.
Nun hatte der Vater das Recht oder eigentlich
die Pflicht, den Mann, der seine Tochter so hart
beschimpft hatte, zur Verantwortung zu ziehen. Er
mußte dies aus zwei Gründen tun: einmal durfte die
Schmach nicht einer Unschuldigen angetan werden,
und zweitens mußte auch festgestellt werden, ob der
Schimpf etwa nicht doch zu Recht erfolgt war, denn
in diesem Falle mußte die junge Frau ihre Schuld
furchtbar büßen, da das Böse von Israel getan werden
sollte. Der Vater der Beschimpften sollte diese vor
die Ältesten der Stadt „in dem Thore" bringen. Das
heißt, er sollte sie vor das Gericht führen, denn die
Ältesten bildeten das Gericht, das in dem Tore der
Stadt tagte, um anzudeuten, daß das Recht öffentlich
ohne Winkelzüge, keinem zu Liebe und keinem zu
Leide gehandhabt wurde. Im Tore tagte das Gericht
auch, damit jeder Bürger, komme er aus der Stadt,
wolle er in die Stadt, sein Recht sicher finden könne;
die Ältesten mußten Jeden hören, und Jedem sein
Recht sprechen; das wurde nicht abhängig gemacht
von Vorschußzahlungen auf die Gerichtskosten oder
sonst einem Hokuspokus. Das Recht war frei, es
mußte frei sein, weil sich ihm jeder, gleichviel ob arm
oder reich, unterwerfen mußte, weil jeder, gleichviel
ob hoch oder gering, sein Recht fordern durfte. Das
war also auf alle Fälle eine köstliche Zeit.
Nur mußte der Beweis in einer eigenartigen Weise
— 362 —
geführt werden, die, wie ich später zeigen werde,
heute noch bei verschiedenen orientalischen Völkern
Geltung hat; die Eltern mußten das Kleid der Tochter
vor den Ältesten der Stadt ausbreiten, Das ist eine
Beweisführung, für die unserer Zeit das Verständnis
abhanden gekommen ist, vielleicht weil unsere Zeit
diese Probe auch nicht mehr vertragen könnte. Das
Kleid, das die Dirne in der Brautnacht getragen hatte,
mußte frische Blutspuren aufweisen, wenn die Jung-
fräulichkeit wirklich vorhanden gewesen wäre, denn
man nahm an, daß der erste sexuelle Verkehr, bei dem
das Hymen verletzt wurde, ohne Blutverlust nicht
denkbar sei. Daß, wenn die frische Blutspur in dem
Gewand vorhanden war, die Jungfräulichkeit bewiesen
war, das konnte also keinem Zweifel unterliegen,
fehlte die Blutspur, dann hielt man die Behauptung
des jungen Ehemanns für bewiesen. Das war etwas
summarisch gedacht, wohl auch nicht in allen Fällen
nach den heutigen Erfahrungen berechtigt; aber im
allgemeinen war diese Beweisführung doch ziemlich
zuverlässig. Die Beleidigung wurde also auch etwas
anders behandelt als heute, wo an den Klippen der
„nicht erweislich wahren Tatsache" mancher Ehren-
mann zum Vorteil eines Schurken Schiffbruch erleidet.
Nun aber die Strafe. Hatte der Beleidiger gelogen,
in diesem Falle also wissentlich die Unwahrheit be-
hauptet — denn er konnte sich ja sehr leicht über-
zeugen, ob er der Frau recht oder unrecht tat — ,
dann wurde er in eine Strafe von 100 Silberlingen
genommen, das war eine sehr harte und empfindliche,
aber auch eine sehr wohlverdiente Strafe. Hatte er
aber die Wahrheit gesagt, dann wurde die junge Frau
_ 363 —
gesteinigt, also mit einer sehr schweren Todesstrafe
belegt. Auch das war berechtigt, denn die Strafe
dessen, der jemanden einer Tat beschuldigt, kann
doch nicht schwerer sein als die Strafe dessen sein
würde, der die behauptete Tat wirklich begangen hat.
Leider ist das nach unserem heutigen geltenden
Rechte ebenfalls gerade umgekehrt. Das ist stets da, wo
die behauptete Handlung zwar die Ehre des sie Bege-
henden befleckt, gesetzlich aber nicht strafbar ist,
selbstverständlich, weil doch sonst der Beleidiger über-
haupt nicht zur Verantwortung gezogen werden
könnte; aber da, wo etwa ein Ehebruch behauptet
wird, ist für diesen das Strafmaß 6 Wochen Gefängnis,
für den Beleidiger aber 2 Jahre Gefängnis. Daß die
Strafsumme dem Vater der Beleidigten ausgehändigt
wurde, läßt ebenfalls den Grundgedanken, daß dem
Beleidigten die Genugtuung und Entschädigung zu-
fließen muß, reiner zum Ausdruck gelangen als dies
nach heutigem Rechte die Strafe tut, die, wenn sie
Geldstrafe ist, der Fiskus erhält, und wenn es eine
Freiheitsstrafe ist, den Beleidigten auch nicht ent-
schädigt. Es ist also wirklich an jener unscheinbaren
Stelle doch eine reiche Fülle des Interessanten und
Lehrreichen geboten.
Ich habe gesagt, daß der eigenartige Beweis der
vorhanden gewesenen Jungfräulichkeit bei einigen
Völkern des Orients auch heute noch seine Geltung
behalten hat. Das ist Tatsache, wenn dieser Beweis
auch nicht gerade in Verleumdungsprozessen geführt
wird. Bei verschiedenen arabischen Stämmen ist es
noch jetzt Brauch, daß nach der Brautnacht das Gewand
der jungen Frau feierlich und mit großem Jubel durch
- 364 —
den ganzen Ort getragen wird. Das geschieht ledig-
lich deshalb, damit Männiglich sich überzeugen kann,
daß die Ehe wirklich geschlossen und genossen
worden ist. Beweis bilden die Blutspuren im Gewand
der Frau. Diese beweisen zweierlei: erstens dass der
Mann seine eheliche Pflicht getreulich erfüllt hat,
zweitens daß die Frau noch im Besitze der Jung-
fräulichkeit gewesen ist, als sie die Ehe schloß. Es
mag sein, daß sich nicht jeder über den Brauch dieser
sonderbaren Sitte völlig klar ist; daß aber das Fehlen
der obligatorischen Blutflecken eine furchtbare Ent-
rüstung hervorrufen würde, ist klar. Auch das beweist,
dass die Jungfräulichkeit durchaus Erfordernis ist. Für
unsern Geschmack ist es sicherlich eine Ungeheuer-
lichkeit, die intimsten Dinge des Familienlebens der-
artig zur Schau zu stellen, aber wenn man von der
traditionellen Moralanschauung absieht, die Dinge
natürlich auffaßt und mehr dem Sein als dem Schein
Gewicht beilegt, wird man es den arabischen Stämmen
nicht verargen dürfen, wenn sie das Seumesche
Wort aussprechen: „Seht, wir Wilde sind doch bessere
Menschen." Es ist nicht unmoralisch, wenn man das,
was so selbstverständlich ist wie die Tatsache, daß
dem Tage die Nacht zu folgen pflegt, auch als eine
Selbstverständlichkeit öffentlich anerkennt und aus-
spricht. Dazu kommt, wie dies übrigens auch die
oben zitierte Stelle des mosaischen Rechtes zum Aus-
druck bringt, daß die Ehe erst durch das Beiliegen als
wirklich vollzogen gilt, wie dies ja auch nach altem
germanischen Rechte der Fall war, daß also ein Ehe-
paar, das als solches besondere Rechte und Achtung
verlangte, gewissermaßen den Nachweis zu führen
— 365 —
hatte, es sei nun wirklich ein Ehepaar geworden.
Nimmt man das alles als die Grundgedanken der Ehe
an, dann versteht es sich beinahe von selbst, daß die
anscheinende Unmoralität der arabischen Stämme in
Wirklichkeit weit über „Europas übertünchte Höflich-
keit", über unsere wurmstichige und innen hohle Moral
emporragt. Man wird zu dieser Ansicht umsomehr
gelangen müssen, wenn man erwägt, daß durch das
uns so sonderbar und abstoßende Verfahren zugleich
festgestellt wird, daß in der Tat die Eheschließenden,
insbesondere die junge Frau auch nicht der mindeste
sittliche Einwand treffen kann, daß vielmehr die Frau
für alle Zeiten gegen den etwaigen Vorwurf, sie sei
vor ihrer Ehe schon defloriert worden, geschützt ist.
Wie stellt sich dagegen der schon einmal erwähnte
Ausspruch eines Berliner Geistlichen, daß bei uns
keine Braut als Jungfrau in das Ehebett steige? Wie
stellt sich dazu die Tatsache, daß auch die Frau,
die das verwerflichste Vorleben vor ihrer Verheiratung
geführt hat, doch in der Regel jeden, der ihr einen
solchen Vorwurf macht, wegen Beleidigung bestrafen
und in einer großen Anzahl von Fällen ihn hinter
Schloß und Riegel abführen lassen kann, weil der Be-
leidiger zwar von der volien Wahrheit seiner Behauptung
mit Recht überzeugt war, sie aber nicht klipp und
klar zu beweisen vermochte? Die Bestrafung eines
solchen Menschen ist vom Standpunkte der Gerechtig-
keitsliebe mindestens ebenso tief bedauerlich wie die
doch ebenfalls nicht seltene Erscheinung, daß ein
wirklich zu Unrecht Beleidigter keine Genugtuung
erhalten kann. Unser Recht macht beide Fehler nicht
nur möglich, sondern auch unvermeidlich. Ich möchte
— 366 —
damit nun freilich nicht etwa gesagt haben, daß wir
jene arabische Sitte auch bei uns einführen sollten,
denn sie läßt sich absolut nicht in unsere Anschau-
ungen einfügen; ich meine aber, man soll nicht über
einen Brauch, den man nicht versteht, einfach hohn-
voll lächeln, sondern ernstlich prüfen, ob er nicht doch
ganz gerechtfertigt sein kann, ob er nicht vielleicht gar
noch Vorzüge aufzuweisen hat, die sich bei einer
ganz objektiven Prüfung von selbst ergeben.
Nun haben wir aber schon früher gesehen, daß
bei verschiedenen Völkern die Jungfräulichkeit nicht
nur nicht als eine notwendige Voraussetzung betrachtet
wurde, sondern daß es sogar Vorschrift war, die
Braut vor der Hochzeit durch andere Personen deflo-
rieren zu lassen, damit die „lästige Eigenschaft" des
tugendhaften Weibes beseitigt würde. Das mag seinen
Grund in sanitären oder rein ästhetischen Ideen gehabt
haben. Die arabischen Volksstämme, die stolz das
blutbefleckte Hochzeitsgewand durch die Straßen tragen
ließen, gewissermaßen als „corpus delicti", das einmal
die Tugend der Braut und ferner die Potenz des
Bräutigams beweisen mußte, haben jedenfalls vor dem
Blute, von dem Goethe seinen Faust sagen läßt, daß
es ein ganz besonderer Saft sei, keine Aversion ge-
habt. Daß andere Volksstämme darüber anders gedacht
haben oder noch denken, das ist an sich keineswegs
ausgeschlossen, sondern viel eher wahrscheinlich.
Wir wissen, daß sehr pervers veranlagte Menschen
es lieben, die Freuden der Liebe durch Blutopfer zu
erobern, d. h. daß sie sich ohne ein blutendes Opfer
keinen rechten Genuß zu denken vermögen, daß sie
deshalb für ihre Liebesakte Weiber nahmen, die vor
— 367 —
normal veranlagten Männern gerade zu derselben Zeit
völlig sicher sind. Ich möchte sagen, es ist normaler,
kein Blut zu wünschen, und das mag die Ursache
sein, daß vielleicht einzelne Völkerstämme diese Ab-
neigung vor dem Blute so weit treiben, daß sie selbst
in der Hochzeitsnacht lieber auf die Jungfräulichkeit
Verzicht leisten, als daß sie diese Blutabneigung über-
winden. Auch aus rein hygienischen Rücksichten
rechtfertigt sich diese Abneigung besonders im Orient,
und selbst in der mosaischen — man darf wohl sagen
— Gesetzgebung finden wir sehr eingehend geschildert,
daß im Zustande des Blutflusses das Weib als unrein
zu gelten habe. Das war, wie gesagt, aus rein
hygienischen Gründen durchaus berechtigt und konnte
deshalb — was bei den Juden allerdings nicht ohne
Entstellung angenommen werden darf — sehr wohl auf
die Defloration ausgedehnt werden. Mindestens wird
man das ohne weiteres überall da annehmen dürfen,
wo die Defloration den Knechten überlassen wurde.
Daß dies bei verschiedenen Völkern durchaus Brauch
gewesen sei, das wird von alten Schriftstellern und
besonders von Reiseschriftstellern mit solcher Ent-
schiedenheit behauptet, daß es doch wohl nicht
berechtigt erscheinen kann, diese Behauptung ohne
ausreichenden Beweis für ein Märchen zu erklären.
Mindestens wird man nicht sagen dürfen, daß die
Sitte — man könnte besser sagen Unsitte — , die
Bräute vor der Hochzeit durch dritte Personen deflo-
rieren zu lassen, nicht bestanden habe. Sie war zum
Teil ein Vorrecht der Herrscher und Gebieter, wurde
sie aber als Vorrecht geduldet, dann war die Defloration
durch Dritte mindestens Gewohnheitsrecht, und war
— 368 —
es das, dann wäre damit wieder bewiesen, daß die
Jungfräulichkeit nicht erstes Erfordernis für die Braut
war. In Cypern war sie es so wenig, daß man es
durchaus für richtig hielt, die Mädchen sich ihre Aus-
steuer erst durch Prostitution verdienen zu lassen,
ehe man sie als Gattinnen heimführte. Das kenn-
zeichnet freilich ein so absolutes Freisein von Eifer-
sucht und — Vorurteil, daß man wohl darüber
staunen darf.
Anders dachten die Völker von „Goa" über diesen
Punkt, wenn man alten Schriftstellern trauen darf; sie
wollten auch die Bräute defloriert haben, da sie die
Defloration für etwas Schändliches, Unanständiges und
Unwürdiges hielten; aber sie waren doch nicht so
vorurteislos und auch nicht frei von Eifersucht, daß
sie sich hätten überwinden können, diese unwürdige
Aufgabe durch eine andere Person lösen zu lassen.
Wohl defloriert, aber nicht cohabilitiert wünschten sie
die Braut. Sie wußten sich zu helfen und brachten
dem Gotte der Liebe das Opfer der Jungfräulichkeit
auf eine ganz ungefährliche und sicherlich auch die
Familienheiligkeit nicht antastende Methode. Der Gott
durfte sich nämlich nicht, wie dies anderwärts bei
solchen Gelegenheiten Usus war, durch seine Priester
bei der Annahme dieses Opfers vertreten lassen,
sondern er war nur persönlich zum Empfange berech-
tigt. Da nun aber der Gott in Wirklichkeit nichts
war als ein Gebilde von Menschenhand, und zwar ein
Gebilde, das für die Defloration ganz besonders ein-
gerichtet war, so war die Sache wirklich ohne jede
Eifersuchtsanwandlung des Gatten zu ertragen. Das
einzige Bedenken, wenigstens nach dem Geschmacke
— 369 —
und den Moralanschauungen des Abendländers war
bei dieser Sache der Umstand, daß diese Defloration
mit einer großen Feierlichkeit verbunden war. In feier-
lichem Zuge wurde die Braut durch den Ort geleitet,
bis der Zug zu dem Götzenbilde kam. Dort aber
erfolgte die Prozedur in vollster Öffentlichkeit. Da
dies nun einmal Landessitte war, konnte es nicht die
Sittlichkeit verletzen, und man ist niemals auf den
genialen Oedanken verfallen, daß etwas das Scham-
gefühl verletzen könne, ohne unsittlich zu sein. Es
ist damit eigentlich der dritte Typ gekennzeichnet.
Wir finden demnach: 1. Völker, bei denen die Jung-
fräulichkeit einer Braut unerläßliche Bedingung war,
so daß, falls sich herausstellte, daß diese Bedingung
nicht erfüllt war, die Ehe als nichtig galt, oder daß
sogar die Braut der Todesstrafe verfiel; 2. Völker, bei
denen die Jungfräulichkeit der Braut beseitigt werden
mußte, ehe die Hochzeit stattfand. Es war dabei
Vorschrift, daß der sexuelle Akt mit einem andern
Manne wirklich vollzogen sein mußte, ehe der Bräuti-
gam ihn vollzog. Die Jungfräulichkeit wurde also nur
als ein Hindernis betrachtet, das nicht mehr vorhanden
sein durfte, wenn der Gatte das Beilager hielt. Es
kommt dabei nicht darauf an, durch wen, ob durch
Priester, Herren oder Knechte die Defloration voll-
zogen wurde. Und 3. finden wir Völker, bei denen
die Braut noch Jungfrau sein mußte, nicht aber die
physiologischen Symptone der Jungfräulichkeit besitzen
durfte, so daß tatsächlich trotz der Defloration die
Braut noch Jungfrau blieb, weil die Defloration auf
rein mechanischem Wege wie durch eine Operation
erfolgte. Die Jungfräulichkeit war aber an sich eben-
24
— 370 —
falls Bedingung, und die Operation erfolgte öffentlich,
doch jedenfalls auch nur deshalb, damit, ähnlich wie
bei den arabischen Völkern der Beweis der geschlecht-
lichen Unbescholtenheit noch vor der Eheschließung
erbracht werden konnte.
Anders lag die Sache wohl in den Harems. Ich
bin der Ansicht, daß zwar auch dort im allgemeinen
Wert darauf gelegt wurde, die Jungfräulichkeit einer
Braut zu besitzen. Daß aber alle Insassinnen des
Harems etwa als Jungfrauen hätten aufgenommen
werden können, das ist wohl völlig ausgeschlossen
und wird auch wohl niemals verlangt worden sein.
War es doch üblich, Frauen und Jungfrauen besiegter
Völker als willkommene Beute abzuführen und sie in
die Harems aufzunehmen oder sie sonst den Siegern
zu überlassen. Daß dabei die entsetzlichsten Greuel-
taten begangen wurden, das haben wir schon in
früheren Kapiteln gesehen.
Wenn man nun erwägt, wie verschieden die An-
sichten schon bei der Bewertung der Jungfräulichkeit
waren, dann kann man sich ungefähr eine Vorstellung
von der Vielgestaltigkeit des orientalischen Liebes-
lebens machen. Es gibt in der Tat kaum eine Über-
einstimmung. Das kann aber auch im Orient bei der
großen Menge verschiedener Volksstämme durchaus
nicht auffallen, wenn man bedenkt, daß nicht, wie bei
uns, eine bestimmte Kultur die einzelnen Völker so
weit eint, daß ihre Sittenansichten, mögen die Formen,
unter denen sich das Liebesleben abspielt, auch noch
so vielgestaltig sein, doch in der Hauptsache völlig
übereinstimmen. Im Orient ist das anders; da gibt es
noch Kulturperioden, die kaum über die Landesgrenze
— 371 —
sich ausdehnen, und die im Nachbarland schon völlig
andern Ansichten begegnen, als sei die berühmte
chinesische Mauer um das Gebiet eines jeden Volks-
stammes gezogen. Viel hat sich hierin allerdings im
Laufe der Zeit schon geändert; aber gleichwohl finden
wir bis auf den heutigen Tag noch die größten Ver-
schiedenheiten, die zum großen Teil auch schon in den
verschiedenen religiösen Bekenntnissen ihren Grund
haben.
24s
Freie Liebe
und eheloser Sexualverkehr.
Von einer freien Liebe im Sinne unserer Moderne
kann im Orient bei der Stellung, die dort die Frau
einnimmt, wohl schwerlich die Rede sein. Von den
Völkern des Altertums, die ich bereits in früheren
Kapiteln behandelt habe — ich will nur an die Massa-
geten, die Ichthyophagen usw. erinnern — darf ich
hier wohl völlig absehen, weil da, wo keine bestimmte
Eheform besteht, die Gesellschaftsehe herrscht, also
doch etwas, das ganz wesentlich verschieden ist von
dem, was man freie Liebe nennen dürfte, wenn man
darunter ein Verhältnis verstehen will, das von der
allgemein anerkannten und gesetzlichen Form der Ehe
abweicht, also eigentlich eine Ehe auf unbestimmte
Zeit ist und vor allen Dingen ohne irgend welche
Formalitäten, lediglich auf freie Vereinbarung einge-
gangen wird, wenn man den etwas paradoxen aber
richtigen Ausdruck gebrauchen will, eine Ehe ohne Ehe.
Eigentlich würde das ein Konkubinatsverhältnis sein;
die freie Liebe unterscheidet sich aber von diesem
wieder dadurch, daß das Konkubinatsverhältnis nur
den Zweck hat, den sexuellen Verkehr zu pflegen,
— 373 —
während die freie Liebe wirklich eine Ehe ohne Ehe,
also ein Band ist, das nicht bloß die sexuelle Befrie-
digung bezweckt, sondern auch geistig ein Verein ist,
dem also nichts zu einer richtigen Ehe fehlt als die
gesetzliche Form ihrer Schließung.
Man kann darüber sehr wohl streiten, ob für ein
solches Verhältnis bei uns ein plausibler Grund vor-
liegen kann, da doch zwei Personen, die den festen
Willen haben, ein solches Verhältnis einzugehen, wahr-
lich alle Veranlassung haben müssen, auch öffentlich
diesen Bund als einwandsfrei anerkannt zu sehen,
zumal durch unsere Ziviltrauung auch der früher
häufig vorhanden gewesene Grund, daß wegen der
Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses eine
gültige Ehe nicht geschlossen werden konnte, über-
haupt nicht mehr existiert. Im Orient ist für die
freie Liebe im allgemeinen erst recht kein Boden. Die
Frau spielt selbst in der Ehe in den meisten Gegenden
nicht die Rolle, die es ihr ermöglichte, im abendlän-
dischen Sinne die Genossin ihres Mannes zu sein; sie
würde in einem Verhältnis der freien Liebe fast über-
all völlig undenkbar sein. Ja, warum bringe ich dann
diesen Gedanken in das orientalische Liebesleben
hinein?
Es hat gleichwohl auch im Orient so mancher Roman
sich abgespielt, still und verschwiegen, wie das Feuer
unter der Asche glimmt, bis es ein frischer Windhauch
zur Flamme anfacht, die weithin sichtbar ist Das ist
für das stille Feuer und für die stille Liebe die Minute
der Gefahr, denn das, was verborgen bleiben sollte
und doch plötzlich entdeckt wird, das wird angegriffen
und vernichtet. Im Orient ist ein solcher Roman
— 374 —
schwer möglich, weil die Weiber und Mädchen sich
nicht der Freiheit erfreuen, die solche Affären begün-
stigt; aber die Liebe ist erfinderisch. Sie findet Wege
und Mittel, wo beide unmöglich erscheinen. Meist
sind es Herzensbündnisse, die zwischen Personen
verschiedenen Glaubens geschlossen werden. Ist der
Mann Mohammedaner, die Geliebte vielleicht eine
Christin, so hat das nicht viel zu sagen, wenigstens
würde daraus noch kein Ehehindernis entstehen, wenn
die Christin so weit über sich verfügen darf, daß sie
dem Geliebten folgen will. Sie kann seine Gattin
werden, und es ist selbst die Möglichkeit gegeben,
daß sie die einzige bleibt, wenn der Mann dazu den
Willen hat. Viel schwerer liegt die Sache, wenn der
Christ die muselmännische Tochter liebt. Sie wird
ihm schwerlich anvertraut, denn für den Türken ist
er ein Christenhund, dem man nach dem Leben
trachtet, wenn er es sich etwa in den Sinn kommen
läßt, die Hand nach einer „Gläubigen" auszustrecken.
Ich sage dies natürlich ganz allgemein und lasse die
Ausnahmefälle, die in unserer Zeit viel leichter vor-
kommen können, nur diese Regel bestätigen. Viel
schwieriger lagen die Verhältnisse in früheren Zeiten,
in denen doch auch bei uns die religiöse Verschiedenheit
noch gesetzlicher Hinderungsgrund war. Selbst in
christlichen Ländern wäre das bloße Liebesverhältnis
zwischen Gläubigen und Ungläubigen ein Kapital-
verbrechen, eine Ehe etwas völlig undenkbares gewesen.
Das Satirische ist dabei, daß der Mohammedaner den
Christen, der Christ den Mohammedaner für ungläubig
erklärte, weil eben beide ihren Glauben für den allein
richtigen hielten. Es ist schwer zu sagen, auf welcher
— 375 —
Seite der größte Fanatismus bestand. Dieser Fanatis-
mus hat freilich niemals zu verhindern gewußt, daß
sich Herz zum Herzen fand, denn die Liebe pflegt
denn doch nicht danach zu fragen, in welchem Dogma
der Gegenstand der Liebe erzogen ist, weil immer die
Liebe das Natürliche, das Dogma oder die Konfession
aber nur etwas Wüllkürliches ist. Das hat allerdings die
irdische Gerechtigkeit nicht anerkannt, sie ist den
abscheulichsten Vorurteilen gefolgt und hat diese
stets über den klaren Menschenverstand erhoben.
Ich will ein Beispiel geben, dessen Stiefler in
seinem „Geistlichen Historien-Schatz" gedenkt; es
heißt da: „Vor etlichen Jahren trug sichs zu Constanti-
nopel zu, daß eine Türckische junge Witfrau Lust zu
eines Griechen Sohn bekahm, welchen sie durch
heimliche Anstellung zu sich forden ließ, und ihr
Gemüth entdeckt Der Jüngling schlug auch nicht
schlim bey und trieben sie Unzucht miteinander etliche-
mahl. Nun waren zu beiden Theylen die Eltern noch
am Leben, welchen das böse Geschrey übel gefiel,
sonderlich der Türckin Vater, der ein reicher vor-
nehmer Mann war. Die Wittibe begehrte den Griechen
zur Ehe, so wider ihr Gesetz und keineswegs geschehen
konnte, der Grieche würde dann zuvor ein Türck,
welches er nicht gedachte zu thun. Ward dennoch
wegen der Frauen Vater die Schwängerung in eine
Geldbuße bei der Obrigkeit gemittelt, und ihr, wie
auch dem Gesellen, bey höchster Strafe au ff erlegt,
hinführo einander müßig zu gehen. Dem Weibe aber
war es nicht möglich, wurden also über verhoffen
beysammen in unkeuscher Brunst gefunden, und
gefänglich eingezogen. Der Witwen Vater wollte sich
— 376 —
seiner Tochter nicht mehr annehmen, so war der
Grieche wegen Armuth seiner Eltern auch Hülfloß,
und weil er sich zum Mohametischen Glauben nicht
bekennen wolte, sie zu nehmen, mußte die Obrigkeit
ihr Ambt thun, welches der Wittiben Vater selber
begehrte. Wurden also diese beyde aus dem Kerker
geführet, das Weib fürwärts, der Grieche rücklings
auf einem Esel gebunden, ihr den Zaum, ihm den
Schwantz in die Hand gegeben, durch die vornehmste
Gassen der gantzen Stadt Constantinopel geführet,
Männiglich zum Exempel gewiesen, biß sie endlich
über den Fischmarckt zum Thor hinaus aufs Meer,
allwo eine Gericht-Stelle aufgebauet, gebracht worden,
da machte man sie beyde ledig. Und zwar nahm
man zuerst den Griechen, zog ihn fasenacket aus
(doch blieb die Scham mit einem Tuch bedecket)
band ihm Hände und Füße auf dem Rücken zusammen,
henckt ihn lebendig am Galgen, in einem eisernen
Hacken; der ihm auf der Seiten durch die Rippen
ging, daß er noch alles sehen konnte, was man mit
seiner Buhlschafft würde vornehmen. Da die Türckin
diese schreckliche Straffe sähe, ruffte sie ihm zu, er
solte gedultig seyn. Aber man ließ sie nicht viel
Worte machen, sondern fuhr auch mit ihr fort, band
ihr die Augen zu, und ersäuffte sie im Meer, lieferte
nachmahls den todten Körper der Freundschafft. Der
Grieche mußte solchem Jammer zuschauen, mit großen
Schmertzen, wäre zwar gerne tod gewesen, aber konnte
nicht sterben, denn das Hertz war noch frisch im
Leibe. Es ward auch das Gericht alsbald durch
etliche Wächter besetzt, daß nur dem armen Sünder nicht
vergeben möchte werden. Als er nun drey Tage und
— 377 —
Nacht in unsäglicher Pein halb tod und halb lebendig
hing, ist ein Wächter durch des Griechen Freunde
bestochen worden, welcher ihm Gifft in einem
Schwamm, anstatt Essigs beybracht, daran er den
vierdten Tag gestorben."
Die Geschichte zeigt, daß in Liebesaffären keines-
wegs zu spaßen war. Daß der türkische Vater noch
Erbarmen hatte, als seine Tochter zum ersten Male
mit dem „ungläubigen Hunde" erwischt worden war,
ist eine besondere Milde, auf die durchaus in solchen
Fällen nicht zu rechnen war. Recht sonderbar berührt
die Bemerkung, daß nach der zweiten Entdeckung
der Grieche wegen der Armut seiner Eltern auch
hilflos gewesen sei. Es scheint also doch ganz
offenes Geheimnis gewesen zu sein, daß durch den
Anblick des schnöden Mammons die türkische Gerech-
tigkeit Anfälle von Blindheit bekam, die es ihr unmög-
lich machten, die Schuld eines Menschen zu entdecken.
Jedenfalls ist aber auch die Stelle beachtenswert, daß
der Vater der Türkin nunmehr selbst die energische
Strafe wünschte. Daß das sündige Paar auf einen
Esel gesetzt und durch die ganze Stadt geführt wurde,
damit jeder Brave sie sehen und sich ein Exempel
nehmen sollte, war allgemeiner Brauch, wenigstens
bei Sittlichkeitsdelikten; ich werde dafür noch ein
Beispiel citieren. Die Strafe selbst war äußerst grau-
sam und wurde für den Ungläubigen noch dadurch
verschärft, daß er in seiner jammervollen Situation die
Leiden seiner Geliebten mitansehen und diesen Jammer
zu seinen anderen übermenschlichen Qualen noch bis
zu seinem Tode ertragen mußte. Daß man ihn furcht-
bar martern und keineswegs schnell sterben lassen
— 378 —
wollte, das war der Hauptzweck dieser Strafart. Man
versteht es nur eigentlich nicht, wie ein Mensch in
solchen unerhörten Qualen noch Tage lang leben
konnte. Wenn der eiserne Haken durch die Rippen
geschlagen worden war, brauchten freilich keine
Wunden zu entstehen, die absolut tötlich gewesen
wären, immerhin ist diese Tötungsart aber doch so
furchtbar qualvoll, daß sie kaum einige Stunden hätte
überlebt werden können. Die Beispiele aber, daß in
solchen und ähnlichen Situationen Menschen 3 bis
9 Tage am Leben blieben, sind so häufig, daß man
sie wohl für wahr halten muß, so unwahrscheinlich
sie auch klingen mögen. Auch hier trat der Tod erst
durch Vergiftung ein. Der Wächter war also erheblich
weniger anspruchsvoll als das Gericht, denn zu einer
Bestechung reichten die Mittel der Freunde aus. Viel-
leicht hatten die Wächter auch selbst mit einem
Ungläubigen noch etwas Mitleid, mindestens viel mehr
als das Gericht, so daß sie die Vergiftung vornahmen,
wenn nach ihrer Ansicht der Delinquent genug gelitten
hatte, und mit einem dreitägigen martervollen Leiden
war eigentlich wohl auch das Verbrechen, geliebt
und diese Liebe genossen zu haben, überreichlich
gesühnt.
Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es in
Wirklichkeit ein Verhältnis darstellt, daß ungefähr dem
entspricht, was man freie Liebe nennen darf. Es war
ein Liebesband, das auf die Dauer berechnet war.
Die Türkin wollte den Bund sogar in eine Ehe ver-
wandeln, und der Grieche wäre damit wohl auch ein-
verstanden gewesen, wenn er in diesem Falle nicht hätte
zum Glauben der Türkin übertreten müssen. Das wollte
— 379 —
und konnte er nicht, weil diese Zumutung ihm uner-
füllbar erschien; er hätte wohl schon die Beschneidung,
die mit dem Glaubenswechsel verbunden war, nicht
dulden mögen. Wie es scheint, ist aber gerade die
Weigerung, den mohammedanischen Glauben anzu-
nehmen, der Grund gewesen, aus dem man ihm so
furchtbare Qualen bereitete. Das läßt sich wenigstens
aus der Erzählung ohne weiteres entnehmen.
Daß die Türken, so unglaubhaft das auch er-
scheint, sehr eifrig auf die Wahrung der öffentlichen
Moral hielten, obwohl sie doch eigentlich hierzu herz-
lich wenig Talent besitzen, geht aus einer Stelle hervor,
die ich Döplers „Schau-Platz derer Leibes- und Lebens-
Straffen" entnehme. Es heißt da: „Sonst wird es
auch in der Türkey wegen Abstraffung der Unzucht
folgender gestalt gehalten, nemlich zu Nachts gehet
der Subaci oder Stadt-Richter in den Gassen um,
findet er welche in Huren-Winckeln, so nimmt er sie
zu sich, und setzet sie gefangen biss auf den Morgen.
Dann setzet er das Weib auf ein Saumthier, mit ein
paar Hörnern auf dem Kopf, und der Buhler muß
den Esel führen, welchem die Augen mit einer Farbe
gefärbt sind, da werffen ihn die Buben mit faulen
Pommerantzen, Äpffeln oder anderen Dingen, ver-
höhnen und verspotten sie. Der Buhler bekömmt
noch dazu hundert Streiche, und sie muß den Esel
bezahlen, oder der Ehebrecher muß sich mit Gelde
lösen, und sie wird aufm Esel zur Schande herum-
geführet, nackend durch alle Gassen, mit Küh- und
Ochsen-Kutteln behenkt, gegeißelt und gesteiniget."
Das wäe also schon eine Art Sittenpolizei gewesen.
Die nächtliche Revision der Gassen ist übrigens tat-
— 380 —
sächlich erfolgt, und die losen Vögel, die bei den
Werken der Liebe erwischt wurden, nahm die Wache
ebenso mit wie alles andere zweideutige Gesindel,
das in der Nacht aufgetrieben wurde. Im übrigen ist
aber Döpler doch nicht recht im Bilde gewesen; er
hat offenbar die einfache Unzucht mit dem Ehebruch
zusammengeworfen und so ein Gemenge erzielt, das
an sich nicht als eine genügende Quelle zum Studium
der alttürkischen Verhältnisse dienen kann, das aber
noch, wenn man das Nichthinzugehörige ausmerzt,
doch eine ganz gute Schilderung gibt. Wahr ist alles,
was Döpler anführt; er hätte nur die Ehebruchsstrafe
nicht in die Unzuchtsstrafe hineinziehen dürfen. Vor
allen Dingen ist auch hier wieder das Reiten der
Vettel auf dem Esel charakteristisch. Das war stets
die Einleitung. Wie es scheint, ist dieses Herum-
führen der Dirne auf dem Esel, oft die einzige Strafe,
also eine Schandstrafe, gewesen. Der Aufputz wurde
so grotesk wie nur irgend möglich gestaltet, wenn
auch aus der Döplerschen Erzählung nicht klar hervor-
geht, ob der Esel oder das Weib mit den Hörnern
„geschmückt" wurde. Daß der Buhle den Esel führen
mußte, das war eine weise Vorsicht, die darauf
berechnet war, ihn auch bei der öffentlichen Schän-
dung nicht leer ausgehen zu lassen. Dieses Führen
des Esels ist übrigens wahrscheinlicher als die Angabe
des ersten Beispiels, nach der beide Schuldige auf
dem Esel gesessen hätten. Es mag das aber wohl
nicht immer in der gleichen Weise gehandhabt worden
sein. Der Buhle soll auch 100 Streiche erhalten haben,
wenn der Weg der Schande zurückgelegt war. Ob
dies stets geschah, das ist schwer zu sagen. Dass
— 381 —
aber 100 Streiche eine außerordentlich harte Strafe
darstellten, besonders wenn sie auf die Fußsohlen
erteilt wurden, wie dies im Orient besonders gern
getan wurde, da die Bastonnade ein sehr beliebtes
aber auch ebenso gefürchtetes Strafmittel bildete, je
nachdem ob die Strafe erteilt oder empfangen wurde,
das kann keinem Zweifel unterliegen. Daß Döpler
nun ganz plötzlich von der Ehebrecherin erzählt,
während er bisher doch bloß von der einfachen Un-
zucht gesprochen hat, zeigt, wie gesagt, daß er sich
selbst nicht völlig klar über das war, was er aus den
verschiedenen Quellen über die Zustände in der Türkei
zusammengetragen hatte. Da Döpler sonst ein äußerst
klarer und besonders in Strafsachen hervorragend
unterrichteter Kopf ist, mag die Unklarheit wohl mehr
seinen Quellen als ihm selbst zur Last zu legen sein.
Wahr ist, daß auch Ehebrecherinnen nackt auf einem
Esel herumgeführt zu werden pflegten, es mag vor-
gekommen sein, daß sie in unmenschlicher Weise
gegeißelt und dann gesteinigt wurden, wie dies
wenn auch ohne Geißelung, bei den Juden die
gewöhnliche Strafe für Ehebrecherinnen war. In der
Regel dürfte allerdings im orientalischen Altertum die
Strafe wegen des Ehebruches von dem Gatten der
Ehebrecherin selbst vollzogen worden sein. Daß diese
Strafe deshalb etwa milder ausgefallen sei, wird man
wohl nicht behaupten dürfen. Wie Ehemänner ihre
Weiber bestraften, wenn sie sich erlaubt hatten, den
Zorn des strengen Gebieters herauszufordern, davon
ist die Geschichte jener Länder mit geradezu greulichen
Beispielen erfüllt. Ich will nur eins auswählen, das
„Straußens Reise-Beschreibung" entlehnt ist. „In der
— 382 —
Armenier Stadt Scamachy begab sich den 9. Juni 1671
folgende Geschieht: Ein Persianer hatte eine Polnische
Sklavin zum Weibe genommen, diese war ihm aus
Uneinigkeit weggelauffen, und wolte heimlich mit dem
Gesandten heimreisen, alwo sie ihre Mutter und
Geschwister noch hatte, ward aber dem Manne ver-
kundschaffet, welcher sie ließ wiederholen. Unter
dessen schichte er sich auf ein höltzern t, warff
durch Beyhülffe seines Volckes das arme Weib nackent
drauf, schnürte sie fest an, und zog ihr selbst, nach
grimmigen Fürworff, das Fell lebendig über die Ohren,
schmiß den abgezogenen Leib auf die Gasse, von
dannen er ins freie Feld, als ein Aaß, den Raben und
Hunden zur Speise geschleppet ward. Das abgezogene
Leder aber nagelte er im Hause an die Wand, denen
andern Weiber, deren er noch 12 hatte, zur Warnung,
daß sie sich forthin daran spiegeln solten. Zu solcher
Unsinnigkeit brachte diesen unbarmhertzigen Hencker
der Argwohn und Ehe-Eifer."
Daß es gerade die 13. Gattin war, die in dieser
furchtbaren Weise ums Leben kam, hätte abergläu-
bischen Leuten den alten Unsinn, daß die 13. Person
immer sterben müsse, sicherlich als eine schöne Be-
stätigung ihres Aberglaubens gelten können. Hier ist
nun von einem Ehebruch offenbar nicht die Rede
gewesen, sondern das Weib, das eine Polin und des-
halb an die Haremsfreuden wohl nicht gewöhnt war,
hatte das Leben an der Seite ihres Dreizehntels Gatten
satt und wollte in die Heimat zurückkehren, was man
ihr schließlich gewiß nicht verdenken konnte. Der
Mann allerdings faßte diese Absicht völlig anders auf;
er mochte wirklich denken, daß die Gattin mit dem
— 383 —
Gesandten ihres Landes eine Liebschaft anknüpfen
wollte Auf keinen Fall hatte sie übrigens ein Recht,
ihn zu verlassen, selbst wenn sie der Meinung gewesen
wäre, daß ihr Gatte sich mit seinen 12 übrigen Frauen
genügend über ihren Verlust trösten könne. Er ließ
sie verfolgen, und als sie eingefangen war, heftete er
sie ans Kreuz, nachdem sie völlig entkleidet war, und
zog ihr lebendigen Leibes die Haut ab. Das war damals
an und für sich keine so völlig unbekannte Manipu-
lation, denn das Hautabziehen wurde durchaus nicht
so selten geübt, wie man jetzt vielleicht glaubt. Jeden-
falls ist dieses Rachemittel aber eine der größten
Scheußlichkeiten, die sich der menschliche Geist über-
haupt auszudenken vermag. Eine furchtbarere Qual
kann nicht ersonnen werden; sie ist so groß und ent-
setzlich, daß kein Mensch sie lebend bis zu Ende
ertragen kann. Die Schmerzen rauben das Bewußtsein,
und der Tod tritt durch Verbluten ein. Man könnte
nun demnach vielleicht zu der Ansicht gelangen, daß
die Marter deshalb nicht so schlimm sei, weil ihre
Dauer nicht erheblich war. Das ist aber ein schwacher
Trost, denn so schnell, wie man vielleicht glaubt, ging
die Sache nicht. Zunächst wurde die Haut aufge-
schnitten und dann Glied für Glied abgezogen. Das
dauerte immerhin ziemliche Zeit, und zunächst blieben
die entsetzlichen Schmerzen in vollster Heftigkeit fühl-
bar. Daß die Opfer dabei auf das Kreuz festgebunden
wurden — in der Regel brauchte man zu diesem
Zwecke das sog. Andreaskreuz, das Arme und Beine
weit auseinandersperrte — , geschah deshalb, damit
die Gemarterten nicht durch heftige Bewegungen dem
Schinder die Arbeit erschweren oder gar unmöglich
— 384 -
machen konnten. Man mochte vielleicht auch gefunden
haben, daß die Schmerzen noch heftiger peinigten,
wenn es dem Opfer unmöglich gemacht wurde, sie
durch krampfhafte Bewegungen zu mildern. Entsetz-
lich ist die viehische Roheit, mit der der abgezogene
Körper einfach auf die Straße geschmissen wurde,
von wo ihn erst später die Knechte fortschleiften,
damit er den Raben und Hunden zum Fräße diente.
Die Haut wurde als eine Art Trophäe an die Wand
genagelt und diente zur Warnung. Daß diese entsetz-
liche Greueltat dem Manne irgendwie verdacht worden
wäre, oder daß ihn wegen des grausamen Mordes
etwa gar eine Strafe getroffen hätte, davon enthält die
Geschichte kein Wort, sie konnte auch keins enthalten,
da es das „gute Recht" des Mannes war, seine Frau
für die „Pflichtvergessenheit" zu strafen. Die Art der
Strafe war ihm überlassen, und es kam sehr, sehr oft
vor, daß ein Mann seine Gattin, oder richtiger gesagt,
eine seiner Gattinnen einfach in den Sack nähen und
ins Meer werfen ließ. Das war nicht einmal eine
Strafe, sondern nichts als eine zarte Andeutung, daß
er sie nicht liebe und gern los sein wollte.
Die Geschichte der unglücklichen Polin erinnert
übrigens an das Schicksal eines großen Mannes, der
sich berufen fühlte, die Rolle eines gottgesandten
Religionsstifters zu spielen. Ich meine den Propheten
Mani, der selbst weniger bekannt ist als die Religions-
sekte, die nach ihm benannt wurde, die Sekte der
Manichäer. Mani, oder wie er auch genannt wird,
Manes, stammte aus Babylon und trat 242 n. Chr. in
Persien als ein Gesandter des wahren Gottes auf. Er
wollte die verschiedenen Religionen zu einem be-
— 385 —
stimmten Religionssystem vereinigen, hatte also einen
Gedanken, der zweifellos gut und richtig war, der
aber natürlich auf den heftigsten Widerstand stoßen
mußte, da alle Religionssysteme natürliche Gegner
dieses Mannes sein mußten. Er wurde meist als ein
gefährlicher Zauberer bekämpft, verstand es aber doch,
eine begeisterte Anhängerschaft um sich zu sammeln.
Wie behauptet wird, verwarf Manes die Ehe und
gestattete die freie Liebe ohne jeden zeremoniellen
Zwang; man warf ihm daher vor, daß er die freie
Unzucht predige, um seinen orientalischen Anhängern
die unbegrenzte Befriedigung ihrer Lüste als den Köder
hinzuwerfen, auf den sie am leichtesten anbissen. So
ist Manes wirklich eine Persönlichkeit, die in unserm
Kapitel nicht fehlen darf. Er wurde allerdings schließ-
lich, nachdem ihn zunächst Hormizd I. aus der Hand
der Feuerpriester befreit hatte, von dessen Nachfolger
Bahran I. gekreuzigt und geschunden. Er erlitt also
dasselbe Schicksal wie die polnische Gattin des Persers
in Armenien. Die Manichäer haben sich aber nach
dem furchtbaren Tode ihres Propheten noch gehalten,
allerdings durften sie sich nicht als seine Anhänger
zeigen und bekennen. Ob sie seine Ansichten über
Ehe und Liebesleben weiter praktisch betätigt haben,
wer wollte das sagen?
Im Orient war für so etwas freilich kein günstiger
Boden. Wer da ein Weib haben wollte, konnte es
ja leicht genug bekommen und ebenso leicht wieder
los werden. Gerade das letztere Moment darf nicht
unterschätzt werden. Es würde für viele Leute die
Heirat nicht so bedenklich erscheinen, wenn nicht
dieses Verhältnis auf alle Zeit geschlossen würde.
25
— 386 —
Ich will nun freilich nicht behaupten, daß die Moral
etwa gehoben werden könnte, wenn solche Ehen
blos deshalb geschlossen würden, damit die Flitter-
wochen alle die Wonnen und Freuden des jungen
Ehestandes brächten, nicht aber die Sorgen und
Pflichten, die doch in jeder Ehe das Salz bilden,
durchkostet werden müßten. Im Orient war das nun
freilich anders. Da war die Frau nur dazu da, dem
Manne zu dienen und sich für seine Zärtlichkeiten
auf Wunsch zu jeder Minute bereit zu halten. Im
übrigen tat der Mann, was ihm beliebte, die Oatinnen
hatten kein Recht auf seine Gesellschaft sondern nur
die Pflicht, sie zu dulden. Daß es trotzdem eine
Prostitution gab, das ändert an der Sache nichts.
Der Mann, der sie benutzte, machte sich nicht straf-
bar, wenn er sich nicht gerade in den Gassen von
dem Stadt-Richter erwischen ließ. Dazu hatte er nun
aber eigentlich auch gar keine Veranlassung. Das mag
nun jedoch sein, wie es will, jedenfalls gab es eine
freie Liebe im modernen Sinne nicht, auch keine im
Sinne des unglücklichen Manes, oder wenn es so
etwas gab, dann blieb die Strafe nicht aus. Vielleicht
ist das der Grund gewesen, daß man sich durch
religiöse Prostitution und den Kult der Liebesgötter
schadlos zu halten suchte.
Eheformen.
Wenn man die Frage prüfen will, welcher Natur
die Ehe im Orient sei, so kommt es ganz wesentlich
darauf an, zunächst festzustellen, welche Zeitperiode
und welches Land dabei in Frage kommen soll. Es
gibt wohl nichts auf Erden, das so vielgestaltig und
so in sich grundverschieden ist, wie gerade die Ehe,
von der nicht einmal feststeht, ob man in den ältesten
Zeiten überhaupt ein solches Vertragsverhältnis gekannt
hat. Ich habe das schon in früheren Kapiteln zur Sprache
gebracht und möchte deshalb hier nicht nochmals auf
den alten, aber bisher noch nicht entschiedenen Streit
eingehen, ob Einzelehen oder Gruppen- oder Gemein-
schaftsehen das Ursprünglichste und Natürlichste ge-
wesen seien, sondern ich will gleich zu Zeiten über-
springen, in denen es mindestens ein der Ehe ähn-
liches Verhältnis gab. Wir können nicht der Scheidung
in die zwei Hauptformen — Polygamie und Mono-
gamie — folgen, denn von jeder dieser Art gibt es
wieder Nebenformen, die kaum erkennen lassen, zu
welcher Art von Ehe man im Einzelfalle das Verhältnis
zählen soll. Das mag bei der Monogamie ganz be-
sonders unwahrscheinlich klingen; dann eine Mono-
gamie, bei der es dem Manne ausdrücklich erlaubt ist,
25*
— 388 —
sich noch Beischläferinnen neben der einen und
einzigen Frau zu halten, ist eine Eheform, die zwar
Monogamie genannt wird, bei der ich mich aber sehr
stark versucht fühle, sie eher als Polygamie zu be-
zeichnen. Tut man das nicht, dann hört beinahe jede
tatsächliche Feststellung auf, und man krampft sich
an Formen und Namen an, die doch wahrlich nichts
sind als Rauch und Schall. Eine Monogamie kann
und darf nichts weiter sein, als die Ehe zwischen
einem Manne und einem Weibe. Sobald noch andere
Weiber oder Männer gestattet sind, gleichviel welchen
Namen man ihnen geben will, darf von einer recht-
lichen Monogamie nicht die Rede sein. Man wird dies
vielleicht nicht völlig zutreffend finden, wenn man an-
nimmt, daß die Ehe nur durch die strikte gesetzliche
Form, durch die sie geschlossen wurde, zur Ehe
werden könne. Das ist aber grundfalsch, denn eine
strikte gesetzliche Form für die Ehescheidung hat es
in Wirklichkeit sehr oft überhaupt nicht gegeben. Das
entscheidende Moment war das Beilager, denn nur
durch dieses wurde die Ehe vollzogen, wenn alle
Vorverhandlungen abgeschlossen waren. Das Beilager
aber wurde mit den Nebenfrauen, oder wie man sie
sonst nennen will, genau so wie mit der „wirklichen"
Frau gehalten. Es ist also zwischen allen kein anderer
Unterschied, als die Bezeichnung des Familienbandes.
Bei der Polygamie liegt die Sache freilich ganz
anders. Da ergeben sich die Verschiedenheiten aus
der Natur der Sache. Es kann da die verschiedensten
Formen geben: 1. Die Polygamie, d. h. eine Ehe
zwischen einem Manne und mehreren Frauen; es ist
dies die verbreitetste Art der Polygamie. 2. Die Poly-
— 389 —
andrie, eine Ehe zwischen mehreren Männern und
einer Frau, und 3. die Gruppen- und Gemeinschafts-
ehen, die auch wieder verschiedenartig ausfallen können,
hier aber fast gar nicht mehr in Betracht kommen.
Die Buddhisten ließen eine zweifelhafte Mono-
gamie gelten, d. h. sie kannten nur die Einzelehe
zwischen einem Manne und einer Frau, erlaubten aber
dem Manne fast überall noch eine beliebige Anzahl
von Konkubinen, die zwar nicht Frauen hießen, in
Wirklichkeit aber doch Frauen waren. Ich hätte sie
fast im vorigen Kapitel mit besprechen können, weil
diese Verhältnisse wohl an und für sich als freie Liebe
hätten bezeichnet werden dürfen, wenn sie nicht gerade
in so seltsamer Weise mit der Ehe verquickt gewesen
wären. Die Polyandrie ist, wie gesagt, die seltenere
Form der Polygamie; sie kommt aber vor in Indien
in Tibet, bei vielen afrikanischen Stämmen und im
hohen Norden Asiens. Im Gebiet des westlichen
Himalaya, im sogenannten Kululande, war es Sitte,
daß Brüder meist nur eine Frau gemeinschaftlich
hatten, während in den anderen Ländern, in denen
diese merkwürdige Eheform besteht, die Frau ihre
Männer nach freiem Ermessen wählt; sie hatte dabei
nicht notwendig, gerade Brüder zu ihren Männern zu
machen, sondern wählte die, die ihr gefielen. Für
diese Sitte läßt sich eigentlich kaum ein vernünftiger
Grund finden, da die Fortpflanzung dadurch, daß eine
Frau mehrere Männer hat, in keiner Weise gefördert
wird. Es ist auch sicherlich die am wenigsten ästhe-
tische Form der Mehrheitsehe. Begründet wurde diese
Art Ehe durch die soziale Lage der Männer, die es
ihnen nicht gestattete, eine Frau für sich allein zu halten.
— 390 —
Meist sind die Frauen Eigentümerinnen des Haus-
wesens, in das sie ihre Männer aufnehmen. Wenn
man übrigens, wie dies von den Forschern mit Vor-
liebe getan wird, sich im Tierreich umsieht, um zu
prüfen, welche Form der Ehe die natürlichste sei, so
findet man auch für die Polyandrie Beispiele, z. B. er-
innert die Bienenkönigin stark an diese Eheform. Das
beweist also nichts, als daß die Beweise aus dem
Tierreich für unsere Ehen versagen.
Bevor ich mich nun auf die einzelnen Formen der
Ehe näher einlasse, möchte ich vorausschicken, daß
die Zeremonien der Eheschließung ebenfalls in starke
Rätsel gehüllt sind. Wir finden im Altertum sehr
weit verbreitet die Sitte oder auch Unsitte des Frauen-
raubes. Es wurde, da für die Frau in der Regel ein
vereinbarter Kaufpreis entrichtet werden mußte, dieser
gezahlt, alles bis aufs Kleinste vereinbart; aber der
Bräutigam erhielt nicht — die Frau, sondern die alte
Sitte schrieb vor, daß er sie mit Gewalt entführen
mußte. Ich habe das bereits als noch herrschende
Sitte arabischer Stämme beschrieben. Im Altertum war
diese Form der „Hochzeit" aber ganz allgemein bräuch-
lich. Man hat sich nun schon weidlich über die Her-
kunft dieses eigenartigen Brauches die Köpfe zerbrochen
und Erklärungnn dafür gegeben, die zum Teil noch
seltsamer sind als der Brauch selbst. An sich ist es
gar nicht so ungeheuerlich, daß der Übergang der
Braut aus der Gewalt des Vaters in die des Mannes
in solcher Weise zum Ausdruck gebracht wurde. Man
nimmt aber an, daß dieser Frauenraub den Übergang
von der Gemeinschaftsehe in die Einzelehe andeuten
solle. Gewiß, das läßt sich wohl begründen, denn
— 391 —
wo die Oemeinschaftsehe einmal bestand, da mußte
der, der eine Frau für sich allein haben wollte, sie den
anderen Stammesgenossen entziehen. Das wäre schon
so eine Art Frauenraub gewesen. Aber verfolgt man
die Sache genauer, dann erscheint diese Erklärung
doch außerordentlich gesucht und gezwungen. Abge-
sehen davon, daß doch durch einige Ausnahmen nicht
eine derartige Umwandlung eines bestehenden Ge-
brauches herbeigeführt zu werden brauchte, würde es
doch außerordentlich seltsam erscheinen, wenn der
Übergang von der Gemeinschaftsehe zur Einzelehe,
der immer nur dadurch erklärt werden kann, daß ein
Volk sich von einer sehr niedrigen Kulturstufe zu
einer höheren erhebt, trotzdem immer noch durch die
Sitte des Frauenraubes in das Gedächtnis Aller zurück-
gerufen worden sein sollte.
Da scheint mir, wenn es denn nun einmal über-
haupt einer Erklärung bedarf, die viel plausibler, nach
der es Sitte war, daß zur Auffrischung des Blutes die
Braut stets einem fremden Stamme entnommen sein
mußte, daß aber natürlich ein Volksstamm sich nicht
ohne weiteres seiner Weiber resp. Mädchen berauben
lassen wollte, und daß deshalb der Heiratslustige
immer auf Frauenraub ausgehen mußte, wenn er eine
Gattin haben wollte. So habe sich die Sitte des
Frauenraubes ein für altemal ausgebildet und man
habe sie auch beibehalten, wo sie eigentlich deplaziert
war, weil bereits die ganzen Verhandlungen wegen der
Heirat längst abgeschlossen und selbst der Kaufpreis
bezahlt war. Wie gesagt, mir erscheint dies viel
plausibler als die vorhin erwähnte Erklärung, weil
diese letztere Annahme in der Tat Hand und Fuß
— 392 —
hätte. Nun sind aber die „Erfinder" dieser Erklärung
weit über das Ziel hinausgeflogen; sie meinen, daß
der Raub der Sabinerinnen, ja selbst die Geschichte
Trojas auch nichts seien, als eine Bestätigung der
alten Sitte des Frauenraubes. Ich muß gestehen, daß
ich die Kühnheit einer solchen Annahme bewundere,
daß ich sie freilich auch tief bedauere, weil derartige
geistige Extravaganzen die wissenschaftliche Forschung
auf das Niveau des Waschweiberklatsches herab-
würdigen. Wäre der Raub der Hellena wirklich
nichts weiter als ein allgemeiner Brauch gewesen, dann
würde er wohl schwerlich zu einem so schweren
Kriege geführt haben. Der Raub der Sabinerinnen ist
aber ganz zweifellos etwas anderes gewesen. Er ist
auch in anderer Weise durch eine besondere List in
Szene gesetzt worden und war diktiert durch die Not-
wendigkeit, den Erbauern Roms Weiber zu schaffen
und so eine momentane Niederlassung von Männern
durch die Möglichkeit, Nachkommen zu schaffen, zu
einem festen Staatswesen zu machen, womit übrigens
wieder einmal der Beweis geliefert ist, daß die Existenz
des Staatswesens nur in der Familie wurzeln kann.
Man soll vor allen Dingen aber in der Wissenschaft
nicht mehr beweisen wollen, als beweisbar ist, und
insbesondere soll man die Phantasie nicht Orgien feiern
lassen. Jedenfalls war der Frauenraub sehr weit ver-
breitet. Daß er bei Völkern bestand, die nicht durch
irgendwelchen Verkehr diese Sitte eines vom andern
abgesehen haben konnten, macht zwar den Brauch
besonders interessant, weil in solchen Fällen stets die
Vermutung vorliegt, daß er völlig instinktiv ge-
schaffen worden sei, daß ihm also doch etwas zu
393 —
Grunde liegen müsse, was ihn geradezu mit zwingender
Notwendigkeit erzeugt habe. Das lockt zu Forschungen,
und da sich für diese kaum eine sichere Grundlage
gewinnen läßt, zu Vermutungen. An und für sich ist
es wohl instinktives Empfinden, daß die Ehe ein Schritt
sei, der nicht gut so sang- und klanglos vollzogen
werden könne, wie die Dinge des Alltagslebens. Die
Ehe soll stets vor allen Dingen von Stammesgenossen
respektiert werden. Sie ist in der Regel die Basis der
eigenen Seßhaftmachung, und da liegt es schon bei-
nahe im Gefühl, daß dieses Ereignis mit einem großen
Zeremoniell verknüpft sein soll. Es ist also kein
Zweifel, daß gerade die Besitznahme der Braut den
Kernpunkt dieses Zeremoniells bilden mußte, der Über-
tritt der Braut aus der Gewalt und dem Hauswesen
des Vaters in Gewalt und Heim des Mannes. Das
war das wesentliche Moment, das die Stammesgenossen
interessierte und interessieren mußte, weil es ihnen
selbstverständlich nicht gleichgiltig sein konnte, ob ein
Mädchen im Hause seines Vaters verblieb, oder ob es
plötzlich mit einem fremden Manne zusammen hauste.
Mindestens mußte das Recht dieses Beisammen-
wohnens stets da nachgewiesen werden, wo der
sexuelle Verkehr ohne Ehe, die einfache Unzucht als
Schande und als Straftat galten. Nun liebt es bekanntlich
der Mensch schon von seiner Kindheit an, kleine oder
größere Komödien zu spielen; aus solchen besteht,
streng genommen, unser ganzes gesellschaftliches
Leben, das Kleid macht den Mann, natürlich auch die
Frau, sagt seit alters das Sprichwort, und es kommt
auch in der Tat viel weniger auf den inneren Kern
des Menschen an, als auf die äußeren Formen seines
— 394 —
Auftretens, seine Allüren, und fast möchte man sagen
seine Dressur. Da ist es denn sehr erklärlich und
begreiflich, daß bei den Orientalen, die ja schon in
ihrer Sprache den größten Bilderreichtum lieben, gerade
die Übernahme der Braut mit einer bilderreichen
Komödie verbunden war, die allerdings auch gelegent-
lich zur Tragödie wurde, wenn die Spieler ihre Rollen
gar zu realistisch auffaßten, oder wenn vielleicht Neid,
Eifersucht und Hass gegen den Bräutigam vorlagen,
die zu befriedigen die Entführungskomökie den besten
Anlaß bot. Vielleicht hat besonders die Möglichkeit, einem
mißgünstigen und unbeliebten Bewerber eins auszu-
wischen, viel dazu beigetragen, einen Brauch zu schaffen
oder zu erhalten, der geradezu ein Privilegium schuf,
Rache zu nehmen oder die rasende Eifersucht zu be-
friedigen. Ich kann es nur wiederholen, was ich
früher schon gesagt habe; es gibt Menschen, deren
Liebesleidenschaft nicht so rasend den Besitz der
Geliebten begehrt, wie sie bemüht ist, die Geliebte
wenigstens keinem Andern zu überlassen. Wie schön
und angenehm muß es für einen solchen Menschen
gewesen sein, den Nebenbuhler beseitigen und ihm
noch in zwölfter Stunde die Braut abjagen zu können.
Der Brauch erscheint, wenn man diesen Gedanken
weiter spinnen will, geradezu wie eine Art Volks-
gericht, bei dem die ganzen Stammesgenossen ihr
Verdikt abgaben, ob der von dem Vater eines Mäd-
chens acceptierte Bräutigam auch von den übrigen
Männern für würdig und geeignet gehalten wurde,
die Braut heimzuführen. Hielt man ihn nicht dafür,
nun so lauerte der Tod aus jedem Versteck auf ihn,
wenn er die Braut in sein Heim holen, sie entführen
— 395 —
wollte. Das alles scheint mir für den Frauenraub,
der in Wirklichkeit nicht einmal einer war, die beste
Erklärung zu bieten, ganz besonders wenn man dazu
noch die weiteren Annahmen treten läßt, daß der
Frauenraub auch zugleich eine Art Meisterstück sein
sollte, durch das der Bräutigam den Beweis lieferte,
er sei gewandt, kühn und erfahren genug, sich die
Frau durch tausend Gefahren zu erwerben und sie
als sein teuerstes Eigentum selbst mit Preisgabe
seines Lebens zu schützen. Wer in der Volksseele
zu lesen weiß und sich in das Denken und Empfinden
fremder Volksstämme hineinzuversetzen vermag, der
wird diese Erklärungen jedenfalls für ausreichend und
auch für viel natürlicher halten als die wulstigen Hin-
weise auf ältere, nicht einmal mit Sicherheit nachweis-
bare Eheinstitutionen usw. usw. Man wird durch
derartige Meditationen in der Regel nur in die unan-
genehme Lage versetzt, schließlich vor lauter Bäumen
den Wald nicht mehr sehen zu können, und das ist
stets, besonders für die objektive Forschung, der
schlimmste Fehler.
Ich wende mich nun der im Orient am meisten
vorkommenden Polygamie zu, der Vielweiberei, die auch
schon bei den alten Juden gebräuchlich war und von
Mohammed weiter ausgebildet, oder, wenn man will,
auch nur organisiert wurde. Die jüdische Vielweiberei
florierte eigentlich nur bis zur Babylonischen Gefangen-
schaft, kam dann im Volke selbst immer weniger vor
und hörte schließlich fast völlig auf. Die Ehe war
aber keineswegs ein unzerreißbares Band, das fürs
ganze Leben eine Fessel gewesen wäre, sondern dem
Manne war die weitestgehende Möglichkeit gegeben,
— 3Q6 —
eine ihm nicht mehr zusagende Ehe jederzeit zu lösen.
Er hatte nichts weiter nötig, als daß er der Frau den
Scheidebrief schrieb und sie dadurch von sich stieß.
Das war ihm nur in Ausnahmefällen verboten, z. B.
in dem schon früher erwähnten Falle, daß er seine
junge Frau beschuldigte, er habe sie nicht als Jungfrau
befunden. War diese Behauptung unwahr, so wurde
der Mann, wie wir gesehen haben, bestraft und mußte
die Frau wieder bei sich aufnehmen und durfte sie
für das ganze Leben nicht von sich tun, d. h. er
konnte ihr keinen Scheidebrief schreiben. Durch die
Möglichkeit, die Ehe ohne besondere Gründe zu jeder
Zeit zu lösen, würde selbst eine absolute Monogamie
leicht in eine Art Polygamie haben umgewandelt werden
können. Der Mann, der Lust hatte, eine ganze Anzahl
von Frauen zu heiraten, hätte dann einfach jeder nach
einer bestimmten Zeit den Scheidebrief gegeben und
die nächste geheiratet. Er würde allerdings dieses Ver-
gnügen nur nach und nach haben genießen können,
während bei der wirklichen Vielweiberei der Mann
alle seine Frauen zugleich behalten kann. Die Schei-
dung aus Laune des Mannes ist auch wohl das
schlimmste Kapitel des mosaischen Eherechts gewesen.
Der Scheidebrief ist deshalb laut Bibel auch von Christus
ausdrücklich verworfen und geradezu dem Ehebruch
gleich geachtet worden, sofern nämlich die Scheidung
nicht wegen Untreue der Frau erfolgte. In diesem
Falle wäre sie berechtigt gewesen. Den Juden waren
nicht allein mehrere Frauen gestattet, sondern es war
ihnen auch erlaubt, außer den Frauen auch deren
Mägde für den sexuellen Verkehr zu benutzen. Wir
haben bereits gesehen, daß die Frauen dem Manne selbst
— 397 —
ihre Mägde zur Verfügung stellten, damit diese an
ihrer Stelle Kinder liefern sollten. Es war für die
Frau die größte Schande, dem Manne keine Kinder
zu bescheren. Umgekehrt war es natürlich eine Ehre,
möglichst viele Kinder zur Welt zu bringen. So
mußten die Mägde der Ehre der Gebieterin nachhelfen,
ohne durch diese ihnen vorgeschriebene Rolle für sich
selbst Ehre oder Schande zu erwerben.
Aus dieser Ansicht heraus hat sich eine der
sonderbarsten Ehebestimmungen entwickelt, die sog.
Leviratsehe. Starb ein Ehemann, ohne ein Kind zu
hinterlassen, so war sein Bruder verpflichtet, die
Witwe zu sich zu nehmen, daß er ihr Nachkommen
erwecke und ihr einen Namen mache in Israel. Es
kam da nicht auf die gegenseitige Neigung an, auch
die Frau fragte nicht etwa danach, ob ihr der Schwager
gefiel; sie verlangte lediglich von ihm solange die
Begattung, bis sie ihre Ehre gerettet, d. h. einem Kinde
Kinde das Leben gegeben hatte. Dies war der Zweck
der Leviratsehe. Es scheint nun allerdings, daß nicht
nur der Schwager, sondern auch der Schwiegervater
der kinderlosen Witwe verpflichtet wurde, ihr Nach-
kommen zu erwecken. Das wäre wohl auch durchaus
logisch gewesen, wenn es sich darum handelte, Schimpf
und Schande von der Frau abzuwenden, wenigstens
fehlt es nicht an Beispielen, in denen diese Verpflich-
tung erzwungen oder auch durch List herbeigeführt
wurde. Andrerseits scheinen die Schwäger, obwohl
die Israeliten gewiß sehr erregbar und durchaus keine
Gelegenheitsverächter waren, von dieser Pflicht oft
nicht sehr erbaut gewesen zu sein. Es gab sogar
ein gesetzliches Mittel, die widerspenstigen Schwäger
— 398 —
zu ihrer Pflicht anzuhalten. Wurde die Witwe ver-
schmäht, so konnte sie den Schwager vor das Gericht
zitieren und dort ihre Klage über seine böswillige
Enthaltsamkeit vorbringen. Half das nichts, so konnte
man der Natur der Sache nach den sich weigernden
Mann zwar nicht zwingen, doch die Witwe zu „er-
kennen"; aber diese durfte, wenn ihre Klage erfolglos
blieb, ungestraft den Schwager beschimpfen und ihn
mit dem Pantoffel züchtigen. Er hieß dann für alle
Zeiten Barfüßer, und jedenfalls verlor er gewaltig an
Achtung. Wer den Schaden hat, der brauchte auch
im alten Israel nicht für den Spott zu sorgen; es kam
wohl immer darauf an, ob die Witwe schön oder
besonders abstoßend war. Im ersteren Falle dürften
sich die Herren Schwäger wohl ohnehin nur selten
geweigert haben, eine Pflicht zu erfüllen, die doch
eigentlich eine Wohltat darstellte, nach der sonst in
wilder Begierde die Männer seufzen, und die zu stillen,
sie oft genug selbst vor einem Verbrechen nicht zurück-
schrecken. Im zweiten Falle, d. h. wenn die Witwe
alt, häßlich und unliebenswürdig war, da wird man
es den Schwägern wohl trotz der Zurechtweisung an
der Stätte des Gerichts nicht verargt haben, daß sie
eine stolze und kühle Zurückhaltung an den Tag
legten.
Ich finde die Anschauung, daß es eine schwere
Schande für die Frau sei, keine Kinder zur Welt zu
bringen, fast bei allen Völkern des Altertums. Bei
den Persern, die vielleicht am frühesten die Monogamie
einführten, war die Kinderlosigkeit der Frau der einzige
Grund, der den Mann berechtigte, außer der einen
Frau noch eine zweite zu nehmen. Es war dies aber
— 3Q9 —
nur mit der Einwilligung der ersten Frau gestattet.
Das hat sicher einen andern Grund gehabt als lediglich
die galante Rücksicht auf das zarte Geschlecht. Bleibt
eine Ehe kinderlos, so ist noch lange nicht ohne
weiteres festgestellt, daß dies auf einen Fehler der
Frau zurückgeführt werden müsse. Es kann doch auch
der Mann die Kinderlosigkeit verschulden, und wenn
die Frau bei den Persern um ihre Einwilligung gefragt
werden mußte, ehe der Mann eine zweite Frau nehmen
durfte, so wird es sich wohl lediglich darum gehandelt
haben, ob etwa den Mann selbst die Schuld an der
Kinderlosigkeit traf. Ich finde aber das Recht des
Mannes auf Kinder fast bei allen Ehen des Altertums,
ebenso die Ansicht, daß es für die Frau eine Schande
sei, dieses Recht des Mannes nicht erfüllen zu können;
ich finde aber nur bei den Israeliten die Leviratsehe.
Die übrigen Völker halfen sich anders.
Die Frau war in der Regel überhaupt nicht ver-
plantet, zu warten bis der Mann gestorben war, son-
dern sie konnte bei vielen Völkern, falls ihr Mann ihr
keine Kinder zu erwecken vermochte, schon bei Leb-
zeiten verlangen, daß die Schande von ihr genommen
würde, d. h. sie durfte, ohne daß dies als ein Ehe-
bruch angesehen worden wäre, mit Zustimmung des
Mannes, die übrigens nicht verweigert werden konnte,
also notwendig war, damit die Frau nicht als Ehe-
brecherin behandelt werden konnte, die Hilfe eines
anderen Mannes in Anspruch nehmen. Besonders
interessant nach dieser Richtung hin ist die alte
Spartanische Ehe. Die Spartaner lebten ebenso wie
die Griechen und Römer in Einzelehe, und nur bei
dieser ist überhaupt an die Ehehelferschaft eines Dritten
— 400 —
zu denken. Die Frau nahm keine hohe Stellung ein,
sie hatte hauptsächlich den Zweck, Nachkommen zur
Welt zu bringen. Waren die Spartaner im Kriege,
so stand es den Frauen vollkommen frei, sich mit
andern Männern nach Belieben abzugeben. Sie be-
gingen damit keinen Ehebruch, obwohl nach unserer
Auffassung in diesem Verhalten zweifellos ein Ehe-
bruch gesehen werden müßte. Besonders stattliche
und schöne junge Männer durften die Weiber der im
Felde abwesenden Männer lieben und begatten, so
viel sie wollten, ja es tat den Frauen absolut keinen
Abbruch an ihrer Ehre, wenn sie Kinder zur Welt
brachten, deren Vater ein anderer als ihr Gatte war.
Da nun aber der Mann nicht gezwungen werden
konnte, fremde Kinder zu ernähren und zu erziehen,
half man sich dadurch, daß man diese Kinder auf
Staatskosten erziehen ließ, weil sie doch dem Staate
zu gute kamen, wenn sie stark und gesund waren,
andernfalls wurden sie ohnehin ums Leben gebracht.
Nach der am meisten verbreiteten Ansicht, ist
diese Art der Ersatzehe übrigens keineswegs in
Sparta eine allgemein gültige Regel gewesen, sondern
es soll nur während des ersten Messenischen Krieges
also fast 750 Jahre v. Chr. in dieser Weise für Nach-
kommen gesorgt worden sein. Der Krieg hielt aller-
dings die Spartaner ca. 20 Jahre von der Heimat fern,
und während der Abwesenheit der Männer sollen die
spartanischen Frauen geradezu feste Ehen mit den
Achäern geschlossen haben, die sogar die Billigung
der Könige fanden, nicht aber die Zubilligung der
Spartaner selbst, als diese endlich in die Heimat
zurückkehrten. Sie sollen vielmehr die Ehen der
— 401 —
Achäer nicht anerkannt, sondern nur ihre eigenen
Ehen für rechtsgültig erklärt haben. Es kam deshalb
sogar zu erbitterten Kämpfen, die für die Spartaner
ungünstig ausfielen. Die Bezeichnung Parthenier, was
etwa soviel heißt wie uneheliches Kind oder Bastard,
soll diese Kinder, die allerdings keine Kinder mehr
waren, besonders empört haben, bis schließlich durch
Verträge die Parthenier sich zur Auswanderung bereit
erklärten.
Es mag sein, daß der schier endlose Krieg zum
ersten Male dieses mehr als eigenartige spartanische
Eheverhältnis gezeitigt hat. Damit ist aber keineswegs
gesagt, daß wirklich nur ein einmaliger Fall einer
derartigen Doppelehe möglich gewesen wäre. Und
wenn man schon annehmen wollte, daß in der Tat
die spartanischen Frauen niemals wieder eine neue
Ehe geschlossen hätten, während die mit ihren ab-
wesenden Ehemännern noch bestand, so würde auch
damit noch nicht bewiesen sein, daß die spartanischen
Frauen sich nicht mit anderen Männern abgegeben
hätten, oder daß dies ihnen nicht doch hätte erlaubt
sein können. Schon die Tatsache, daß die Spartaner
nach dem Messenischen Kriege nur die neuen Ehen
ihrer Gattinen für nichtig und die Nachkommen für
Parthenier, also Bastarde statt für eheliche Kinner er-
klärten, und daß sie einfach wieder in ihre alten Rechte
eintraten, zeigt klar und deutlich, wie wenig die An-
nahme, die Ehe sei ihnen als etwas Heiliges und Un-
verletzliches erschienen, gerechtfertigt ist. Galt aber
die spartanische Ehe noch nicht einmal dadurch, daß
die Frau während der Abwesenheit ihres Ehemannes
sich zum zweiten Male mit einem anderen Manne
26
— 402 —
in aller Form verheiratet hatte, daß diese zweite Ehe,
während doch die erste nicht gelöst war, Jahre lang
bestanden hatte und mit Nachkommen gesegnet war,
für gebrochen und gelöst, nun, woraus in aller Welt
will man sich zu dem Schlüsse berechtigt fühlen, daß
eine bloße körperliche Hingabe der Frau an einen
anderen Mann unter allen Umständen hätte drastischer
aufgefaßt werden müssen? Ich sage ausdrücklich unter
allen Umständen, denn wenn auch im Laufe der alltäg-
lichen Verhältnisse eine solche Hingabe ohne weiteres
ein Ehebruch gewesen sein würde, so brauchte dies
doch nicht unbedingt der Fall zu sein. Die lange
Abwesenheit des Mannes war ja eben der Grund, aus
dem ein Ausnahmerecht eingeräumt wurde. Nun war
aber auch nicht einmal die Abwesenheit des Mannes
Voraussetzung dafür, daß der sexuelle Verkehr der
der Frau mit einem fremden Manne gestattet war.
Es war vielmehr durchaus keine Seltenheit, daß Ehe-
männer ihre Frauen zum Zwecke der Kinderzeugung
gegenseitig austauschten, oder daß ein Mann seine
Frau einem Andern überließ, damit er sie begatten
sollte. Das ist ein Rechtsstandpunkt, den wir übrigens
auch in unsern alten deutschen Bauernrechten finden;
auch da war der Mann im Falle einer Impotenz nicht
bloß berechtigt, sondern auch verpflichtet, seine Frau
den Nachbarn auszuleihen und, falls diese ihm resp.
seiner Frau nicht gefällig sein konnten oder wollten,
sie auf die nächste Kirmeß zu schicken, damit sie sich
dort einem anderen, beliebigen Manne hingeben konnte.
Nur wenn alle diese Aushilfen nichts fruchteten, konnte
der impotente Mann nicht veranlaßt werden, sich noch
— 403 —
weiter dafür zu bemühen, daß seine Frau zur Empfängnis
gelangte.
Voraussetzung war eben immer die Einwilligung
des Ehemanns, mochte diese, wie beim Austausch der
Frauen, ausdrücklich oder, wie im Falle der längeren
Abwesenheit des Mannes stillschweigend erteilt wor-
den oder als stillschweigend erteilt vorausgesetzt werden
können. Ich habe schon gesagt, daß es sich bei
diesem Verhältnis nicht etwa bloß darum handelte,
daß die Frau auf alle Fälle Gelegenheit finden sollte,
ihre sexuellen Begierden zu stillen, sondern es war
in erster Linie darauf abgesehen, dem Staate zu nützen,
denn der Staat brauchte reichlichen und kräftigen
Nachwuchs und würde in seinen vitalsten Interessen
geschädigt worden sein, wenn auch in Fällen, in denen
der Ehemann verhindert worden war, selbst für Nach-
kommen zu sorgen, die an sich durch das Vorhanden-
sein kräftiger und gesunder Frauen mögliche Geburts-
^iffer willkürlich herabgesetzt hätte. Es ist das eine
Fürsorge für den Staat, die man wohl als eine außer-
ordentlich weitgehende bezeichnen darf. Jedenfalls
wird man heutigen Tages für eine derartige patrio-
tische Selbtverleugnung erfreulicherweise kein Ver-
ständnis mehr besitzen.
Ganz konform dieser Pflicht des Gatten, zum
Wohle des Staates die Gefühle seines Herzens zu ver-
leugnen, war eine weitere Fürsorge zur Erzielung
möglichst zahlreicher Nachkommen. Es war in Sparta,
zeitweilig auch im alten Rom, gesetzliche Pflicht, sich
zu verheiraten. Wer diese Pflicht nicht erfüllte, machte
sich strafbar, denn er schädigte den Staat; es war also
mindestens so, als wollte bei uns jemand den Staat
26'
— 404 —
nicht unterstützen, dadurch, daß er eine zur Erhaltung
des Staates erforderliche Pflicht nicht erfüllte, also
etwa die Pflicht, Steuern zu bezahlen. Strafbar war
auch, wer diese Heiratspflicht zu spät erfüllte. Auch
bei uns ist ja wiederholt ein ähnlicher Gedanke durch
den Vorschlag einer Junggesellensteuer angeregt worden..
Den Jungfrauen war es auf keinen Fall gestattet, sich
der Heiratspflicht zu entziehen. Sie wurden in Sparta
schon durch eine besonders ausgiebige Körperpflege
für den Mutterberuf vorbereitet, und da sie unter
väterlicher Gewalt standen, wären sie auch nicht in
der Lage gewesen, eine Heirat, zu der sie bestimmt
wurden, abzulehnen.
Nach Gellius und Schottelius hat man sich zu
helfen gewußt, wenn Mädchen, wie dies wohl vorkam,
gelegentlich eine unüberwindliche Ehescheu besaßen.
Ich will in der Sprache alter Schriftsteller ein recht
interessantes Beispiel hierfür folgen lassen: „Denen
Milesischen Jungfern ist auf eine Zeit eine wunder-
bare Sterbenslust aus Begier der Hagestolzschafft an-
kommen. Weil sie gehöret, wie das Menschliche
Leben, und sonderlich der Ehestand vielen Trübsalen
unterworffen, und die Frauen denen Männern gehor-
sam, und ihre Freyheit also verlustig seyn müßten.
Deshalber diese thörichte Jungfern in der gantzen
Stadt sich zusammen verbunden, Hagestoltzinnen zu.
werden, nicht zu heyrathen, Ihre Freyheit also zu
behalten, und lieber zu sterben, als Hochzeit zu halten.
Wie dann auch erfolget, daß diese Weibesbilder eine
nach der anderen, wann sie haben heyrathen sollen,
sich selbst erhenckt. Weil dann solch Hencker Hand-
werck und Selbstmord überhand genommen, und diese.
— 405 —
alberne wühlende Todessucht durch kein Mittel zu
verhindern, noch die zarten Gemüther der Jungfrau
abwendig davor zu machen, keine zu Oemüthführung
genugsam gewesen; so hat die Obrigkeit sich endlich
eines andern entschlossen, und die sich also erhengte
Jungfrau nackend ausziehen, an ihr Würge-Strick mit
einem Fuß sie anbinden, und also Mutter nackt mit
Spott und Schande durch die Straßen öffentlich
schleppen, und schändlich hernach jedermann zum
offenbahren Abscheu hinwerffen lassen. Wie diese
die übrigen nach Hagestolt gierige Mädgen gesehen,
ist ihnen die Hangeiust vergangen, und haben sich
zum Braut werden bequemet."
Das war allerdings auch ein Mittel, drastisch
genug, um einen starken Erfolg garantieren zu können.
Es ist allerdings ein oft gehörter Ausspruch, daß es
doch wahrlich völlig gleichgiltig sein, was einem
Menschen nach dem Tode geschehe, denn der Tod
lösche alle Bande des Lebens, und was man nach
dem Tode „erleide", das tue weder wehe, noch könne
es auf die Entschließungen eines Lebenden von Ein-
fluß sein. Wer aber so spricht, der redet ohne Über-
legung und Verständnis. Wenn man sich die Sache
genauer überlegt, dann wird man wohl zu der Ansicht
gelangen müssen, daß eine so unerhörte Schändung,
wie sie den ehescheuen Jungfrauen nach ihrem Tode
widerfuhr, weit schändlicher und abschreckender wirkt
als eine Strafe, die der lebenden Person zugefügt
worden wäre. Daß die jungen Damen den Tod der
Ehe vorzogen, weil sie die Ehe für eine unwürdige
Sklaverei hielten, das klingt schon fast hypermodern,
war allerdings damals weit berechtigter, als es heute
— 406 —
dieselbe Klage ist. Nun muß es den Milesischerr
Jungfrauen allerdings auch viel bitterer Ernst mit ihrer
Ehescheu gewesen sein, als den Anhängerinnen der
modernen Frauenbewegung, denn sie gingen ja wirk-
lich mit solcher Konsequenz in den Tod, daß es der
Obrigkeit wohl angst und bange werden konnte, da
sie schließlich aus Mangel an Nachkommenschaft das
stolze Staatsgebäude elend in Trümmer sinken sehen
mußte. Den Tod haben die Jungfrauen nicht gescheut,
daß sie scheuten, was ihnen nach dem Tode zugefügt
wurde, das gereicht ihnen zur Ehre, denn Ehre hätten
sie keine besitzen können, wenn es ihnen gleichgiltig
gewesen wäre, ob ihre Leichname nackt zur Schau
gestellt und geschändet wurden. So hat sich dann
schließlich die Milesische Frauenbewegung in ein
Nichts aufgelöst, die Ehescheu verschwand, und die
Natur trat wieder in ihre Rechte. Daß der Staat, der
den Ehezwang vorschrieb und vorschreiben mußte,
weil er zu seiner Erhaltung notwendig war, sich auch
durch die Selbstmorde kein Schnippchen schlagen ließ,
beweist, wie bitter ernst die brave Obrigkeit für das
Wohl des Staates besorgt war. Das läßt denn schon
eher die Eigenart des spartanischen Eherechts ver-
stehen. Jedenfalls gehört die spartanische Ehe wohl
zu den interessantesten des orientalischen Altertums.
Ich habe eben gesagt, die Milesischen Jungfrauen
hatten viel eher ein Recht, die Ehe eine unwürdige
Sklaverei zu nennen als unsere heutige Frauenwelt,
wohl verstanden, unsere Frauenwelt, die sich in der-
artigen Raisonnements gefällt. Daß es sehr wohl
auch bei uns Ehen gibt, leider sehr, sehr viele, die
ein wahres Martyrium der Frau darstellen, das will
— 407 —
ich gewiß nicht bestreiten. Wo der Mann ein Trunken-
bold ist, der sein Vergnügen außerhalb des Hauses
sucht, Frau und Kinder hungern läßt, und oft noch
die sauer verdienten Groschen der rastlos arbeitenden
Frau durch die Gurgel jagt oder gar sie auf dem
Altar der verbotenen, ehebrecherischen Liebe opfert,
während er die Familie brutal mißhandelt, da von einer
unwürdigen Sklaverei zu sprechen, das ist noch ein
zu milder Ausdruck. Aber das Bedenkliche ist, daß
Frauen, die sich in einem solchen Lose durchs qual-
volle Leben ringen, in der modernen Frauenbewegung
keine Rede halten, den Zeitungen keine Artikel zu-
senden, sondern ihr Schicksal still und verborgen
tragen mit einem Heroismus, der das Heldentum
gefeierter Helden weit übertrifft.
Nicht so in orientalischen Ehen. Ich will nicht
auf alle Ehen aller Völker eingehen, sondern möchte
nur die Hinduehe, wie sie jetzt noch besteht, schildern.
Sie ist ein Typ für den Orient; ich möchte sagen,
eine Art mittlerer Qualität, denn es gibt schlimmere
und bessere Ehen; es kommt da auf ein wenig mehr
oder weniger kaum an. Es ist aber die Hinduehe
auch deshalb ein Typ der orientalischen Ehe, weil sie
ebenfalls mit großartigen Festlichkeiten gefeiert wird,
die fast wie ein Hohn auf die erbärmliche Stellung
der Frau aussehen und gleichsam nur dazu dazusein
scheinen, um der Frau wenigstens an einem einzigen
Tage ihres Lebens zu zeigen, wie Lust und Freude
aussehen; sie einmal erkennen zu lassen, was das
Leben zu bieten vermag, und welche Freuden und
Vergnügungen ihr alle — nicht beschieden sind, mag
sie auch noch so lange leben. Und wie nur ein Tag
— 408 —
des Glanzes und des Glückes im Leben der Hindu-
frau existiert — ich spreche natürlich von der Norm,
nicht von den Ausnahmen, die ja stets eintreten
können, wenn der Mann trotz aller Vorurteile, doch
mit seiner Frau anders lebt und verkehrt, als dies das
Gewohnheitsrecht, das eigentlich unerbittlich ist, sie
mit sich bringt — , so ist auch der Hochzeitstag sehr
oft der einzige für den Hindu, an dem er sich die
Entfaltung von Pracht und Pomp gestatten kann. Es
ist sogar in der Regel richtiger, zu sagen, daß er sich
diesen Pomp eigentlich auch an diesem Tage nicht
gestatten kann, er tut es aber, weil es die Sitte nun
einmal so will, wenn auch die Schulden oft für das
ganze Leben die treuesten Genossen des Ehepaares
bleiben.
Der Hochzeitstag ist eigentlich ein Ziehungstag
in der großen Lotterie des Lebens; er ist der Tag, an
dem die beiden Menschen, die das Schicksal oder
richtiger der Wille der beiderseitigen Väter bestimmt
hat, sich das Leben hindurch anzugehören, zum ersten
Male zu sehen bekommen. Beide haben bis zu der
Stunde ihrer „Offenbarung" keine Ahnung, ob der
Gatte, die Gattin dem, was sie erhofft und gewünscht
haben, wenigstens äußerlich entspricht. Wenn diese
Offenbarung erfolgt, dann ist es freilich zu spät, das
Verhängnis zu beschwören, denn die Ehe wird dann
auf alle Fälle eine Ehe, und die Gatten müssen ein-
ander behalten, wie bei der Lotterie jeder Spieler mit
dem zufrieden sein muß, was ihm die launische For-
tuna in den Schoß wirft oder auch nicht wirft. Auf
die Frau würde es ja ohnehin nicht ankommen, und
wenn sie den leibhaftigen Teufel in ihrem Gatten er-
— 409 —
kennen würde, sie müßte ihn nicht allein geduldig
hinnehmen, sondern das Gesetz Manus schreibt ihr
auch vor, ihn anzubeten wie einen Gott. Er ist ihr
Ein und Alles. Nicht in dem Sinne, in dem bei uns
diese Wendung gebraucht wird, wenn man damit
sagen will, daß eine Frau, nicht nach dem Gesetze
Manus, sondern nach dem Gebote ihres Herzens, in
ihrem Manne, dem sie aus Liebe ihr Schicksal in die
Hand gelegt hat, ihr höchstes Ideal ist, sondern weil
sie den Mann, der ihr bestimmt ist, eben anzubeten
hat. Das Weib ist ein Nichts, ja noch viel schlimmer
als ein Nichts. Das Weib ist die Ursache aller Leiden,
die Ursache der Kriege, die Ursache alles Unglücks,
wie es die Ursache des menschlichen Daseins ist,
und das menschliche Dasein ist ja an sich eigentlich
schon ein Unglück. Das Weib ist auch unrein und
muß ständig bemüht sein, diese Unreinheit durch
mindestens dreimalige tägliche Waschungen soweit
zu beseitigen, daß es nicht alles, was es berührt, eben-
falls unrein mache. Der Mann aber ist der Abglanz
der höchsten Herrlichkeit, die durch nichts beein-
trächtigt wird. Seine göttliche Eigenschaft geht auch
durch ein gemeines und niederträchtiges Leben nicht
verloren. Selbst wenn mit Hilfe von Mikroskopen und
Röntgenstrahlen der scharfsichtigste Forscher an ihm
nicht die Spur einer guten Eigenschaft zu entdecken
vermöchte, selbst wenn der Mann ein Liederjahn wäre,
der seine Frau schlecht behandelte, der außerhalb des
Hauses die Freuden suchte, die nur bei der Frau zu
suchen, er ihr feierlichst versprochen hatte, so würde
das alles kein Grund sein, der die Frau davon befreien
könnte, in dem Manne eine Art Gott anzubeten.
— 410 —
Bildung macht frei, sagt man nicht mit Unrecht.
Macht aber nur die Bildung frei, dann sorgt man in
Indien dafür, daß die Frau niemals frei werden kann,
denn von einer Bildung ist nicht die Rede; man hält
es für gefährlich, sie an der Weisheit Quellen einen
erfrischenden Trunk tun zu lassen. Wie die Verhält-
nisse nun einmal liegen, kann man wohl sagen, die
absolute Unwissenheit und Indolenz der indischen
Frau ist deren größtes Glück. Das Los, das ihr
beschieden ist, wird durch den völligen Mangel einer
geistigen Ausbildung nicht so drückend empfunden,
die Last wird leichter, da der Frau die geistige Er-
kenntnis fehlt, daß ihre Lage so unwürdig und so
schmachvoll ist. Die Frau kennt eben nichts anderes,
und woher wollte sie auf den Gedanken kommen,
daß eine Frau die gleichberechtigte Genossin ihres
Mannes sein müsse? Schon die früheste Kindheit lehrt
das Weib, eine derartige Prätension zu unterdrücken.
In der Geburtsstunde des Mädchens beginnt deren
Unterdrückung, denn die Geburt eines Mädchens gilt
keineswegs als ein freudiges Ereignis, im Gegenteil,
dieses Ereignis wird mit Klagen und Jammern ver-
kündet, und der Vater ist kein glücklicher Vater und
gibt sich auch nicht die Mühe, als solcher zu erscheinen.
Er würde sich etwas an seinem Ansehen und an seiner
Würde vergeben, wollte er das Kind, das „bloß ein
Mädchen" ist, überhaupt einer Beachtung würdigen.
Mißachtet schon von der Stunde der Geburt an, wächst
das Mädchen heran im geistigen Dunkel, das nicht
erhellt werden darf, da ein Weib unterrichten dasselbe
sein würde, als eine giftige Schlange mit Milch groß
zu ziehen. Der Indier hat tatsächlich ein Sprichwort,
— 411 —
das dies besagt. Nur eins lernt das Hindumädchen:
die Verehrung des Mannes. Auf dieser wird ihr ganzes
Leben zugeschnitten. Das einzige, was das Kind lernt,
ist, daß es für den Mann bestimmt sei, und daß es die
Gottheit um einen gnädigen Herrn anzuflehen habe.
Es ist eine dumpfe Atmosphäre, aus der die indische
Frau hervorgeht. Lehrt man übrigens das Kind in
einem Alter, in dem es noch kaum die Kunst des
Sprechens erlernt hat, seine Gedanken auf die zukünftige
Ehe zu richten, so ist dies berechtigt, da schon im
zartesten Alter des Mädchens dessen Ehe vereinbart
wird, ja es gibt Ehefrauen, die nach unseren Begriffen
kaum schulpflichtig sind. Wo soll da der indischen
Frau herkommen, daß ihre Stellung unwürdig sei?
Sie kennt es eben nicht anders, und mag ihres Herzens
Sehnen ihr vielleicht auch ein anderes, schöneres Da-
sein vorspiegeln, was tut dies?
Das indische Weib teilt nicht einmal die Wohnung
mit ihrem Gatten. Für die Frau ist die Senoma, der
Harem, bestimmt, den sie ohne Erlaubnis des Mannes
nicht verlassen darf. Die Räume des Mannes zu be-
treten ist aber verboten, dazu wäre eine besondere
Erlaubnis erforderlich, und selbst die harmlose An-
regung eines Verbotes bleibt ihr untersagt. Einen
unbeschränkten Verkehr darf sie nur mit ihren Kindern
unterhalten. Beim Besuche einer älteren Frau hat sie
sich zu verschleiern, und es ist ihr nicht gestattet zu
reden, wenn sie nicht besonders dazu aufgefordert
oder eine Frage ihr vorgelegt wird. Ebenso würde
die Frau sich schwer vergehen, wollte sie in Gegen-
wart des Mannes Speise zu sich nehmen. Sie darf
dies nicht einmal bei Festlichkeiten, denen sie etwa
— 412 -
beiwohnen darf, denn bei solchen Gelagen hat die
Frau sich bescheiden im Hintergrunde zu halten und
zu warten, bis die Männer sich gesättigt haben. Der
Rest der Mahlzeit ist für die Frau, die ja auch garnicht
auf den Gedanken kommen kann, daß sie eigentlich
eine andere Rolle spielen müßte, weil sie niemals eine
andere Behandlung einer anderen Frau sehen und er-
fahren kann, weil sie eben Niedrigkeit sich bewußt
sein muß, und auch sie niemals aus der Abhängigkeit
und der Gehorsamspflicht herauskommt. Sie ist erst
dem Vater, dann dem Gatten und schließlich dem
Sohne Gehorsam schuldig, und es hat Mühe gekostet
den grausamen Brauch, nach dem die Witwe beim
Tode ihres Mannes verbrannt wurde, abzuschaffen.
Das war natürlich die Aufgabe der Europäer, die ja
schließlich auch die Lage der indischen Frau durch
ihren Einfluß und durch ihre Macht verbessern werden,
Daß dies aber keine leichte Aufgabe sein kann, das
liegt auf der Hand, denn es ist nun einmal indisches
Evangelium, daß der Mann ein höheres Wesen, das
Weib aber ein Uebel, wenn auch allerdings ein not-
wendiges, sei. Da wird es wohl schwer halten und
eine Weile dauern, die Indier zu überzeugen, daß die
Frau die Krone der Schöpfung, die bessere Hälfte des
Paares und berechtigt sei, die galante Dienstwilligkeit
des Mannes zu fordern. Übrigens erinnert sehr vieles
im Leben der indischen Frau an das der Frau im
deutschen Altertum, selbst das Mitverbrennen der
Witwen kam auf deutschem Boden vor und war bei
verschiedenen Stämmen herrschende Sitte. Ich meine,
es ist eine recht sonderbare Logik, daß wir die indische
Frau als das unglücklichste Geschöpf beklagen, während
— 413 —
wir überfließen von Lob und Ruhm über die Stellung
der deutschen Frau im Altertum.
Staunen muß man nur, daß bei den Hindus trotz
der Verachtung der Frau doch der Tag, an dem ein
Mann eine solche mißachtete Person ins Haus nimmt,
als das größte Fest seines Lebens gefeiert werden soll
und gefirmt wird. Das ist aber in sich kein so großer
Widerspruch wie es scheint. Durch die Heirat gründet
der Hindu einen eigenen Hausstand und wird aus einer
Null ein Faktor des öffentlichen Lebens, und die Wahr-
scheinlichkeit, daß er sich durch die Ehe Nach-
kommenschaft erwecken wird, ist eben ein Ereignis, das
in der Tat das bedeutungsvollste seines Lebens ist.
Die Braut wird dem Bräutigam zugeführt, der sie
mit Ehren überhäuft, mit ihr die prunkvoll hergerichtete
Hochzeits- Kutsche besteigt, und sie dann an der
Spitze eines prunkvollen Hochzeitszuges reich ge-
schmückt durch die Straßen geleitet. Der Hochzeits-
zug, der auch in China den Gipfel des Hochzeits-
prunkes bildet, ist die höchste Ehre im Leben der
Hindufrau. Das wirkliche Fest wird erst am Abend
gefeiert. Die indischen Bajaderen, die durch Gesang
und Tanz den Festen erst die richtige Weihe geben,
dürfen natürlich auch bei der Hochzeitsfeier nicht fehlen.
Die Festräume werden malerisch und verschwenderisch
erleuchtet, und in der Regel sorgt der Bräutigam auch
noch für ein möglichst glänzendes Feuerwerk. Da
diesen kostspieligen Arrangements natürlich die Be-
wirtung der zahlreichen Gäste entsprechen muß, ist es
kein Wunder, daß das schöne Fest, dem eine meist
weniger schöne Ehe folgt, die Quelle einer ungeheuren
Schuldenlast wird. Der Hindu ist selten reich, er
— 414 —
nimmt darauf aber keine Rücksicht, am Hochzeitstage
will er wenigstens reich scheinen, und die Schulden?
Es geht damit wie mit der Ehe selbst, nach Glanz
und Pracht kam Öde und Armseligkeit.
Ich habe schon angedeutet, daß diese Ehe eine
Art Typ der orientalischen Ehe ist. Die Ehe der
Chinesen gleicht der Hinduehe fast völlig. Auch der
Chinese ist in der Regel arm, daß er kaum daran
denken kann, eine Frau zu ernähren. Dieser Mangel
an Mitteln ist übrigens auch sonst im Orient dafür
verantwortlich zu machen, daß trotz erlaubter Polygamie
doch die meisten Muselmänner sich mit einer einzigen
Frau begnügen. Daß dann der kostspielige Harem
von selbst fortfällt, weil man eben für eine einzelne
Frau kein besonderes Harem errichten kann, versteht
sich von selbst. Die Ehe der Orientalin gestaltet sich
dabei auch dort, wo der Koran den Gläubigen vier
Gattinnen gestattet, doch weit anders als sonst. Die
Ehe ist der europäischen ähnlicher, und die Frau wird
vielmehr Genossin des Mannes, als die Frau des
Harems dies jemals werden kann. Der orientalische
Geist wird aber nicht einmal ausgeschaltet, daß eben
die Frau dem Manne als gleichberechtigte Gattin
gelten könnte. Sie ist und bleibt ein unfreieres Wesen,
das zum Manne aufblicken und sich ihm absolut
unterordnen muß. Die Frauen versehen alle Arbeiten
des Hauses und leben kein leichtes und angenehmes
Leben, wenn auch der Herr Gemahl so leben kann,
daß er seiner Vorliebe für eine stille und ruhige Be-
schaulichkeit keine großen Schranken aufzulegen braucht.
Es ist keine Einzelehe, wie bei uns, da sie eben nur
freiwillig oder doch wenigstens nicht durch das Gesetz
— 415 —
erzwungen, eine Einzelehe darstellt. Dem Manne kann
es, sobald es ihm seine Mittel erlauben, nicht verwehrt
werden, die Monogamie in eine Polygamie umzuwandeln.
Es muß dabei allerdings betont werden, daß die durch
die Verhältnisse, nicht durch Gesetzesvorschriften er-
zwungene Enthaltsamkeit im Heiraten auch denen, die
nicht so beschränkt mit ihren Mitteln sind, vorbildlich
ist, so daß die Harems in Wirklichkeit fast überall
schon längst die Ausnahme bilden, während die Ehen
zwischen einem Manne und einer Frau die Regel sind.
Wer das Geld hat, hält sich höchstens eine zahlreiche
Schar von Sklavinnen oder Dienerinnen.
Die Ehesterer.
Wenn auch im Orient die Ehe, wie wir gesehen
haben, in der Regel kein Idealverhältnis, wenigstens
nicht in unserem Sinne, ist, so glaubte man doch, daß
dieses Verhältnis ganz besonders unter dem Einfluß
guter oder auch böser Geister stehe. Die guten Geister
waren nach dem Glauben des alten Heidentums die
göttlichen der Liebe und besonders die der Frucht-
barkeit, die ja ohnehin nicht selten beide Ressorts in
einer Person vertraten. Selbst Völker, die an einen
einzigen Gott glaubten, wie die Israeliten und die
Mohamedaner, nahmen doch an, daß bestimmte Geister
sich sehr eingehend um die Eheverhältnisse der sterb-
lichen Menschen bekümmerten, und daß sie auch oft
genug in das Land der Ehe eingriffen. Man war aller-
dings nicht der Ansicht daß diese Geister gute Ab-
sichten verfolgten, sondern traute ihnen alles böse zu
und stellte sie sich als schändliche Dämonen vor. So
waren selbst Völker, die nicht durch Eifersucht auf
ihre Mitmenschen geplagt waren, doch auf die Dämonen
stark eifersüchtig und wo in einer Ehe ein besonderes
Unglück eintrat, da nahm man dies eben meistens für
die Tat eines Ehedämonen an.
Wie es scheint, ist der Glaube an solche Ehe-
— 417 —
teufel von Persien ausgegangen und hat sich von da
aus den anderen Völkern erst mit der Zeit aufgedrängt,
und man hält daran noch außerordentlich fest. Es ist
eine echt orientalische Fantasie, die diese Teufelsge-
stalt geschaffen hat, deshalb hat man, wie ja auch den
Göttern stets die Eigenschaften besonders angedichtet
werden, die ihren Verehrern als groß und beachtens-
wert galten, auch diesen Teufel mit Charaktereigen-
schaften ausgestattet, die dem Orientalen selbst inne-
wohnten und einen großen Teil seines Seelenlebens
ausmachten. Der Eheteufel, den der Talmund Aschmedai
nennt, war ein höhnischer Geselle, dem nichts heilig
war, ganz besonders nicht die Ehe der Menschen,
denn diese zu stören war ja seine vornehmste Aufgabe.
Der Dämon war ein Wesen, das von einer unersätt-
lichen Wollust erfüllt war, die dadurch ihre augen-
blickliche Befriedigung finden konnte, daß Asmodi
wie wir ihn gewöhnlich genannt finden, sich an Ehe-
frauen heranschlich und diese zum Ehebruch verführte.
Die innerliche Glut, mit der dieses dämonische Scheu-
sal gedacht wurde, ist aber wohl dem Empfinden
eines Erfinders angepaßt, wie die Götter, die Alles-
schaffenden, eigentlich doch auch nichts waren als in
der regen Fantasie der Anbeter geschaffene Gestalten.
Ich finde übrigens eine recht nahe Beziehung
zwischen dem Asmodi des Orients und dem Teufel,
der in unseren Hexenprozessen eine so starke Rolle
spielte. Es ist das ja freilich durchaus kein Wunder
denn, wie ich noch zeigen werde, kennt auch die Bibel
den Asmodi, und daß diese Erzählung von den
findigen Geistern, die in Hexenverfolgungen sich her-
vortaten, aufgegriffen und mit ganz besonderer Vor-
27
— 418 —
liebe verwendet wurde, das versteht sich eigentlich von
selbst. Der Asmodi des Orients, der eigentlich nur
der Eheteufel war, ist allerdings in unserem Hexen-
wahn zum Verrückten verzerrt worden; er mußte eben
für die deutschen Verhältnisse umgewandelt und den
Zwecken der Hexenverfolgung besser angepaßt werden.
Für die deutsche Ehe brauchte man den Störer nicht
aus dem Reiche der Dämonen herbeizuholen, denn da
gab es auch einst Störer in Fleisch und Blut genug,
die das Geschäft ohne Beihilfe eines Dämonen zuver-
lässig genug besorgten. Selbst die geistlichen Herren,
die sich in der Verfolgung der Hexen nicht genug
tun konnten, verstanden es recht gut, als Störenfriede
in der Ehe ihre „Schäflein" anzugreifen. Der Einfluß
des Beichtstuhles und des geistlichen Amtes an sich
war viel wertvoller, als es die Hilfe eines bösartigen
Dämons hätte sein können. Man durfte also nicht
gut dem lüsternen Asmodi bloß die frechen Ehebrüche,
die man ihm nachsagte, in die Schuhe schieben, sondern
mußte ihn auch einst die Hexen zu allerlei Scheußlich-
keiten und bösen Zauberkünsten verleiten lassen, sonst
hätten ja die Herren selbst zugeben müssen, daß sie
dem Teufel, den sie verfolgten, mehr dienten, als dem
Gott, dessen Diener sie sich nannten. Den Teufel, den
man als Buhle der Hexen in Deutschland betrachtete,
hielt man übrigens keineswegs für einen Dämon, der
sich um die Ehen irdischer Weiber kümmerte, sondern
man ließ ihn ebenso häufig mit ledigen Dirnen seine
sündigen Verhältnisse anknüpfen, denn es kam, wie
gesagt, nur auf den Teufelsbund als solchen an; das
Sexuelle war nur Beiwerk, das zu verkneifen, den
Herrn, die ja ohnehin an ihre Liebesabenteuer dachten,
— 419 —
jedenfalls unmöglich schien, und es mußte dazu dienen,
die Anbändeleien mit Frauen und Mädchen glaub-
würdig und wahrscheinlich zu machen.
Anders im Orient. Da spielte der Asmodi eine
gar gewaltige Rolle; er war der König unter den
Dämonen, wie ja das Liebesleben die Krone des Lebens
war, und zugleich rühmte man ihm nach, daß alles
Wissen, alle Wissenschaft von ihm ausgehe. Es ist
ja nun freilich schwer, zu sagen, wie man sich den
Einfluss dieses Teufels auf die Ehe dachte. In der
Regel stellte man sich Götter und Teufel durchaus
persönlich vor, sie erschienen in Menschengestalt und
handelten nach Menschenart. Auch als Ehestörer
stellte man sich den alten Asmodi durchaus menschlich
dar. Er erschien auch im wohlverwahrten Harem und
verstand es, die Frauen sich dienstbar zu machen.
Nicht selten wurde sein Erscheinen für den Ehemann
sehr verhängnisvoll, denn der Gatte hatte mit dem
dämonischen Ehebrecher richtige Kämpfe zu bestehen,
und da der Dämon doch immer mächtiger und ge-
waltiger sein muss als der sterbliche Mensch, war ein
solcher Kampf schon von vornherein zum Nachteil
des Gatten entschieden, der dabei das Leben einbüßen
und die Frau dem Teufel überlassen mußte.
Wie man darauf gekommen ist, diese Vorstellung
zu gewinnen, das ist schwer zu sagen; die Mythe
bildet sich eben mit der Zeit aus, nimmt immer festere
Gestalt an, und schließlich kann man die Gottheit im
Bilde bewundern, und alle Welt schwört darauf, so
und nicht anders sehe die Gottheit aus. Man weiß
das so genau, als begegne man der Gottheit tagtäglich
auf dem Spaziergange. Warum sollte man sich nicht
27*
— 420 —
ebenso gut den Dämon schaffen können. Daß in
Wirklichkeit Herr Asmodi niemals in das Schlafgemach
eines Ehepaares oder in die diskreten Räume eines
Harems eingedrungen ist, das ändert nichts an der
Tatsache daß dieses Eindringen als sein beliebtestes
Vergnügen dargestellt und behauptet ward, er drehe
den Gatten die Hälse um, damit sie ihn nicht in seinem
Dämonenlauf stören sollten. Vielleicht ist es ja auch
vorgekommen, daß Gatten im Gemach ihrer Frau den
Tod von Mörderhand fanden; vielleicht hat auch
wirklich ein Dämon das Eheglück eines Mannes ge-
stört und dem Ehemann das Lebenslicht ausgelöscht;
es ist dann freilich wohl nicht Asmodi selbst gewesen,
der so Schlimmes tat, sondern ein gewöhnlicher
Sterblicher, der wohl vom Geiste des Asmodi beseelt
sein mochte, aber nichts weniger als der König der
Dämonen selbst war. Das gerade das Altertum außer-
ordentlich viele solcher Gattenmorde erlebt hat, das ist
bekannt genug. Wo uns solche Fälle berichtet werden,
da nennt allerdings die Geschichte den Namen der
Ehebrecherin und ihres Mitschuldigen in der Regel
recht gerne, so daß dabei ein Verdacht gegen Asmodi
völlig ausgeschlossen bleiben mußte. Aber die Ge-
schichte erzählt uns doch nun die Gattenmorde von
Personen, die in der Geschichte| eine Rolle gespielt
haben; die übrigen verschweigt sie und muß sie auch
verschweigen, weil eben die Weltgeschichte keine
Kriminalgeschichte ist.
Freilich bedurfte es keineswegs immer so drastischer
Mittel, um den Frieden und den Bestand einer Ehe zu
stören und zu lösen. War der Mann geneigt, die
Ehe zu lösen, so bot das durchaus keine Schwierig-
— 421 —
keit. Er gab, wie bei den Israeliten, den Scheidebrief
und die Sache war sang- und klanglos erledigt. In
anderen orientalischen Ländern hatte der Mann eine
solche Formalität nicht einmal notwendig; er konnte
die Frau, die er los sein wollte, einfach ins Meer
stürzen lassen, und war er sie dann für alle Zeiten los.
Daß die Frau mit Leib und Leben dem Manne gehört,
daß dieser auch das Recht und die Macht hat sie zu
töten, ohne daß er dazu eines besonderen Grundes
bedurft hätte, ist bekannt, und war im Altertum allge-
mein und gebräuchlich, selbst in unserem Lande be-
stand dieses uneingeschränkte Recht des Mannes.
Selbst nach dem römischen Rechte bestand, als die
Gewalt des Mannes erheblich herabgemildert worden
war, noch absolute Scheidungsfreiheit. Jeder Gatte
konnte einseitig den Ehevertrag lösen und bedurfte
dazu nicht einmal einer behördlichen Zustimmung.
Sobald beiderseitige Uebereinstimmung herrschte, daß
die Gatten ihre Ehe lösen wollten, war sie eben schon
durch diesen Wunsch gelöst. Ich möchte nicht be-
haupten, daß durch eine erhebliche Erschwerung der
Scheidung der Moral ein Dienst erwiesen werden
könnte, sondern nehme im Gegenteil an, daß die Moral
durch nichts so schwer geschädigt werden kann, als
durch das zwangsweise Bestehenlassen einer in sich
schon gestörten Ehe. Es wird da der häßlichsten
Leidenschaft, dem Haß, dem Ehebruch etc. geradezu
geflissentlich Vorschub geleistet. Es ist damit natürlich
nicht gesagt, daß die leichtfertige Scheidungslust so
protegiert zu werden braucht, wie sie das römische
Recht begünstigte.
Bei der untergeordneten Stellung, die der Frau
— 422 —
im Orient zugewiesen war, konnte es natürlich nur
dem Manne leicht sein, die Fesseln einer Ehe, sobald
sie ihm lästig wurden, zu sprengen. Die Frau mußte
das Joch geduldig weitertragen, wenn es ihr auch
noch so lästig und unerträglich erschien. So finden
wir denn auch meist die Frau als Gattenmörderin, und
auch sie raffte sich zu einem solchen Schritte wohl
nur äußerst selten aus eigener Initiative auf, sondern
war in der Regel nur die Mitschuldige eines Mörders,
um die sich zwischen ihr und diesem die Bande der
Liebe geknüpft hatten. Es lohnt nicht, die historischen
Beispiele, die ja alle mehr oder weniger bekannt sind,
anzuführen, immer kommt es uns nur darauf an, das
nachzuweisen, was bei der Verschiedenheit der
Stellungen von Mann und Frau sich sachgemäß er-
geben muß; daß nämlich die Möglichkeit, eine lästige
Ehe aufzulösen, nur dem Manne zustand, daß die
Frau bei der trägen Gleichgültigkeit, die ihr anerzogen
war, sich höchstens zu einem lebhaften Wunsch, ihre
Lage zu ändern, erst aufraffen konnte, wenn ihre
Leidenschaft sich regte, wenn sie eben einen anderen
Mann gesehen hatte, zu dem sie ernstlich in leiden-
schaftlicher Liebe entbrannte. Dann freilich konnte
auch die Orientalin Taten begehen, die für alle Zeiten
dem Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt wurden,
wie die grausige Tat der Judith, zu der diese sich von
ihrer Leidenschaft hinreißen ließ.
Ich möchte nun noch auf die Asmodifabel zurück-
kommen. Selbst die Bibel erzählt, allerdings im Buche
Tobias, das zu den Apokryphen gehört, allen Ernstes
die siebenfache Mordtat des Eheteufels Asmodi. Bei
der Wichtigkeit dieses Belegstückes lasse ich die Stelle
— 423 —
wörtlich folgen: „Und es begab sich desselbigen
Tages, daß Sara, die Tochter Raguels, in der Meder
Stadt Ekbatana auch übel geschmähet und gescholten
ward von einer Magd ihres Vaters. Man hatte ihr
nämlich sieben Männer nach einander gegeben, und
ein böser Geist, Asmodi genannt, hatte sie alle getötet,
alsbald wenn sie sich zu ihr tun sollten. Da nun
Sarah die Magd wegen eines Verschuldens schalt,
antwortete diese und sprach: Gott gebe, daß wir
nimmer einen Sohn oder Tochter von dir sehen auf
Erden, du Männermörderin! Willst du mich auch
töten, wie du die sieben Männer getötet hast? Auf
solche Worte ging sie in eine Kammer oben im Haus,
und aß noch trank nicht drei Tage und drei Nächte,
und hielt an mit Beten und Weinen, und bat Gott,
daß er sie von der Schmach erlösen wollte". Weiter
interessiert eine Stelle aus der Bibel: „Du weißt, Herr,
daß ich keines Mannes begehrt habe, und meine Seele
rein behalten von aller böser Lust. Und habe auch
nie zu unzüchtiger und leichtfertiger Gesellschaft ge-
halten. Einen Mann aber zu nehmen, habe ich ge-
willigt in deine Furcht und nicht aus Vorwitz; und
entweder bin ich ihrer, oder sie sind meiner nicht wert
gewesen, und du hast mich vielleicht einem anderen
Manne behalten".
Daß diese Stelle den siebenfachen Mord des
Asmodi als eine Tatsache erzählt und nicht etwa bloß
als ein Geschwätz der scheltenden Magd, daß im
Gegenteil die Magd nicht glaubt, der böse Geist Asmodi
sei bei der Mordsache beteiligt, sondern vielmehr der
näherliegende Verdacht liegt, Sarah habe die sieben
Männer gemordet, weil sie ihr nicht genehm waren,
— 424 —
und es für sie keine andere Möglichkeit gab, sich dieser
unwillkommenen Freier zu entledigen, das ist besonders
beachtenswert. Natürlich ist es wieder die ominöse
Zahl sieben, die zunächst schon das Altertum heraus-
findet, und die ganze Geschichte als eine symbolische
Erzählung erscheinen läßt. Da aber die Asmodi-
Erzählung sich auch in die Bibel verirrt und dadurch
erst gewonnen hat, das ist doch wohl der beste
Beweis dafür, wie felsenfest das Altertum an den Geist
Asmodi glaubte. Wäre da Asmodi von einem Schreiber
erwähnt worden, der ihn. für eine Märchensage ge-
halten hätte, so würde zweifellos die Erwähnung ent-
weder ganz fortgeblieben sein, oder sie wäre viel
heller ausgeführt worden, denn nur Dinge, die man
trotz ihrer objektiven Unglaublichkeit doch für durch-
aus glaubhaft und selbstverständlich hält, tut man
nicht in einigen Worten ab. Auffallend ist übrigens,
daß in dem recht ausführlich wiedergegebenen Gebet
der Sarah mit keiner Silbe gesagt ist, ob sie den
Mord ihrer sieben Männer zugibt, oder ob sie dem
Asmodi ebenfalls die Schuld beimessen will. Letzteres
ist doch kaum anzunehmen, denn sonst würde sie
wohl nicht um den rechten Mann gebeten haben, sie
würde auch wohl kaum so kühl und gleichgiltig ge-
sagt haben: „Entweder bin ich ihrer, oder sie sind
meiner nicht wert gewesen". So spricht doch kaum
eine Frau, der nacheinander sieben Männer gerade
jedesmal in der Brautnacht hingemordet worden sind,
wenn sie die Tat so ganz frei gestanden hätte. Oder
war das vielleicht gerade die Fügung des Schicksals,
die den gewaltigen Geist Asmodi zum Mörder gewählt
hatte? Die Sache mag sein, wie sie will. Daß die
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Bibel allen Ernstes den Asmodi anführt, das ist eine
der interessantesten Feststellungen, die überhaupt ge-
troffen werden kann. Ich erwähnte, daß die Erfindung
des Ehedämons Asmodi jedenfalls jüdischen Ursprungs
ist, daß die alten Israeliten zwar an Dämonen aber
niemals an Asmodi geglaubt, so daß das Buch Tobias
unbedingt erst viel später entstanden sein muß als
die Geschichts- und Lehrbücher des Alten Testaments.
Daß man nun aber gerade diese Stelle für so wichtig
gehalten hat, um sie der Bibel einzuverleiben, das ist
eine recht sonderbare Erscheinung. Genug — der
Asmodi steht als männermordender Eheteufel auch in
der Bibel; es fehlt nur, daß er die orientalische
Wollust nicht gekannt hat, so daß man eigentlich nicht
recht klug daraus wird, wann er die sieben Männer
der Sarah in der Brautnacht gemordet haben soll.
Da, wo Asmodi die Männermorde begangen haben
sollte, sagte man ihm im Orient nach, daß er dies tue,
weil er den Männern die Frauen nicht gönne; er
gönne sie aber bloß deshalb ihren Männern nicht,
weil er sie für sich selbst haben wolle. Das ist eines
rechten Teufels durchaus würdig, und es ist zugleich
eine Darstellung, die der orientalischen Frau keine be-
sondere Ehre macht, weil sie eigentlich den logischen
Schluß enthält, daß es der Frau im Grunde genommen
gleich sei, ob ihr Mann oder der leibhaftige Teufel
sich ihr zuwende. In vielen Fällen würde das wohl
auch nicht allzuweit von der Wahrheit abgewichen
sein. Die Frau, die nicht den mindesten Einfluß auf
die Wahl ihres Gatten hatte, war ja ohnehin daraufhin
erzogen, daß sie jedem beliebigen Manne, den man
für gut befand ihr zu geben, angehören mußte. Sie
— 426 —
hätte ja auch den Dämon Asmodi, wenn man ihn eben
bestimmt hätte, ohne Widerrede für sich annehmen
müssen. So nahm sie ihn eben etwas später, wenigstens
nach der Meinung derer, die an den Dämon der Wol-
lust glaubten. Daß man übrigens den Dämon der
Wollust in der Fantasie schuf, war sicher viel zu-
treffender und richtiger, als wenn man einen Gott der
Wollust sich dachte.
Schlussbetrachtung.
Wer mir auf dem weiten Wege durch die zum
Teil noch unerforschten Gebiete des Orients gefolgt
ist, und die Sitten und Gebräuche des Altertums und
der neueren Zeit betrachtet hat, der wird es wohl
gerechtfertigt finden, daß ich den Orient ein Wunder-
land genannt habe. Wunder über Wunder treten uns
in den Ländern entgegen, in denen die Wiege des
Menschengeschlechts gestanden haben soll, und in dem
sicherlich die älteste Kultur uns entgegentritt und selbst
da noch ihre gewaltigen Spuren offenbart, wo seit
mehr als tausend Jahren, ja wohl seit zwei Jahr-
tausenden die ehemalige Pracht in Staub und Trümmer
gesunken ist. Wir finden, daß schon in jener nebel-
grauen Vorzeit die Kultur geherrscht hat, die in vielen
Gegenden heute noch nicht wieder erreicht worden
ist, eine Kultur, die aber doch unserem Empfinden und
Verstehen ferner liegt, als man glauben sollte. Wir
sehen das besonders aus den Erscheinungen des Liebes-
lebens, das eine Brutalität, eine rohe Sinnlichkeit und
eine Barbarei erkennen läßt, die unser Gefühl verletzen,
wenn wir auch überall Uebereinstimmungen mit dem
finden, was sich auf unseren Schollen abgespielt hat.
Im Osten, wo die Sonne in morgendlicher Pracht am
- 428 —
Himmelsgewölbe aufsteigt, ist auch die Sonne der
Kultur aufgegangen. Wie aber hat sich das geändert.
Freilich die Sonne geht noch immer im Osten auf,
weil die Natur ihre Bahn läuft, unbeeinflußt von der
Menschen Treiben. Aber der Osten erschließt uns
keine neuen Kulturen mehr. Hierin ist da Wandel ge-
schaffen, denn jetzt geht für den Orient die Sonne der
Kultur und der Menschlichkeit im Abendlande auf.
Unendlich viel hat sich im Morgenlande geändert,
seitdem der Einfluß europäischer Wissenschaft, euro-
päischer Anschauungen und europäischer Kultur sich
im Orient geltend macht. Wohl hat selbst das Land,
das berufen erscheint, an der Spitze der gelben Rasse
zu marschieren, dem man nicht mit Unrecht zutraut,
daß es ein neues Weltreich begründen könne, eine
wilde Grausamkeit in den Strafen, ein entsetzliches
Blutvergießen und so viele andere Dinge, die ein Volk
als Halbwilde erscheinen lassen, noch nicht überwunden;
aber welcher staunenswerte Fortschritt tritt uns doch
überall vor Augen. Nicht zum wenigsten im japanischen
Liebesleben und in der Stellung der Frau. Selbst das
himmlische Reich der Mitte, das sich noch bis vor
kurzer Zeit hermetisch abschloß vom Weltverkehr, und
das deshalb einen tausendjährigen Dornröschenschlaf
gehalten hat, erwacht langsam, und es wird kein
Menschenalter dauern, dann hat China den Segen einer
humaneren Kultur erhalten. Auch dort beginnt die
Frau sich aus den niedrigsten Fesseln zu befreien. Es
sind zuweilen kleine Dinge, um die gekämpft wird. Man
hat bei der widernatürlichen Schuhtracht der chinesischen
Frauen angefangen, und man wird bei der Gleich-
stellung aufhören. In Kreta, wo die Mädchen noch
— 429 —
vor nicht langer Zeit ein Los zogen, das dem der
orientalischen Form im Altertum nicht unähnlich war,
hat sich ein Wandel vollzogen, der Staunen erregt,
und selbst die Türkei hat das Frauenleben schon etwas
reformiert und wird es unter der Herrschaft der Jung-
türken noch mehr reformieren.
So wird dem Morgenlande jetzt das Abendland
zum Ende des Sonnenaufganges, und wo erst einmal
der ganze Tag zu erhellen beginnt, da wird es schnell
hell und heller. Man soll nur keine Wunder erwarten
und denken, daß der Orientale mit einem einzigen
Sprunge von den Jahrtausende alten Vorurteilen sich
frei machen, daß er seine Natur plötzlich ablegen kann,
wie man sein Kleid auszieht. Wir werden aus dem
Orient noch lange Dinge erfahren, die uns erschauern
lassen. Aber deshalb vollzieht sich doch langsam und
sicher der Wandel.
Bibliographie
interessanter kultur- und sittengeschicht-
licher Werke
Das Liebesleben aller Zeiten u. Völker
Bisher erschienen:
I. Quanter, R., Das Liebesleben im alten Deutschland.
Preis M. 10.—, geb. M. 12.-.
II. v. Schlichtegroll, C. F., Das Liebesleben im klassi-
schen Altertum. Preis M. 10.-, geb. M. 12.-.
III. Areco, V„ Das Liebesleben der Zigeuner.
Preis M. 8.-, geb. M. 10.-.
IV. Quanter, R., Das Liebesleben im Orient.
Preis M. 10.-, geb. M. 12.-.
In Vorbereitung befinden sich
V. Das Liebesleben der Mongolen
und weitere Werke.
Das Sexualleben der Naturvölker
I. Schidlof , Dr. P., Das Sexualleben der Australier
und Ozeanier. Preis M. 8.-, geb. M. 10.-.
II. Freimark, Das Sexualleben der afrikanischen Natur-
volker. Preis M. 10.-, geb. M. 12.-.
Weitere Bände sind in Vorbereitung.
HQ Quanter, Rudolf
13 Liebesleben im Orient
Q35
PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY